Allerlei aus Glen und Umgebung

Zufrieden ließ Anne sich in ihrem Sessel sinken und blickte um sich. Faith saß ihr gegenüber auf dem Sofa, hatte die kleine Joy im Arm und schupste gleichzeitig mit dem Fuß sachte Merrys Wiege an.

Das Strickzeug unberührt im Schoß liegend und fröhlich plaudernd saß Nan daneben, die für einige Tage nach Glen gekommen war, damit Anne und Gilbert ihren jüngsten Enkel kennen lernen konnten.

Der hatte Nans braune Haare und Cecilias blaue Augen und war erst wenige Tage zuvor von seinem Großvater auf den Namen Blythe Baker Meredith getauft worden, obwohl er doch schon vor fast einem halben Jahr, am 20.4, geboren worden war.

Blythe galt allgemein als schwieriges Kind, schrie er doch oft und verlangte generell ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit, jetzt saß er auf dem Schoß seiner Tante Di und gluckste fröhlich über die Grimassen, die sie zog.

Denn Di war, nachdem sie von dem geplanten Besuch ihrer Schwester gehört hatte, ebenfalls auf Besuch nach Glen gekommen – und zwar aus Avonlea!

In Avonlea hatten sie und Jonas sich nämlich nach ihrer Hochzeit niedergelassen, da Jonas kein Interesse an einem langwierigen Studium verspürte, sondern seinen Unterhalt lieber als Farmer verdienen wollte.

Also war Annes zweite Tochter tatsächlich an den Ort zurückgekehrt, an dem ihre Eltern aufgewachsen waren, und lebte dort mit ihrem Mann auf einer kleinen Farm – und nicht nur irgendeiner Farm, sondern Green Gables!

Davy Keith, der dort mit seiner Frau Millie und seinen Kindern nach Marillas Tod eingezogen war, das Farmland zurückgekauft und Green Gables wieder als richtige Farm betrieben hatte, war bereits 1920 nach Amerika ausgewandert.

Die Farm verkaufen hatte er allerdings nicht über sich gebracht und nachdem er von Anne erfahren hatte, dass Di und Jonas eine Farm auf PEI suchten, hatte er sie ihnen nur zu gerne geschenkt.

Anne war, natürlich, außer sich vor Freude und Di selbst sagte, dass sie sich kein schöneres Heim wünschen könnte.

Jetzt allerdings befand sie sich wie die anderen auch in Ingleside, wollte sie doch ihren Neffen kennen lernen und außerdem ihre eigene Nachricht persönlich verkünden – auch wenn ihr nicht zu übersehender Bauchumfang ihr das Verkünden abgenommen hatte.

Denn auch Di erwartete ihre erstes Kind, ausgerechnet für den Januar des kommenden Jahres, was vielleicht Mitgrund dafür war, dass sie, seit ihrer Ankunft, kaum hatte aufhören können, Blythe zu knuddeln, ganz so wie sie es jetzt gerade tat.

Dessen ältere Schwester, Annie, saß derweil auf dem Boden, beobachtete Una und Jamie dabei, wie sie Türme aus Bauklötzen bauten und klatschte immer wieder fröhlich in die kleinen Patschhändchen.

Sie war, im Gegensatz zu Blythe, ein sehr liebes Kind, weinte kaum, war genügsam und war immer fröhlich, was Anne einmal zu dem halb ernst gemeinten Ausspruch hingerissen hatte, dass Annies sonniges Gemüt einen glatt ihre karottenroten Haare vergessen ließ.

Für einen Moment betrachtete Anne ihre Enkelin lächelnd, dann glitt ihr Blick weiter zu den beiden gerahmten Bildern auf dem Kaminsims, die die Familien der Kinder zeigten, die es von der Insel verschlagen hatte.

Das eine war offensichtlich von einem professionellen Fotografen gemacht worden und zeigte Rilla und Ken mit ihren beiden Kindern im kleinen Salon von Windgates, Rillas Lieblingszimmer im ganzen Anwesen.

Die andere Aufnahme war erst vor einigen Tagen gemacht worden, am 23.9, und zeigte Persis und Shirley zusammen mit ihrem gerade geborenen Sohn.

Owen Shirley Blythe, von seinen Eltern nur Olli genannt, war das jüngste Kind in Annes stetig wachsender Familie.

Er hatte, wie bereits Jamie vor ihm, die haselnussbraunen Augen seiner Großvaters geerbt und auch wenn Anne auf seinem kahlen Kopf noch kein Haar entdecken konnte, so angestrengt sie auch suchte, hatte Gilbert nach einem kurzen Blick auf das Foto beiläufig verkündet, dass der Säugling blond war oder zumindest werden würde.

„Stimmt es eigentlich, dass Mary wieder schwanger ist?", fragte Di just als Nan ihren Redeschwall zum Luftholen stoppen musste und riss ihre Mutter damit aus ihren Gedanken.

„Ja", Faith nickte, „schon wieder."

„Na, du bist die Richtige!", schallt Nan lachend, „wer von uns hat denn schon vier Kinder zur Welt gebracht? Und du bist noch nicht einmal so lange verheiratet wie Mary!"

„Dafür hattest du nach knapp 20 Monaten Ehe schon zwei Kinder", verteidigte Faith sich, „ich kenne keinen, der das geschafft hat. Ihr etwa?"

Die letzte Frage war an Anne, Di, Una und Susan, die mit der ‚lieben Frau Doktor' aus Fairview gekommen war, gerichtet.

Anne lachte leise und schüttelte den Kopf: „Nein. Selbst bei mir lagen ganze 22 Monate zwischen meiner Hochzeit und Jems Geburt."

„Bei Großmutter Mary auch", wusste Una beizusteuern und hielt gleichzeitig Jamie davon ab, einen Bauklotz nach Annie zu werfen.

„Rilla dagegen hat's in nur neun geschafft", erinnerte Di grinsend und fing sich im nächsten Augenblick einen missbilligenden Blick von Nan ein, weil sie Blythe hatte hüpfen lassen.

„Nun, Mrs. Marshall Elliot ist auf jeden Fall ganz außer sich vor Freude", bemerkte Susan, „dabei ist es ja wirklich schon das Vierte. Natürlich ist so eine Geburt immer eine schöne Sache, aber nach drei Kindern noch so aus dem Häuschen zu sein…" Missbilligend schüttelte sie den Kopf.

„Mary möchte das Kind Cornelia nennen, wenn es ein Mädchen wird und falls nicht, dann Marshall", bemerkte Una und ließ zwei Bauklötze in Annies Richtung kullern, damit das Mädchen sich selber am Turmbauen versuchen konnte.

Eifrig machte sie sich daran und schaffte es, die Klötze aufeinander zu setzen. Der dritte, den Una ihr gab, brachte ihr Werk zwar zum Einsturz, aber sie versuchte es wieder und wieder mit einer stoischen Geduld, bis es schließlich klappte.

Nan betrachtete ihre Tochter mit einem Lächeln voller mütterlichen Stolz, während Faith mit einem strengen Blick ihren eigenen Sohn davon abhielt, seiner Cousine die Klötze abzunehmen, um selber wieder im Mittelpunkt zu stehen.

„Was ist eigentlich dran an den Gerüchten um Fanny Drew?", wollte Di wissen und lenkte somit die Aufmerksamkeit wieder von Annie und ihren Bauklotztürmen.

„Ah", Susan setzte sich zurecht und machte damit klar, dass an den Gerüchten eine Menge dran war. Faith und Anne, die es beide bereits wussten, lächelten amüsiert.

„Ihr erinnert euch ja sicher, dass sie mit Timothy Reese verlobt war. Anscheinend waren sie völlig verliebt in einander und was ihn anbelangt, stimmt das wahrscheinlich sogar.

Er hat extra seine Träume vom Studieren aufgegeben und ist beim Schmied in Lowbridge in die Lehre gegangen, damit sie möglichst schnell heiraten können und Fanny wollte sich außerdem nicht von ihrer Mutter trennen, müsst ihr wissen.

Also hat er, nachdem er hier in der Nähe kein Haus gefunden hat, was seiner Zukünftigen gefallen hat, selber eins gebaut, was ihn Unsummen gekostet haben muss. Der arme Timothy hat also, wie ihr seht, einiges für sie auf sich genommen", Susan schien echtes Mitleid mit ihm zu haben.

„Und dann, zwei Wochen vor der Hochzeit", fuhr sie fort, „ist Fanny hingegangen und hat ihm erklärt, dass sie ihn nicht heiraten kann. Er war natürlich am Boden zerstört und hat sie angefleht, es sich noch einmal zu überlegen, aber sie hat ihm gerade heraus gesagt, dass er sich keine Hoffnungen zu machen braucht, weil sie ihn ohnehin nie geliebt hat.

Fanny Drew ist ja schon immer ein egoistisches, flatterhaftes Ding gewesen und keiner kann sich so Recht erklären, was Timothy an ihr findet, aber so etwas hat dann doch niemand erwartet."

„Typisch Fanny", bemerkte Nan, die mit der anderen Frau noch nie besonders gut ausgekommen war.

„Oh", Faith lachte, „es kommt noch besser. Das ganze war nämlich vor ungefähr drei Wochen – und seit einer Woche ist Fanny verheiratet."

„Verheiratet?", Di wirkte verwirrt, „aber hat Susan nicht gerade gesagt, sie hätte Timothy abgewiesen? Warum sollte sie es sich dann innerhalb von zwei Wochen wieder völlig anders überlegen?"

„Hat sie nicht. Sie hat einfach einen anderen Mann geehelicht", erklärte Faith und grinste genüsslich.

„Wirklich? Wen denn?", neugierig beugte Di sich nach vorne.

„David Reese", antwortete Una, die bisher, ähnlich wie Anne, still zugehört hatte.

Nan lacht ungläubig auf: „Aber David ist Timothys Bruder!"

„Das ist er", ergriff Susan das Wort wieder, „sein Zwillingsbruder um genau zu sein, aber aus einem völlig anderen Holz als Timothy. Bei weitem nicht so freundlich und verlässlich, sondern eher der Typ Mann, den man nicht unbedingt heiraten möchte – aber ich alte Jungfer habe von so was natürlich keine Ahnung.

Wie dem auch sei, Fanny hatte also gerade die Verlobung mit Timothy gebrochen und man begann schon, die Vorbereitungen für die Hochzeit abzubrechen, da ist sie hingegangen und hat verkündet, dass es nicht nötig sei, weil sie in David verliebt sei und jetzt ihn heiraten würde.

Das hat sie dann auch gemacht, und zwar an dem Tag, der eigentlich ihr und Timothys Hochzeitstag hätte sein sollen. Und dann hatte David auch noch die Frechheit, seinen Bruder um das Haus als Hochzeitsgeschenk zu bitten, weil er es ‚ja jetzt nicht mehr brauchen würde'."

„Nicht ernsthaft!", rief Di, offensichtlich völlig erstaunt über eine solche Dreistigkeit.

„Doch", Faith nickte und warf gleichzeitig einen Blick in die Wiege, in der Merry zu quengeln angefangen hatte, „und das Ende vom Lied ist, dass Fanny und David sich drei Tage nach der Hochzeit gestritten haben und jetzt nicht mehr miteinander sprechen. Angeblich sucht sie sogar wieder Kontakt zu Timothy!"

Di lachte, aber Nan hatte schon das nächste Thema. „Hat Mrs. Samuel MacAllister aus Harbour Head ihr Kind wirklich Leroy genannt?", wollte sie wissen.

Diesmal war es Anne, die antwortete: „In der Tat hat sie das. Und mir ist zu Ohren gekommen, dass der Kleine, wäre er ein Mädchen geworden, Vita geheißen hätte."

Susan nickte: „Ja, und ob ihr es glaubt oder nicht, Mrs. Millward aus Lowbridge hat…"

Draußen vor der Wohnzimmertür warfen sich Gilbert und Jem, die gerade von einem gemeinsamen Patientenbesuch in Over-Harbour zurückgekehrt waren, viel sagende Blicke zu.