Die Finsternis des Lichts

Ken rief sofort Jem an, der mit seiner Frau und seinem Sohn herüberkam und schnell die Kontrolle über die Situation erlangte. Er wies Ken an, Rilla nach oben zu bringen und sie hinzulegen.

Eigentlich gab es keinen direkten Grund, anzunehmen, dass die Geburt nicht normal verlaufen würde, aber irgendetwas, vielleicht Rillas Unwohlsein in den letzten Monaten, vielleicht ihre starken Wehen, vielleicht der panische Blick in den Augen seiner Schwester, vielleicht aber auch nur eine böse Vorahnung, veranlasste Jem dazu, seinen Vater anzurufen, obwohl er Geburten mittlerweile sehr gut alleine bewältigen konnte.

Anne kam mit ihrem Mann hinunter zum Traumhaus und blieb bei Faith im Wohnzimmer, den schlafenden Jamie auf dem Schoß. Ken verschwand, nachdem Gilbert ihn hinaus geschickt hatte, in sein Arbeitszimmer und sein Blick verhieß nichts gutes.

Tatsächlich sollte sich Jems Vorahnung bewahrheiten.

Die Nacht brach an und verstrich. Faith war irgendwann aus schierer Erschöpfung auf dem Sofa eingeschlafen, ihren kleinen Sohn an sicht gedrückt, beobachtet von Anne, die kein Auge würde zutun können, bis sie ihr Kind in Sicherheit wusste.

Ken verließ sein Arbeitszimmer nicht, ebenso wenig Jem und Gilbert Rillas Bett. Und dass das kein gutes Zeichen sein konnte, daran gab es keinen Zweifel. Irgendwann in den Morgenstunden kam Gilbert dann doch herunter, aber nur, um Dr. Parker in Lowbridge anzurufen und um Hilfe zu bitten.

Danach verschwand er wieder, ein Schatten der Sorge auf dem Gesicht. Faith erwachte und ein Blick in das Gesicht ihrer Schwiegermutter sagte ihr alles, was sie wissen musste. Sie kümmerte sich um Jamie und bereitete sogar ein kleines Frühstück, das niemand aß, während Anne in Ingleside anrief und der besorgten Familie erzählte, was sie wusste.

Nicht lange danach kam Dr. Parker und Jem wurde von seinem Vater ins Gästezimmer geschickt, dass er sich ausruhte, um später Gilbert selbst abzulösen.

Mittags kamen Owen und Leslie, die am vorigen Abend in Ingleside gewesen waren und, nachdem Nachricht von Rillas Niederkunft und Jems Sorge deswegen gekommen war, entschieden hatten, die Nacht dort zu verbringen.

Nach einigen Stunden gingen sie auch wieder zurück, in Begleitung von Jamie und Faith, die zwar versucht hatte, zu protestieren, sich dann aber den strengen Worten ihres Mannes gebeugt hatte.

Nan und Jerry kamen als nächsten und hielten ihre Wacht, damit auch Anne sich etwas ausruhen konnte. Jerry musste irgendwann gehen, aber Nan blieb und bald kamen neben den drei Fords auch Shirley, Una und Di und auch Faith ließ es sicht nicht nehmen, die zweite Nacht wieder im Traumhaus zu sein.

Jamie ließ sie allerdings dieses Mal bei Rosemary und ihrem Vater zurück. So verstrich der 10.11 voller Sorge und die nächste Nacht brach an.

Die meiste Zeit herrschte Schweigen im kleinen Wohnzimmer des Traumhauses, aber als man um Mitternacht schwach die Kirchenglocken schlagen hörte, durchbrach Shirley diese Stille.

„11. November: Jahrestag des Waffenstillstands", bemerkte er trocken und zynisch, begleitet von einem dermaßen humorlosen Lachen, dass Nan, die neben ihm saß, unwillkürlich zusammenzuckte.

„Persis und ich", fuhr Shirley fort, immer noch ein sehr bitteres Grinsen auf den Lippen, „wollten euch eigentlich heute sagen, dass wir uns verlobt haben."

Persis seufzte leise. Die anderen sahen auf, wenn sie denn nicht gerade eingenickt waren, und nickten dem jungen Paar kurz zu oder murmelten etwas unverständliches. Für Glückwünsche schien kaum der richtige Zeitpunkt.

„Es ist grausam", bemerkte Leslie nach einigen Minuten leise, „heute vor drei Jahren hat dieser grässliche Krieg geendet. Natürlich ist es kein Tag zum Freuen, aber so sollte er auch nicht sein…" Sie seufzte.

Wieder sagte niemand etwas darauf und wieder legte sich schweigen über den Raum. Oben konnte man schwach erahnen, wie Gilbert und Dr. Parker miteinander redeten. Jem schlief im Gästezimmer. Von Rilla war nichts zu hören.

Dann öffnete sich eine Türe, Schritte erklangen auf der Treppe und Gilbert betrat den Raum.

„Wie geht es ihr?", fragte Anne sofort und sah ihren Mann nahezu flehend an. Gilbert schüttelte resigniert den Kopf.

„Sie ist sehr, sehr schwach. Die bisherige Geburt hat sie sehr mitgenommen und wir sind nicht weiter, als wir es vor neun Stunden waren."

Anne schluckte: „Das Kind…?" „Lebt, soweit wir es beurteilen können", erwiderte Gilbert, ging hinüber zu seiner Tasche, die auf einem Stuhl stand und kramte darin herum.

„Und wie geht es jetzt weiter?", fragte Leslie jetzt voller Sorge. Gilbert antwortete nicht, sondern drehte sich nur um und hob ein silbrig glänzendes Gerät hoch.

„Was…?", begann Di, wurde aber von jemand anderem unterbrochen: „Eine Geburtszange?"

Alle drehten sich um und sahen Ken im Türrahmen stehen. Er war die meiste Zeit alleine in seinem Arbeitszimmer gewesen, schien aber durch die Stimmen alarmiert worden zu sein. Er wirkte schrecklich müde, aber ansonsten zeigte sein Gesicht keinerlei Gefühlsregung.

Nachdem sie ihren Sohn gesehen hatte, war Leslie halb aufgesprungen, als wollte sie zu ihm gehen und ihn trösten, aber Owen legte eine Hand auf ihrem Arm und sie ließ sich resigniert wieder auf ihren Platz sinken.

„Es ist die einzige Möglichkeit, die wir haben, um vielleicht noch ihr aller Leben zu können", erwiderte Gilbert jetzt. Ken nickte langsam, ging dann hinüber zum Esstisch, setzte sich und vergrub das Gesicht in den Händen.

Keiner sagte etwas, nur Gilbert drehte sich um und ging nach oben, wo er erst Jem weckte und dann mit seinem Sohn wieder im Schlafzimmer verschwand. Währenddessen saß man unten in stummer Anspannung und wartete darauf, dass etwas, irgendetwas, passieren würde.

Es war schließlich Ken, der sich zuerst regte, als er aufstand, zu einem Schrank ging und eine Whiskeyflasche herausholte. Er goss sich ein Glas voll und stürzte es in einem Zug herunter.

Es war nicht viel später, als sich die Türe zum Schlafzimmer wieder öffnete. Doch statt Stille oder leisem Gemurmel, hörte man dieses Mal klar und deutlich das Schreien eines Kindes!

Dann betrat Jem das Wohnzimmer, in seinem Arm nicht ein, sondern direkt zwei Bündel, von denen eins lautstark auf sich aufmerksam machte.

„Ein gesunder Junge", erwiderte Jem auf Kens fragenden Blick auf das schreiende Baby. „Das andere ist ein Mädchen", fügte er noch hinzu, „schwach, aber auch gesund."

Ken nickte und für einige Sekunden betrachtete er seine Kinder schweigend, dann wandte er den Blick ab, als ertrüge er den Anblick nicht länger.

„Rilla…?", er schien seine Frage nicht beenden zu können, aber Jem verstand.

„Sie lebt und ist bei Bewusstsein, aber sehr schwach", antwortete er langsam, „wir wissen nicht…" Jetzt war es an Jem, abzubrechen, aber jeder wusste, was er hatte sagen wollen.

„Kann ich zu ihr?", fragte Ken zwar, wirkte dabei aber, als würde er ein ‚nein' nicht als Antwort akzeptieren. Jem nickte und übergab beide Kinder an ihrem Vater, damit dieser ihn mit hoch nehmen konnte.

Dort verließen Gilbert und Dr. Parker taktvoll das Zimmer und ließen Ken mit seiner Frau und ihren Kindern allein. Rilla lag im Bett, war blass und kraftlos und so still, dass Ken nur am gelegentlichen Zwinkern sah, dass sie überhaupt lebte.

„Ein Junge und ein Mädchen", seine Stimme klang merkwürdig belegt, „Jem sagt, sie sind gesund." Ein leichtes Lächeln legte sich auf Rillas Lippen, als sie den Kopf wandte, um ihre Kinder zu betrachten.

„Er hat Walters Augen", bemerkte sie leise, als sie den Jungen betrachtete. Etwas überrascht stellte Ken fest, dass sie Recht hatte. Es waren tatsächlich Walters Augen.

„Walter", wisperte Rilla leise und betrachtete ihr Kind zärtlich, „Walter Kenneth Ford."

Dann blickte sie ihre Tochter an, die, mit Ausnahme von den Augen, die Kens waren, ihrer Mutter so ähnlich war wie der kleine Walter ihrem Vater.

„Sie soll Leslie Alice heißen", fuhr Rilla leise fort, "nach deiner Mutter und weil mit Alice Selwyn ja damals irgendwie alles angefangen hat."

Für die nächsten Minuten schwiegen beide, Rilla glücklich, Ken besorgt, bevor sie irgendwann so erschöpft war, dass er mit den Zwillingen das Zimmer verließ, um sie schlafen zu lassen.

Er brachte die beiden Kindern nach unten zu ihren Verwandten, verkündete die Namen und wollte sich gerade wieder zurückziehen, da fing Gilbert ihn ab.

„Ich möchte ehrlich sein, Kenneth", begann er, offenbar nach Worten suchend, „die Geburt war unglaublich schwer für Rilla und auch für die Babys. Der Junge scheint gesund zu sein, das Mädchen ist schwächlicher, als er mir gefällt, aber auch sie ist außer Lebensgefahr."

Ken nickte, hatte er das doch schon von Jem gehört. „Was ist mit Rilla?", fragte er mit rauer Stimme.

Gilbert seufzte: „Wir können nicht sicher sagen, ob sie durchkommt, aber es gibt auf jeden Fall Hoffnung für sie und ich werde alles in meiner Macht stehende für sie tun, aber… wo es keinerlei Hoffnung gibt, ist… sie wird nie wieder Kinder haben können."

Ken nickte und irgendwie schaffte er es zurück in sein Büro. Die Sorge der letzten Stunden, dann die Verwunderung und Freude als er die Zwillinge gesehen hatte, nur wieder vermischt mit Sorge um Rilla und jetzt… das.

Fast kam es ihm vor, als wäre es zu viel. Zu viel, um es zu begreifen, um damit klar zu kommen. Er seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Wir konnte es sein, dass Freude und Trauer zu nahe aneinander lagen?

Wie konnte es sein, dass er an dem Tag, an dem Gott ihm zwei Kinder geschenkt, er ihm gleichzeitig alle weiteren genommen hatte? Und was, wenn…

Ken wagte er nicht, den Gedanken zu Ende zu denken, wagte nicht, sich auch nur zu fragen, was passieren würde, wenn sich Gilberts ach so hoffnungsvolles und mitfühlendes Versprechen nicht bewahrheiten würde. Was passieren würde, wenn er zwar zwei gesunde Kinder bekommen, dafür aber seine Frau würde genommen kriegen.

Eine Unfruchtbarkeit schien dagegen wie eine lächerliche Lappalie und sollte Rilla das hier überleben, so schwor Ken sich, niemals auch nur einmal damit zu hadern, dass ihnen nur zwei Kindern vergönnt waren.