Nachtzeit
Rilla schlug die Augen auf. Im ersten Moment wusste sie nicht, was genau sie geweckt hatte. Draußen tobte zwar ein schlimmer Sturm, Donner grollte und der Wind pfiff ums Haus, aber Unwetter hatten ihren Schlaf nicht mehr beeinträchtigt, seit sie acht Jahre alt war.
Und selbst damals war alles gut gewesen, wenn die zu Shirley ins Bett gekrabbelt und nicht mehr allein gewesen war und jetzt lag Ken neben ihr, friedlich schlafend. Rilla lauschte für ein paar Sekunden und vernahm dann ein leises Weinen.
Leise, um Ken nicht zu wecken, stand sie auf und ging hinüber ins Nebenzimmer. Einer der Säuglinge, die dort in ihren Wiegen lag, weinte leise und streckte Rilla, nachdem er sie erkannt hatte, flehend die Ärmchen entgegen.
Ein sanftes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie hinging und ihre Tochter hochhob.
Sofort kuschelte sich das kleine Mädchen näher an seine Mutter und hörte auf zu weinen. Rilla begann auf und ab zu gehen und sprach leise mit dem Kind.
„Hattest du Angst, meine Kleine? Du musst dich ja schrecklich gefürchtet haben, bei so einem schlimmen Gewitter. Und dann warst du auch noch ganz alleine. Aber jetzt ist Mummy ja da, jetzt brauchst du keine Angst mehr haben…"
So fuhr sie einige Minuten fort, bis ihre Tochter eingeschlafen schien, aber sobald sie sie hinlegen wollte, schlug das Mädchen die Augen sofort wieder auf und begann zu weinen.
So fuhr Rilla fort herumzugehen, musste sich allerdings irgendwann hinsetzten, denn immerhin war es schon Juni, die kleine Ally somit bereits sieben Monate alt und dementsprechend schwer.
Sie versuchte noch zwei weitere Male, Ally hinzulegen, aber jedes Mal protestierte das Mädchen lauthals und setzte Rilla sich in den Sessel neben der Wiege und behielt Ally auf dem Schoß und versank in Vorfreude auf Nans bevorstehende Hochzeit am 9. August und den anstehenden Besuch in Glen.
Aber, wie als hätte er es irgendwie gespürt, schlug in dem Moment auch Walt seine Augen auf, krakeelte laut und wollte ebenfalls hochgenommen werden. Irgendwie schaffte Rilla es, das zu tun und sich beide Kinder auf ihre Knie zu setzen.
Zufrieden brabbelten beide in Babysprache miteinander und sahen ihre Mutter zwischenzeitlich Beifall heischend an, ganz so, als würde sie eine verständliche Geschichte erzählen und erwarten, dass sie ihnen zuhörte.
Rilla lächelte zwar jedes Mal aufmunternd, konzentrierte sich ansonsten aber wenig auf das Geklapper des Babys. Stattdessen drifteten ihre Gedanken zurück, an den 20. November des letzten Jahres, als man ihr, nach Tagen der Ungewissheit, zwei Neuigkeiten überbracht hatte.
Zum einen hatte ihr Vater ihr und allen verkündet, dass sie tatsächlich leben würde, so merkwürdig es gerade ihr selber schien. Kens Nachricht dagegen war weit weniger erfreulich gewesen…
„Ken?", fragte Rilla ihrem Mann, der an ihrer Bettkante saß und Klein-Ally hielt, „was ist los?" Ken wusste, dass jetzt der beste Zeitpunkt war – wenn es so einen denn gab – aber so sehr er es versuchte, er konnte es ihr nicht sagen.
„Nichts. Ich war nur in Gedanken", erwiderte er stattdessen und lächelte, um sie zu beruhigen. Rilla schien zwar zu spüren, dass er nicht die Wahrheit sagte, aber sie fragte nicht weiter nach.
„Das mit Shirley und Persis sind wunderbare Nachrichten, nicht wahr?", plauderte sie stattdessen weiter und streichelte Walts Köpfchen, „sie haben uns wohl alle ziemlich überrascht, immerhin haben sie noch bis vor zwei Monaten behauptet, nur sehr gute Freunde zu sein.
Aber ich glaube, es ist gut für sie. Für sie beide. Shirley braucht einfach jemand fröhlichen, unbeschwerten an seiner Seite, der ihn mitreißen kann und Persis ist genau das. Und im Gegenzug brauchte sie seine ruhige, verlässliche Art. Praktisch als Fels in der Brandung."
Ken nickte: „Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Wie immer." Das letzte war mit einem Augenzwinkern gesagt und Rilla lachte leise, aber keiner von beiden meinte es wirklich. Dafür war die angespannte Atmosphäre, die von Ken ausging, viel zu drückend.
„Ich muss gestehen, dass ich hoffe, dass sie sich mit Kindern noch etwas Zeit lassen. Und wenn nicht, dann sollen sie doch bitte zuerst ein Mädchen haben. Immerhin hatte ich geplant, unseren nächsten Sohn nach deinem Vater zu benennen. Was hältst du davon?", fragend sah Rilla Ken an.
Er wich ihrem Blick aus. „Rilla, ich…", zischend stieß er den Atem aus, den er unmerklich angehalten hatte, „Die Geburt… sie hat… sie hat zuviel Schaden angerichtet… Du… du wirst nie wieder Kinder haben können. Und wenn doch, dann wirst du daran… nun ja, sterben."
Rilla sagte nicht, sah ihn nur an. Und hinter dem gebrochenen Blick in ihren Augen konnte er sehen, dass sie es gewusste hatte. Tief in ihr drin hatte die ganze Zeit über Bescheid gewusst. Und doch nicht aufgehört auf ein Wunder zu hoffen. Bis jetzt.
„Nie mehr?", fragte sie leise, wie, um sich zu vergewissern. Ken nickte langsam, streckte dann die Hand aus, um ihre Wange zu berühren, um sie irgendwie zu trösten, aber Rilla wandte das Gesicht ab.
„Sieht so aus, als wäre ich selbst dafür nicht gut genug", sie lachte bitter, „da ist es schon meine einzige wichtige Aufgabe, Kinder zur Welt zu bringen und noch nicht einmal das kriege ich hin."
„Was redest du da?", verwirrt wie besorgt sah Ken sie an, wollte nach ihrer Hand greifen, aber wieder wich Rilla seiner Berührung aus.
„Na, das ist doch offensichtlich", kurz sah sie ihn an, blickte dann wieder weg, „du wolltest immer viele Kinder, ein ganzes Haus voll. Und jetzt ist es meine Schuld, dass diese Kindern niemals geboren werden. Ich habe also versagt – mal wieder."
„Es ist nicht deine Schuld, verdammt", Ken merkte nicht, dass er laut geworden war, ebenso wenig wie er mitbekam, dass Walt zu weinen anfing und auch Ally leise wimmerte, beide offensichtlich erschrocken über den plötzlichen Stimmungswechsel.
„Wessen denn dann?", fragte Rilla und erhob ebenfalls ihre Stimme.
„Keine Ahnung", herrschte Ken zurück, „aber es ist nicht mehr deine Schuld als es meine ist."
Rilla sagte nichts mehr, sondern versuchte ihren Sohn zu trösten, aber an ihrem Blick erkannte Ken, dass sie ihm kein Wort glaubte. Er schloss die Augen und holte tief Luft in dem Versuch, sich zu beruhigen.
„Es war einfach ein Unglück, Rilla. Niemand kann etwas dafür, du am allerwenigsten", versuchte er sie weiter zu überzeugen, diesmal allerdings sehr viel ruhiger als noch Sekunden zuvor.
„Doch", widersprach Rilla leise und wandte das Gesicht ab, „ich… ich wollte nie viele Kinder. Aber wo du doch welche wolltest… da habe ich eben beschlossen, nicht so egoistisch zu sein… aber wirklich gewollt habe ich es trotzdem nicht… und das hier… das ist jetzt die Strafe dafür."
Ken wollte etwas sagen, wollte widersprechen, aber Rilla fuhr bereits fort: „Das Verrückteste ist, dass ich jetzt, wo ich die Zwillinge habe, tatsächlich welche will." Sie lacht wieder, humorlos und bitter.
Ken beugte sich vor, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und diesmal ließ sie es geschehen, schmiegte ihr Gesicht sogar gegen seine Handfläche und schloss die Augen.
„Wir haben zwei wunderschöne, gesunde Kinder", erinnerte er sie leise, „und was das wichtigste überhaupt ist, du wirst auch wieder gesund werden. Mehr zählt für mich nicht."
Rilla öffnete die Augen und versuchte sich an einem schwachen Lächeln. Aber wieder waren es ihre Augen, die sie verrieten, die Ken genau sagten, dass sie ihm nicht glaubte, niemals glauben würde und dass sie sich ihr Leben lang Vorwürfe machen würde.
„Könntest du mich für ein paar Minuten allein lassen?", fragte Rilla leise und sah ihn bittend an. Ken wirkte nicht sehr angetan von der Idee nickte aber und nahm Walt aus ihren Armen.
Dann hauchte er einen Kuss auf ihre Stirn und legte beide Kinder in ihre Wiegen, bevor er den Raum verließ. Rilla blieb zurück, weinte leise und trauerte für die Kinder, die hätten geboren werden sollen, aber niemals würden.
Bevor Rilla ihre Gedanken weiterspinnen konnte, hörte sie Geräusche aus ihrem Schlafzimmer. Ein Blick auf Ally und Walt, die sie aus wachen Augen ansahen, dann stand sie auf, legte beide trotz Protest zurück und ging hinüber.
Ken, den sie friedlich schlafend zurückgelassen hatte, warf sich jetzt unruhig im Bett hin und her, murmelte etwas, das Rilla nicht verstand, schrie zwischendurch auf und versuchte mit den Händen einen unsichtbaren Gegner abzuwehren.
Das Bettzeug und sein Pyjama waren komplett durchgeschwitzt. Rilla seufzte leise. Sie hatte gehofft, dass die Alpträume mit der Zeit nachlassen würden, aber das war nicht der Fall.
Manchmal kamen sie zwei bis drei Mal in der Woche, manchmal einen Monat lang nicht, aber wiederkommen taten sie immer.
Von Faith wusste sie, dass es kaum eine Nacht gab, in der Jem nicht von einem oder gar mehreren Alpträumen geplagt wurde, also kam Ken anscheinend noch gut weg, aber zu sehen, wie der Krieg ihn selbst über drei Jahre nach dessen Ende noch quälte, fand Rilla von Mal zu Mal schwerer zu ertragen.
Sie ging hinüber zum Bett und kniete sich neben Ken. Sanft schüttelte sie ihn. Sofort schlug er die Augen auf, sah für einen Moment alarmiert um sich, entspannte sich dann aber, als er seine Frau erkannte.
„Wieder ein Alptraum", bemerkte er mit einer Bitterkeit in der Stimme, die Rilla nur zu gut kannte. Sie wusste, wie sehr er diese Träume hasste, nicht nur um ihrer selbst Willen, sondern auch, weil er sich nicht gegen sie wehren konnte.
„Warum bist du nicht im Bett?", fragte Ken plötzlich und sah sie an, „du zitterst ja!"
Überrascht stellte Rilla fest, dass er Recht hatte. Ihr Nachthemd bot wenig Wärme und es war schätzungsweise schon gut zwei Stunden her, dass sie aufgewacht war.
„Ally hat sich vor dem Gewitter erschreckt", erklärte sie jetzt, „und jetzt mag sie nicht mehr einschlafen. Walt auch nicht."
„Dann hol sie", schlug Ken vor, „ich kann verstehen, dass sie nicht alleine sein wollen."
Rilla lächelte und nickte, dann tat sie eben das, legte die Babys und schlüpfte zurück unter die Decke und in Kens Arme, beide Kinder immer noch fest an sich gedrückt. Draußen tobte das Gewitter ungebremst weiter.
Kein Stern stand am Himmel.
