Fortes fortuna aduviat (Die Tapferen unterstützt das Glück)
In den nächsten Wochen und Monaten ging das Leben einen mehr oder minder beruhlichen Gang. Bruce begann im September sein zweites Jahr am Queen's College und ging voller Vorfreude fort.
Seine Eltern und Schwestern verabschiedeten ihn am Bahnhof.
John Meredith betrachtete seinen jüngsten Sohn, mittlerweile auch schon fünfzehn, mit einem nachdenklichen Blick, seufzte dann und kam sich alt vor.
Rosemary trug ein melancholisches Lächeln auf den Lippen, umarmte ihr einziges Kind und dachte dabei an das Baby, das niemals hatte sein sollen.
Una drückte die Hand ihres kleinen Bruders, sah dann hinauf in sein Gesicht und fragte sich, wo die Zeit geblieben war.
Faith gab Bruce einige gute Ratschläge mit, musterte ihn lächelnd und verdrängt den Gedanken, dass er morgen ihr eigener Sohn sein würde, der hier am Bahnhof eigene Zukunft antrat.
Alles in allem war es kein trauriger Abschied, aber trotzdem lag eine merkwürdige Melancholie auf ihm.
Di verabschiedete sich nur wenige Tage später, allerdings fuhr sie nicht wie in den letzten Jahren zurück an ihre Schule, sondern nach Kingsport.
Denn Di hatte, nach langen Unterredungen mit ihren Eltern und Geschwistern, beschlossen, dass es nicht reichte, sich in einem kleinen Provinzort zu verstecken und darauf zu warten, dass das Leben einen abholen kam, sondern dass man ihm entgegengehen musste.
Also hatte sich ihre Stelle gekündigt und bei Annes alter Freundin Philippa Gordon angefragt, ob sie vielleicht einige Monat bei ihr und ihrer Familie leben konnte.
Die hatte nur zu gerne zugesagt, da sie die Zwillinge von Annes Kindern immer am meisten geschätzt hatte und auch, da Di sich ausgesprochen gut mit Victoria und Gordon, den jüngsten von Philippas überlebenden Kindern, verstanden hatte.
So wurden also schnell alle Vorbereitungen getroffen und Anfang September bestieg Di den Zug nach Kingsport, um zum ersten Mal einen ganz eigenen Abschnitt ihres Lebens zu beginnen.
Ihre Zwillingsschwester hatte dagegen ein ausgefülltes Leben als Mutter, sowie Haus-, Ehe- und Pfarrerfrau und konnte zudem verkünden, dass ihr zweites Kind für Mitte April des nächsten Jahres ausgerechnet war.
Die größte Überraschung bereitete allerdings Faith, als sie im Herbst wie beiläufig in sämtlichen Briefen und Telefongesprächen an oder mit Freunden und Verwandten die neusten Entwicklungen bezüglich ihrer Schwangerschaft erwähnte.
Und was für Entwicklungen es waren! Es begann damit, dass Jem eines Abends im September, als er Faith untersuchte, irgendwann irritiert den Kopf hob, die Stirn runzelte und sich dann wieder über des Stethoskop beugte.
Einige Sekunden lauschte er angespannt, dann glättete sich seien Stirn wieder und auf Faith besorgte Frage versicherte er ihr, dass alles in Ordnung sei und er sich nur getäuscht hatte.
Einige Wochen später jedoch hörte Jem das gleiche Geräusch wieder und diesmal rief er seinen Vater hinzu. Gilbert untersuchte Faith ebenfalls und konnte danach Jems Beobachtungen bestätigen: Das Geräusch war tatsächlich ein zweiter Herzschlag.
Faith erwartete Zwillinge!
Natürlich waren alle völlig aus dem Häuschen, als sie die Nachricht bekamen.
Alle, bis auf Anne, die nur lächelnd feststellte, dass es ihr klar gewesen war, dass mindestens zwei ihrer Kinder Zwillinge bekommen würden, immerhin hatten Zwillinge sie schon ihr ganzes Leben verfolgt und es hätte Anne doch schwer gewundert, wenn sich das ausgerechnet jetzt hätte ändern sollen.
Doch außer Freude brachte Faith' und Jems Neuigkeit auch einige schwere Fragen mit sich.
Zum einen bekam Faith von allen Seiten nur noch zu hören, dass sie sich schonen sollte, immerhin hatte niemand den Tod der kleinen Elaine Faith vergessen, wenn auch ihre Mutter die Geburt problemlos überstanden hatte.
Aber Zwillingsschwangerschaften waren, wie Jem seiner Frau erklärte, eine weitaus ernstere und gefährlichere Sache, als Normale und so achtete er strikt darauf, dass sie sich ja nicht überanstrengte.
Faith selber reagierte eher genervt auf die Sorgen ihrer Familie. Immerhin, so bemerkte sie, war sie weder todkrank noch invalid, sondern lediglich schwanger, was ja an sich nichts besonderes war.
Das zweite Problem war Fairview.
Denn das kleine Haus, in dem Faith und Jem nun schon seit über drei Jahren wohnten, war für eine vierköpfige Familie so gerade groß genug, für eine fünfköpfige aber definitiv zu klein und so begann Jem, sich nach etwas neuem für sich und seine Familie umzusehen.
Bei seiner Frau stieß er aber damit auf taube Ohren. Faith, ganz ähnlich wie Anne damals, hatte ihr Herz an Fairview gehängt und war nicht gewillt, ihr fröhliches kleines Häuschen am Regenbogental für irgendein großes, unfreundliches ‚Monstrum' mitten in Glen einzutauschen.
Und nichts und niemand schien in der Lage, sie umzustimmen. Niemand, außer Anne Blythe. Denn die konnte ihr Schwiegertochter nur allzu gut verstehen und in dem Versuch, ihr zu helfen, hatte sie einen Plan ersannt, der so einfach wie genial war.
Man würde Häuser tauschen! Faith, Jem und ihre Kinder, würden in Ingleside wohnen und Anne und Gilbert, von deren Kindern ja nur noch Di zu Hause lebte und das auch nur pro forma, dafür zusammen mit Susan nach Fairview übersiedeln.
Faith war zwar immer noch nicht begeistert davon, ihr Häuschen zu verlassen, aber sie sah die Notwendigkeit ein und nun, da sie Fairview in guten Händen und sich und ihre Familie in einem schönen, seelenvollen Haus wusste, schaffte sie es sogar, sich mit den neuen Bedingungen anzufreunden.
Da dieses Problem damit gelöst war, blieb nur noch das dritte und letzte Problem, dass die Zwillingsschwangerschaft mit sich gebracht hatte: Wie sollte Faith es schaffen, sich um den Haushalt, ihren Mann, zwei Säuglinge und ein Kleinkind, sowie um ihre Pflichten als Arztfrau zu kümmern, ohne sich selbst dabei zu vernachlässigen?
Die rettende Lösung, die zur Abwechselung mal nicht von Anne und Jem kam, hatte Una parat.
Sie, die sich im Pfarrhaus schon seit längere Zeit übrig geblieben und einsam vorkam, wurde bei Faith und Jem, die ja in Ingleside nunmehr genug Platz hatten, einziehen und ihrer Schwester den Haushalt führen, der bei ihr zugegebenermaßen auch in besseren Händen war.
Denn Una hatte es sehr klar gemacht, dass sie nicht vorhatte, zu heiraten und was Una sich vornahm, dass zog sie durch.
Faith allerdings hatte trotz allem darauf bestanden, ihrer Schwester das Versprechen abzunehmen, dass sie, falls sie sich die Sache mit dem Heiraten jemals noch einmal anders überlegen sollte, nicht zögern würde, zu Faith zu kommen.
Una hatte brav genickt und gelächelt, im nächsten Satz aber sofort wieder versichert, dass es niemals dazu kommen würde und dass es ihr genug war, sich um Faith und ihre Familie zu kümmern.
Seufzend hatte ihre Schwester aufgegeben, was bei ihr höchst selten vorkam, aber teilweiße auf die Schwangerschaft zurückzuführen war, die sie sehr anstrengte, womit man, da die anderen aus der Welt geräumt waren, auch schon wieder beim ersten Problem angelangt war.
Denn es war eine schwerere Schwangerschaft als die vorherigen, wie Faith etwas widerwillig zugab, auch wenn Gilbert seinem Sohn täglich versicherte, dass alles seinen gewöhnten Gang ging.
So näherte sich also Weihnachten.
John, Rosemary und Bruce fuhren Carl in Vancouver besuchen, Nan und Jerry blieben in Souris, wo Jerry seine erste Weihnachtsmesse abhalten würde, Leslie und Owen feierten bei Shirley und Persis in Kingsport und Rilla und Ken kehrten nach beinahe einjähriger Abwesenheit wieder in das Traumhaus zurück.
Di blieb in Kingsport bei den Blakes und kehrte nur Anfang Dezember kurz Heim, in Begleitung von Jonas, Philippas ältestem Sohn – und Dis Verlobtem!
Es war eine Überraschung für alle, hatte man doch wenn überhaupt damit gerechnet, dass Di und Gordon heiraten würden. Und der war der genaue Gegensatz zu seinem Bruder.
War Jonas groß, etwas schlaksig, blond und braunäugig, so hatte Gordon eine stämmige Statur, schwarzes Haar und blaue Augen. Jonas war ein sehr ruhiger, geduldiger Mann, Gordon dagegen sprühte nur so vor Charme und Lebensfreude und schien ein Abenteuer nach dem anderen zu suchen.
Aber Di war glücklich und so zweifelte niemand ihre Wahl an, mochte sie auch befremdlich sein.
Die Hochzeit wurde bereits für März angesetzt, eine kleine Feier in Ingleside, das Jem und Faith selbstverständlich zur Verfügung stellten, für die man nur wenig Vorbereitungen würde treffen müssen und so plante Di, nicht vor Februar nach Glen zurückzukehren.
Es war also ein sehr kleines Weihnachtsfest, nur Gilbert und Anne, Jem und Faith mit Jamie, Rilla und Ken mit Ally und Walt und natürlich Una und Susan, doch die Ruhe wurde allgemein genossen.
Rilla schwor zudem Stein und Bein darauf, dass Walter bei ihnen war und dass sie ihn würden sehen können, könnten sie nur den leichten Vorhang heben, der diese Welt von der nächsten trennte.
Als Una das hörte, lächelte sie etwas melancholisch und sah ins Feuer, wusste aber tief in sich drin, das Rilla durchaus Recht hatte.
Aber sie sagte es nicht und nach einigen Sekunden des stillen Gedenkens, die sich eingebürgert hatten, wann immer jemand von Walter sprach oder auch nur an ihn dachte, wandte man sich fröhlicheren Themen zu, wie es sich an einem Weihnachtsabend gehörte.
Auf Weihnachten folgte Neujahr und einige Tage danach setzte ein Schneesturm ein, der so stark war, dass die Bewohner des eingeschneiten Inglesides nichts tun konnten, als abzuwarten.
Zum Glück waren die Vorratskammern gut gefüllt und auch Brennholz hatte man vorrätig, so stellten sich die Tage als nicht wirklich schlimm heraus, wenn sich auch hin und wieder Langeweile breit machte.
Die verflog aber ganz schnell, als bei Faith am Abend des 9. Januars die Wehen einsetzten. Nach einer eingehenden Untersuchung, stellte Gilbert fest, dass es tatsächlich soweit war, aber Grund zur Beunruhigung sah er nicht.
Da man mit Jem, wie er aus Erfahrung wusste, nichts anfangen konnte, wenn Faith in den Wehen lag, da Anne eine Erkältung hatte und da Susan und Una als Jungfern auch ausfielen, war es Rilla, die ihm bei der Geburt assistierte.
Und es war auch Rilla, die am Morgen des folgenden Tages nach unten kam, zuerst mit einem kleinen, rothaarigen Mädchen im Arm, dann mit einem noch kleineren, Blonden und den wartenden Menschen die erfolgreiche und problemlose Geburt von Meredith Una und Joyce Marilla Blythe verkündete.
