Unbeschriebene Seiten

Wie in den vorangegangenen Jahren auch, traf man sich während der Sommermonate wieder in Glen. Una begann, sich im Dorf und besonders in der Kirchengemeinde zu engagieren und half außerdem ihrer Schwester, indem sie Rillas Unterricht von früher fortsetze und oft auf ihren kleinen Neffen aufpasste.

Jerry und Nan dagegen, die in einem knappen Jahr heiraten würden, verbrachte die meiste Zeit damit „herumzuturteln", wie Carl es ausdrückte, und sich ihre Zukunft in solch schillernden Farben auszumalen, dass selbst Nans scheinbar grenzenlose Fantasie irgendwann ausgeschöpft war.

Faith und Jem lebten immer noch glücklich in ihrem Häuschen, auch wenn Jems Arbeit merklich mehr wurde und Faith die Abende immer öfter alleine vor dem kleinen Kamin verbrachte und auf ihren Gatten wartete, der selten vor Mitternacht heimkehrte.

Rilla und Ken standen dagegen irgendwo zwischen purer Glückseligkeit und Freude auf das Kind und Sturmgewittern, begleitet von teilweise heftigen Auseinandersetzungen, woran Rillas Stimmungsschwankungen nicht ganz unschuldig waren.

Shirley und Persis, deren Freundschaft seit Rillas Geburtstag zwei Jahre zuvor immer tiefer und vertrauter geworden war, wurde immer wieder eine Beziehung angedichtet und so manche alte Klatschbase in Glen hörte schon seit langem Hochzeitsglocken läuten.

Aber sobald man Persis damit konfrontierte, lachte sie nur und verwies auf verschiedene Verehrer in Toronto, von denen sie manchen gegenüber nicht abgeneigt war. Shirley selbst stand meistens nur dabei und wie immer konnte in seinem Gesicht niemand auch nur das geringste lesen.

Die einzigen, die sich also nicht mit Liebesdingen herumschlagen mussten, waren Di, die weiterhin von ihrer Lehrerinnentätigkeit völlig ausgefüllt und zufrieden schien und sich heimlich über die Probleme ihrer Geschwister amüsierte, und Carl.

Zumindest war es das, was man in Glen dachte. Denn als Carl Anfang August als Letzter heimkehrte, brachte er eine Überraschung mit, die sie alle bessern belehren sollte.


Er hatte seine Ankunft nicht angekündigt, sondern stand plötzlich im Wohnzimmer des Pfarrhauses, grinste wie das viel zitierte Honigkuchenpferd und verkündete: „Vater, Mutter Rosemary, ich möchte euch jemanden vorstellen."

Er wies auf eine junge Frau, die mit ihm hereingekommen war. Sie hatte feuerrotes Haar, das nur schwer gebändigt unter einem Hut steckte, und die durchdringendsten, blausten Augen, die man sich vorstellen konnte.

Etwas unsicher stand sie ihm Türrahmen, immer noch in einen dunklen, etwas abgetragenen Mantel gekleidet, und klammerte sie an einen arg ramponierten Lederkoffer. Ein schüchternes Lächeln lag auf ihren Lippen, aber ihre Augen sprangen nervös im Raum herum.

John und Rosemary wechselten einen Blick. Wer war dieses Mädchen? Und warum hatte Carl sie mitgebracht? Der Blonde grinste nur noch breiter, machte eine Kunstpause, bevor er des Rätsels Lösung lieferte: „Jane Meredith – meine Frau."

Darauf folgte erstmal ungläubiges Schweigen. Sie hatten mit allem gerechnet, aber nicht damit.

Sicher, von Carl waren sie einiges gewohnt, von Insekten und Reptilien, über durchaus unverschämte Kommentare, bis hin zu Cracker, seiner zahmen Schützengrabenratte, die er mit nach Kanada geschmuggelt hatte und die jetzt bei ihm lebte, aber dass er plötzlich eine Ehefrau aus dem Hut zauberte, dass schockte seine Eltern dann doch.

Bevor sie sich soweit gefasste hatten, dass sie etwas sagen konnten, kam Una aus der Küche.

„Carl", rief sie freudig aus und umarmte ihren Bruder, „wie schön, das du wieder zurück bist." Erst dann fiel ihr die Stille im Zimmer und schließlich auch die unbekannte Frau auf.

„Ist irgendetwas passiert?", fragte sie und sah alarmiert von einem zum anderen. Keiner antwortete.

„Carl hat geheiratet", kam es plötzlich aus einer Ecke, in der Bruce, bisher unbemerkt, gesessen und alles beobachtete hatte.

„Geheiratet?", langsam drehte Una sich zu ihrem jüngeren Bruder an, der sie immer noch angrinste.

„Wer hat denn jetzt schon wieder geheiratet?", wollte in dem Moment Jerry wissen, der soeben von einem Spaziergang mit Nan zurückgekehrt war, „oh, hallo Carl. Guten Abend Miss…"

Hilfe suchend sah er seinen Bruder an.

„Mrs.", verbesserte der wie beiläufig, „Meredith."

„Guten Abend, Mrs. Mere…", Jerry brach ab und fuhr herum, „Meredith? MRS. Meredith? Möchtest du mir etwas sagen, Carl?"

„Dir etwas sagen?", Carl tat, als würde er nachdenken und nickte dann, „doch ja. Ich möchte die meine Frau vorstellen. Jane, Jerry. Jerry, Jane."

„Hallo", grüßte Jane schüchtern. Jerry starrte sie nur an. Ihm hatte es anscheinend die Sprache verschlagen.

Stattdessen ergriff Rosemary das Wort: „Nun, dann willkommen in der Familie, Jane. Ich darf dich doch Jane nennen?"

„Natürlich", Jane nickte und lächelte, dankbar, dass jemand sie zur Kenntnis nahm und dabei auch noch so freundlich war.

„Ich bin Rosemary, Carls Stiefmutter", fuhr Rosemary jetzt fort, „das hier ist John, sein Vater und die beiden sind Una und Jerry, seine Geschwister. Und das dort drüben ist Bruce, mein Sohn. Faith, Carls andere Schwester…"

„…lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn nicht weit von hier", vervollständigte Jane, „ich weiß. Carl hat mir alles erzählt."

„Wann habt ihr beide denn geheiratet? Und wie kommt es, dass wir erst jetzt davon erfahren?", wollte jetzt John von seinem Sohn wissen.

„Im Mai", erwiderte der betont lässig, „am 3., um genau zu sein. Es war eine sehr spontane Entscheidung. Nur der Pfarrer, Jane und ich."

„Und deine Familie war auch nicht anwesend?", fragte Rosemary und bot ihrer neuen Schwiegertochter einen Platz an. Carl brachte derweil mit Jerrys und Bruces Hilfe die Mäntel und Koffer nach draußen.

„Ich… ich habe keine Familie mehr", antwortete Jane leise, „meine Eltern und mein Bruder sind vor beinahe neun Jahren bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Ich war damals gerade elf."

„Das tut mir Leid", mitfühlend sah Rosemary die junge Frau an. Una kam ebenfalls näher und drückte Janes Hand. Sehr kurz nur, aber trotz allem gelang es ihr, mit dieser Geste das größtmögliche Mitgefühl auszudrücken.

„Es geht schon", Jane rang um ein Lächeln.

„Und wie hast du meinen Sohn kennen gelernt?", erkundigte sich jetzt John, halb weil er es wissen wollte, halb um das Thema zu wechseln.

„Ich arbeite in einem Café und irgendwann Anfang Januar hat Carl bei uns einen Kaffee getrunken und weil es ansonsten leer war, sind wir ins Gespräch gekommen", gab Jane Auskunft, „wir haben uns gut verstanden und uns öfter getroffen und… na ja, im Mai kam Carl dann auf die Idee, zu heiraten und… hier sind wir."

Etwas hilflos zuckte sie mit den Achseln und grinste schief.

„Nun, dann kann ich nur die Worte meiner Frau wiederholen", bemerkte John freundlich, „‚willkommen in der Familie, Jane.'" Jane lächelte, offenbar mehr als erleichtert, dass alles so glimpflich abgelaufen und ihre neue Familie so nett war.

Auch von allen anderen wurde die neue Mrs. Meredith mit offenen Armen empfangen und mit ihrem freundlichen, zurückhaltenden Wesen – und nicht zuletzt wegen ihrer roten Haaren – passte sie sich sehr gut an und verstand sich prompt mit allen bestens.

Mit der Zeit taute sie auch mehr und mehr auf und wurde immer fröhlicher. Carl platzte beinahe vor Stolz und Glück, hörte aber trotzdem sehr genau zu, als Ken und Jem ihm nur halb im Spaß ‚Tipps für eine glückliche Ehe' gaben.

Als Jem bei „deine Frau ist wichtiger als alles sonst, selbst als dein Job" angekommen war, brach Faith in schallendes Gelächter aus und selbst Jem wurde klar, wie dumm er sich anhören musste, also vermied er dieses Thema tunlichst für den Rest des Sommers.

Der neigte sich mal wieder viel, viel zu schnell seinem Ende zu, wie eigentlich jeder fand, und mit der Geburt des kleinen Thomas Douglas, Marys und Millers zweitem Sohn, am 9. September, knapp ein Jahr nach der Geburt seines älteren Bruders Alec, einen glücklichen Abschluss fand.


Doch trotz der Schnelligkeit, mit der der Sommer vorübergegangen war, zauberte die Erinnerung Rilla, als sie Monate später im Wohnzimmer des Traumhauses am Kamin saß und den leichten Regen draußen vor dem Fenster beobachtete, ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Langsam jedoch verschwand es, als ihr etwas gänzlich anderes einfiel. Den Blick immer noch auf den Regennassen Garten gerichtete, wandten sich Rillas Gedanken einem anderen Thema zu: dem Krieg.

Denn übermorgen, am 11.11, vor genau drei Jahren hatte er geendet, der große Krieg. Der Krieg, der neben Walter so viele andere Männer in den Tod gerissen hatte. Für eine, vielleicht auch zwei oder drei, Minuten blieb Rilla still sitzen, dann seufzte sie leise und drehte den Blick.

In einer Vase auf dem Tisch befand sich bereits roter Mohn, ganz so, wie er auf den Felder in Flandern blühte. Langsam, beinahe zögerlich streckte Rilla die Hand aus und wollte eine der Blüten berühren, zuckte dann jedoch zurück.

Ein wenig genervt runzelte sie die Stirn. In der letzten Zeit waren die Wehen immer häufiger geworden, aber es hatte sich doch jedes Mal nur um Vorwehen gehandelt, die zwar anzeigten, dass die Geburt bevorstand, aber, wie Rilla fand, außer Schmerz nicht wirklich viel mit sich brachten.

Diese Wehen waren es auch, die sie dazu gebracht hatten, so früh nach Glen zurück zu reisen, wollte Rilla doch, dass ihr Kind auf der Insel zu Welt kam, obwohl es doch eigentlich erst in anderthalb Monaten zur Welt kommen sollte.

Sie seufzte und wandte sich dem Buch zu, das sich neben einer Teetasse und dem Mohnstrauß auf dem Tischen neben ihr befand. Nur Minuten später allerdings folgte die nächste Wehe, gefolgt von einer weiteren, die sie dazu brachte, die Teetasse fallen zu lassen.

Klirrend zerbarst sie auf dem Holzboden und kaum zehn Sekunden später betrat Ken, der in seinem Arbeitszimmer gearbeitet hatte, den Raum.

„Ist alles in Ordnung, Rilla?", fragte er, sichtlich alarmiert und wie immer überbesorgt.

„Ich glaube", erwiderte sie betont ruhig, „du kannst Jem und Dad Bescheid sagen, dass unser Kind auf die Welt möchte."