Für immer und ewig

Rilla sollte Recht behalten. Ihre Frisur – oder besser: der Mangel daran – war tatsächlich ein handfester Skandal und so ziemlich das Gesprächsthema auf der Hochzeitsfeier. Aber merkwürdigerweise war ihr das vollkommen gleichgültig.

Was interessierte es sie, wenn diese ganzen versnobten Personen, die ihr zudem noch völlig unbekannt waren, etwas an ihrem Erscheinungsbild auszusetzen hatten? Rein gar nichts.

Und die Menschen, deren Urteile ihr wichtig waren, fanden das ganze eher lustig, als sonst irgendetwas.

Natürlich hatten Jem und Shirley sich übertrieben viel sagend angesehen, hatte Carl einen flapsigen Kommentar gemacht, hatte Nan ausgerufen, was denn mit der schönen Frisur passiert wäre und hatte Una mehr oder weniger geschockt ausgesehen, aber das war dann auch alles, was man irgendwie als negativ hätte auffassen können.

Faith zum Beispiel hatte, als Rilla durch den Mittelgang hatte schreiten sehen, nur leise gelacht und ihr, während sie sie passierte, grinsend zugezwinkert, womit sie mehr als klar gemacht hatte, dass sie verstand.

Ken selbst hatte ebenfalls amüsiert gelächelt und seiner Braut, direkt nachdem er ihr den alles besiegelnden Kuss gegeben hatte, eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen, womit er direkt den zweiten Skandal auslöste.

Als für am allernettesten hatte Rilla aber die Reaktion ihrer neuen Schwiegermutter befunden, denn Leslie hatte sie irgendwann, während die Gäste feierten, tanzten und aßen, zur Seite genommen, um mit ihr darüber zu reden.

Anstatt eines Tadel hatte Rilla jedoch ein Lob empfangen, für ihren Mut auf der einen Seite und dafür, dass sie sich nicht hatte klein kriegen lassen, dass sie sich nicht verbiegen ließ, wie man es von ihr erwartete.

Dann hatte Leslie mit einem leicht melancholischen Lächeln von ihrer eigenen Hochzeit erzählt, die, von den stupiden Gästen über den schillernden Pomp, bis hin zu der nur teilweise glücklichen Braut, ziemlich gleich abgelaufen war.

Und auch Leslie hatte damals das Protokoll gebrochen und sich gewagt, ein blutrotes Tuch um ihre Hüften zu binden.

Und Rilla, wie so oft in der letzten Zeit, fühlte sich gleich noch ein bisschen besser, nachdem sie mit ihrer Schwiegermutter geredet hatte. Was schlicht daran lag, dass Leslie verstand.

Sie verstand wie es war, aus dem geregelten Leben in einem beschaulichen Ort auf der Insel herausgerissen und dann in das große, turbulente Toronto gebracht zu werden, wo einen Menschen erwarteten, mit denen man nicht klarkam, Regeln und Etikette, die man nicht kannte und eine Hochzeit, die man sich so ganz sicher nicht gewünscht hatte.

Und das alles nur, um den Mann zu heiraten, der hingegangen war und einem auf listigste Art und Weise das Herz gestohlen hatte. Und das, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen!

„Aber", so hatte Leslie lächelnd geendet, „die Ford-Männer haben anscheinend schon immer eine Schwäche für Mädchen von der Insel gehabt. Erst Owens Mutter Alice, dann ich, jetzt du. Ich bin wirklich gespannt, wen deine Söhne sich später mal aussuchen."

Rilla hatte gelacht und dabei so schön ausgesehen, dass die Gäste in der Nähe bei sich dachten, dass man Kenneth Ford ja viel vorwerfen konnte, aber dass schlechter Geschmack sicherlich nicht dabei war.

Die Hochzeitsgeschenke, die nur kurz nach Leslies und Rillas Gespräch überreicht wurden, fielen ähnlich üppig aus wie die Hochzeit selbst. Das großzügigste Geschenk aber kam von den Eltern des Bräutigams: das alte Traumhaus.

„Ich muss gestehen, dass es mir nicht leicht fällt, mich von diesem Häuschen zu trennen, in dem ich einige der schönsten Tage meines Lebens verlebt habe", hatte Leslie etwas wehmütig zugegeben.

„Aber ich weiß noch genau, wie wichtig es damals für mich war, weiterhin ein Heim auf der Insel zu haben, in das zurückkehren kann, wann immer ich will, und ich kann mir vorstellen, dass es dir ähnlich geht, Rilla, also habe ich Owen überzeugt, euch das Traumhaus als euer ganz eigenes Insel-Ferienhaus zu schenken – vorausgesetzt allerdings, wir sind dort weiterhin willkommen."

Und natürlich waren sie es, wie das Brautpaar zwischen gerührten Dankesworten versicherte.


Viel später am Abend, als das Fest sich aufgelöst hatte und Kenneth seine Braut in dem neuen Auto, das seine Onkels und Tanten ihnen zur Hochzeit spendiert hatten, nach Windgates fuhr, fragte er sie, wie ihr die Hochzeit gefallen hatte.

„Es war schön", erwiderte sie nachdenklich, „ich muss sagen, dass ich mich selten so amüsiert habe. Und wahrscheinlich träumt jede Frau davon, einmal eine Märchenprinzessin zu sein.

Eine Märchenprinzessin, die ihren Prinzen auf dem weißen Pferd, ein eigenes Schloss und dazu alle Schätze dieser Welt bekommt. Für heute durfte ich genau das sein und natürlich habe ich es genossen – aber für den Rest meines Lebens bin ich lieber weiterhin Rilla Blythe."

„Ford", verbesserte Ken und warf ihr einen schelmischen Blick zu, „Rilla Ford." Dann, bevor sie reagieren konnte, beugte er sich herüber und küsste sie blitzschnell auf die Lippen.

„Sieh gefälligst auf die Straße!", schalt Rilla ihn, schaffte es aber nicht, dass Lachen aus ihrer Stimme zu verbannen, umso weniger, als Ken grinsend, aber wie beiläufig, bemerkte:

„Deine Frisur hat mir heute übrigens besonders gut gefallen."


Am nächsten Mittag traten Mr. und Mrs. Kenneth Ford ihre Hochzeitsreise an, die Rilla bereits im Voraus, nämlich als sie Ken beim Frühstück nach Dauer und Ziel gefragt hatte, dazu brachte, sich vor Überraschung an ihrem Orangensaft zu verschlucken.

Denn seine ausgesprochen lässige Antwort hatte gelautet: „Wir machen eine 10-wöchige Rundreise durch Europa. Es wird dir gefallen, glaub mir."

Womit er, wie Rilla ihm versicherte, nachdem sie sich von ihrem Schock erholt hatte, bestimmt Recht haben würde. Und tatsächlich hatte er das auch. Rilla war begeistert von Europa und kam aus dem Stauen gar nicht mehr raus.

Ken, der bereits vor dem Krieg oft dort gewesen war und die ‚alte Welt' schon kannte, begnügte sich damit, seiner Frau eben diese zu zeigen und sich über die beinahe kindlich Begeisterung zu freuen, die sie allem neuen entgegenbrachte.

Auch das Eheleben erlebten beide als rundherum erfreulich, befanden sie sich doch noch in dieser glückseligen Phase, die sich bei allen Frischvermählten einzustellen pflegt.

Aber auch die schönsten Flitterwochen gehen irgendwann zu Ende und viel zu schnell, wie Rilla fand, war es Zeit, zurück nach Kanada zu fahren. Dort wartete allerdings etwas, was ihr die Rückkehr ein bisschen leichter machte: der kleine James Gerald Blythe, der am 21. März das Licht der Welt erblickt hatte.

Er war auch der Hauptgrund, warum Ken Rilla, bevor er selbst zurück nach Toronto fuhr, für einige Tage in Glen absetzte, damit sie ihren bereits 5 Wochen alten Neffen kennen lernen konnte.

Anstatt alleine im Traumhaus, wohnte sie allerdings in ihrem alten Zimmer in Ingleside und verbrachte ohnehin ihre meiste Zeit in Fairview bei Faith, Jem und ‚Jamie', wie der kleine Junge von allen genannt wurde.

Und falls Rilla anfangs etwas über den Namen gestutzt hatte, verstand sie Faith' Entscheidung vollkommen, nachdem sie Jamie zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte Augen, Nase und Ohren seines Vaters, glich aber aufgrund von Stirn- und Mundpartien und nicht zuletzt wegen seines rabenschwarzen Wuschelkopfes ebenso sehr seinem Onkel.

„Eigentlich hatte ich ja vor, ihn nach Dad zu nennen", erzählte Faith, als sie und Rilla eines Nachmittags auf der Veranda von Fairview saßen und Tee tranken, „aber als ich ihn das erste Mal in den Armen gehalten habe, wusste ich, dass daraus nichts wird.

Es gibt schlicht keinen besser passenden Namen für ihn, als den, den er jetzt hat. Er sieht nun mal sowohl Jem als auch Jerry erschreckend ähnlich. Und auch wenn alle Leute glauben, Jerry wäre das genaue Ebenbild von Dad, genauso wie Una von unserer Mum, dann haben sie nur teilweise Recht.

Weil, auch wenn sonst alles stimmt, die Haare tun es nicht. Una hat Dads Haare, die viel feiner und dünner sind, als die von Jerry und Mum – und eben Jamie. Ehrlich gesagt ist das eine der lebendigsten Erinnerungen, die ich an Mum habe: ihre wundervollen Haare.

Jeden Abend hat sie sie geöffnet und Una und mich gerufen hat und wir durften ihre Haare dann kämen und flechten und frisieren. Das war immer so, jeden Abend – bis zu letzt."

„Aber", fuhr Faith dann betont fröhlich fort, wie, um das Thema abzuschließen, „ich habe Dad versprochen, dass ich meinen nächsten Sohn auf jeden Fall nach ihm benenne – und wehe dem, der mir zuvorkommt!"

Rilla lachte, wurde dann aber schnell wieder ernst. „Das… das ist genau das, was ich…", sie brach ab.

„Ich weiß", Faith nickte verständnisvoll, „ich würde lügen, wenn ich sage, ich hätte nicht darüber nachgedacht, Jamie hier nach Walter zu benennen – vor der Geburt, meine ich –, aber dann ist mir klar geworden, dass dieses Recht dir zusteht, dir allein."

„Danke", Rilla lächelte etwas, schien aber weiterhin tief in Gedanken versunken zu sein.

„Wir waren in Courcelette, weißt du. An seinem Grab", bemerkte sie nach einigen Sekunden der Stille, „Ken und ich, kurz bevor wir nach Paris weitergefahren sind.

Und… es war schön und schrecklich zugleich. Irgendwie hat es… das Grab zu sehen hat seinen Tod zu etwas so schrecklich realem gemacht. Als ob er dadurch erst wirklich tot ist, unabänderlich, unwiederbringlich, endgültig tot."

Rillas Blick verlor sich wieder, bevor sie sich erneut sammelte und sich der Hauch eines Lächelns auf ihr Gesicht legte.

„Der Tag an dem wir in Courcelette waren… das war auch der Tag, an dem mir klar geworden ist, dass ich… ein Kind erwarte."

Jetzt lächelte sie richtig und auch Faith war sichtlich erfreut. „Und, wie fühlst du dich?", fragte sie neugierig.

„Ich bin beinahe lächerlich glücklich", gab Rilla zu, „und Ken geht es genauso. Auch wenn er dazu neigt, mich in Watte zu packen. Als ob ich zerbrechlich wäre oder so."

„Oh, das ist normal" winkte Faith ab, „hat Jem auch gemacht. Damit wirst du leben müssen. Aber was anderes: wann ist es soweit?"

„Mitte Dezember hat der Arzt in Paris gesagt", antwortete Rilla und lächelte schon wieder, „verrückter Gedanke: ich und Mutter sein. Aber irgendwie auch schön und… und es hat vieles leichter gemacht. Walters Tod und das Grab, meine ich.

Als ob Gott uns dieses Kind geschenkt hat, um uns zu helfen, um uns zu zeigen, dass es immer weitergeht, egal was kommt."