Sternenkind
Asteria Faith Blythe.
Das war der Name, den Faith ihrer Tochter gab und über den ganz Glen redete. Woher ‚Asteria' kam, konnte sich überhaupt niemand vorstellen und das Faith ihrem Kind ausgerechnet den eigenen Namen zum Zweitnamen gab, wurde allgemein als schlechtes Omen betrachtet.
Und das der Name auch noch Faith war (englisch für Glaube) heizte den Gerüchten noch mehr aus. Faith und Jem ignorierten das Gerede und auch alle die Menschen, die ihnen nahe standen, äußerten sich nicht dazu, größtenteils wohl auch, weil sie selber keine Antwort gewusst hätten.
Denn der Name war befremdlich. Und die Bedeutung dahinter vertraute Faith nur wenigen Menschen an. Zuerst natürlich Jem, dann Una und Rosemary, schließlich auch Anne und ihren Töchtern.
„Wir wollten sie Meredith nennen, aber… sie war so blass, mit ihren dunklen Haaren und Augen…", hatte sie leise, aber gefasst erklärt, „Faith… der Name kommt nicht von meinem eigenen, sondern von ‚faith', Glaube… und Asteria… das ist die griechische Sternengöttin… mir gefällt der Gedanke, dass sie jetzt dort oben bei den Sternen ist…"
Denn Faith' Tochter war tot.
Seit Geburt und Tod des Kindes am 2. Februar 1923 zog Faith sich sehr zurück, verbrachte die meisten Nächte wachend am Bett ihres Sohnes, aß nicht, schlief kaum und weigerte sich auch sonst, irgendetwas anderes zu tun, als in ihrem Zimmer am Fenster zu sitzen und hinab aufs Regenbogental zu blicken.
Sie ertrug die Gegenwart von Nan und Mary, beide schwanger, nicht, wollte außer ihrem Sohn kein anderes Kind sehen und ging selbst ihrem Mann aus dem Weg.
Wenn überhaupt, dann flüchtete sie sich zu Anne, Rilla und Rosemary, waren das doch die einzigen Menschen, die wirklich verstanden.
Anne hatte ebenfalls ihre kleine, blasse Tochter begraben müssen, Rilla trauerte noch immer um den Verlust der Kinder, denen es nicht vergönnt war, geboren zu werden und auch Rosemary war nach einer Fehlgeburt im Jahre 1909 nie wieder dieselbe gewesen.
So verstanden sie Faith' Trauer wohl am besten, aber Anne und Rosemary beobachteten Faith und auch Rilla, die ihr Schicksal auch noch nicht annähernd verwunden hatte, mit Sorge.
Was Rilla im Gegensatz zu Faith jedoch geschafft hatte, war, sich ihrem Mann anzuvertrauen und den Schmerz mit ihm zu teilen.
Jem jedoch, der selber um die kleine Asteria trauerte und ohnehin niemals so gut mit Worten gewesen war wie Ken oder auch Walter und Jerry, schaffte es nicht, zu Faith durchzukommen und die wenigen Male, die sie es zuließ, wusste er nicht, was er hätte sagen sollen und sein Schweigen kam Faith wie der schlimmste Vorwurf überhaupt vor.
Dabei machte Jem sich in Wirklichkeit eher selbst Vorwürfe und hätte im Traum nicht daran gedacht, die Schuld – wenn es den so etwas gab – bei Faith zu suchen.
Doch wie es war, die beiden, die früher immer über alles und nichts hatten reden können, sprachen nicht mehr wirklich miteinander und wenn überhaupt verstärkte das ihre Trauer noch.
Und als sie auf der Beerdigung stumm nebeneinander standen und kaum eine Regung zeigten, hatten die Klatschtanten in Glen ihr neustes Fressen gefunden.
Für einen ganzen Monat ging das so und führte dazu, dass die meisten Leute einen sehr großen Bogen um das kleine, gelbe Fairview machten, das doch früher von Lachen und Freude nahezu erfüllt gewesen war und jetzt nur noch kalt und stumm dalag.
Und mit jeden Tag wurde die Kälte unangenehmer, die Stille drückender. Selbst auf Klein-Jamie, eigentlich ein sehr fröhlicher, gewitzter Junge von mittlerweile fast zwei Jahren, schien sich diese Stimmung auszuwirken.
Doch niemand griff ein, wussten sie doch, dass Faith und Jem mit ihrem Verlust alleine fertig werden mussten. Das, oder sie würden es niemals tun.
Und trotz dieser guten Vorsätze schmerzte es Anne ihren Sohn und seine Frau so unglücklich so sehen, wissend, dass sie ihnen nicht helfen konnte, auch wenn sie es so gerne getan hätte.
Doch es war nicht an ihr, das zu tun und am Ende erwies sich ein weiteres kleines Wesen als der viel zitierte ‚Retter in der Not'.
Denn es war gar nicht weit in den März hinein, als Jem seine Frau eines Mittag, als er von einem Patienten heimkehrte, am Küchentisch sitzen sah, einen zerknülltes Blatt Papier in der Hand und ein dermaßen bitteres Lächeln auf den Lippen, dass es ihn, gelinde gesagt, beunruhigte.
„Faith? Faith, was ist passiert?", fragte er sie vorsichtig und ging neben ihrem Stuhl in die Knie. Für einen Moment sah sie ihn nur an, dann hielt sie ihm die Faust hin, mit der sie noch immer das Blatt festhielt.
Sanft öffnete Jem ihre Finger, nahm den Papierball hinaus und strich ihn glatt. Innerhalb von Sekunden hatte er den kurzen Brief darauf gelesen und dessen Bedeutung verstanden. Und mit einem Mal Begriff er auch Faith' Zustand.
Innerlich verfluchte er Carl, erinnerte er sich dann aber, dass sein jüngerer Schwager noch nie taktvoll gewesen war. Sogar noch weniger als Jem selber, denn der war sich sicher, dass ihm niemals eingefallen wäre, einen solchen Brief an eine Frau zu schicken, die vor gerade einem Monat ihr Kind verloren hatte.
Aber Carls Taktlosigkeit zusammen mit seiner, zugegebenermaßen berechtigten Freude, hatten dazu geführt, dass er Faith – wie wahrscheinlich jedem anderen Mitglied der Familie auch – einen Brief geschrieben hatte, in dem er in den wundervollsten Worten, die ihm einfielen, von seiner kleinen Tochter schwärmte.
Cecilia Jane, geboren am 3. Dezember des letzten Jahres und gesegnet mit blasser Haut, schwarzen Haaren und den strahlend-blauen Augen ihrer Mutter, war im Moment alles, worüber Carl reden konnte und somit nahm sie auch den Großteil des Briefes einnahm.
Kurz ärgerte Jem sich, doch der Ärger schwand als er seiner Frau zuwandte. Die seufzte gerade und schüttelte resigniert den Kopf.
„Ich gönne es ihnen ja", begann sie langsam, „aber… es ist doch kaum einen Monat her. Und… und er beschreibt sie genauso wie meine Kleine aussah… aussieht." Sie seufzte wieder und wandte den Blick ab, blickte hinaus aus dem Fenster ohne etwas zu sehen.
Und wieder fehlten Jem die richtigen Worte, aber anstatt einfach stumm abzuwarten wie er es die letzten Male, wenn Faith begonnen hatte, ihm einen Teil ihrer Seele zu offenbaren, den sie sonst nicht gerne öffnete, zog er sie schweigend in seine Arme und diese kleine Geste machte jeden Unterschied der Welt.
Und Faith, die keine Träne hatte seit dem grauenvollen Februartag an dem Jem ihr mit gebrochenem Blick ihr totes Kind in die Arme gelegt hatte, begann zu weinen, erst lautlos, kaum merkbar, dann immer stärker, bis sie schließlich schluchzend in seinen Armen lag.
Und als Jem sie so hielt, für Minuten, die einer kleinen Ewigkeit gleichkamen, erlaubte auch er sich zum allerersten Mal wirklich um seine Tochter zu weinen.
Um ‚meine Kleine' wie Faith sie nannte, ertrug sie es doch nicht, den Namen des Kindes auszusprechen, das ihr viel zu früh genommen worden war.
Und doch, als sie sich weinend an Jem klammerte, hatte Faith das Gefühl, dass sie in dieser Stunde, wenn schon nicht ihre Tochter, dann doch wenigstens ihre Ehe gerettet hatten.
Sie sollte Recht behalten, denn tatsächlich ging von diesem Märztag alles aufwärts. Zwar würde weder Faith noch Jem das kleine, blasse Mädchen vergessen, aber beide hatten eine wichtige Lektion gelernt: das Leben ging weiter.
Und so schaffte Faith es, als am letzten Märztag die kleine Kathryn Douglas das Licht der Welt erblickte, eine fröhliche Miene aufzusetzen und Mary und Miller so aufrichtig zu gratulieren wie es sich gehörte – und es dabei auch noch ernst zu meinen.
Als Faith allerdings am Abend nach Hause kam, war sie gedrückter Stimmung und nachts weinte sie sich in Jems Armen in den Schlaf, aber trotz allem merkten nicht nur sie und Jem, sondern auch die in Glen ansässigen Verwandten, dass es tatsächlich bergauf ging.
Nicht zu letzt war das an Jamie zu beobachten, der innerhalb von Tagen wieder zu dem fröhlichen Kind geworden war, als das man ihn kannte und liebte, was wohl für alle Beteiligten eine Erleichterung war.
Der nächste Kindersegen stellte sich wie erwartet im Pfarrhaus von Souris ein und am 10.7 verkündete ein überstolzer Jerry per Telefon sämtlichen Verwandten die Geburt von Anne Diana Meredith, sowohl nach ihrer Mutter und Tante, als auch nach ihrer Großmutter und deren bester Freundin benannt.
Und, als erstes Kind in der neuen Generation, mit flammend rotem Haar gesegnet – oder eher gestraft, wie die älteste der nunmehr drei Annes es ausdrückte.
Auch die Augen des neuen Familienzuwachses erwiesen sich nach einigen Tagen als grau-grün, womit die versprach, das Ebenbild von Anne und Diana Blythe und somit von zumindest zwei ihrer Namenspatinnen zu werden.
Nan selber, die ja bei ihrer Geburt mit schönem, nussbraunem Haar bedacht worden war, fand die roten Haare ihrer Tochter absolut niedlich und sagte selber, dass sie sich keine bessere Haarfarbe hätte wünschen können.
Als ihre Mutter und Zwillingsschwester eben diese Zeile in dem Brief, den Nan kurz nach ihrer Niederkunft geschrieben hatte, lasen, warfen sie sich nur viel sagende Blicke zu.
Zum ersten Mal zu Gesicht bekam die Familie die ersten Töchter der Meredith-Brüder dann auch direkt im Juli, als man sich zum zweiten Mal in Toronto versammelte, diesmal für die Hochzeit von Persis und Shirley.
Verglichen mit der von Rilla und Ken war es eine sehr kleine Feier, für Inselstandards allerdings noch immer verschwenderisch pompös.
Aber Persis, die schon als kleines Mädchen von ihrer Märchenhochzeit geträumt hatte, hatte sich eben das gewünscht und Shirley hatte es ihr erfüllt, auch wenn er lieber eine sehr kleine, intime Hochzeit gehabt hätte.
Allerdings war es eine so fröhliche Angelegenheit, bei der auch wirklich alles zur vollen Zufriedenheit ablief, dass es ihm kaum einfiel, irgendetwas zu kritisieren, lag es doch auch gar nicht in seiner Art.
Zudem war Persis überglücklich und lachte endlich wieder so wie sie es vor dem schrecklichen Krieg getan hatte und den frischgebackenen Eltern ging es ähnlich.
Auch Rilla und Ken hatten sich immer mehr mit ihrem neuen Schicksal abgefunden und selbst Faith strahlte zu aller Überraschung wieder, denn sie war, wie Jem voller Freude verkündete, wieder im dritten Monat schwanger.
