Trotzdem Irgendwie
Dis Tochter kam am 06.01 des nächsten Jahres zur Welt und wurde auf den Namen Josephine Elisabeth Blake getauft. Josephine nach Jonas' jüngster Schwester, die 1918 der Grippewelle erlegen war, und Elisabeth nach Nans Zweitnamen.
Sie hatte die blonden Haare und blauen Augen ihres Vaters geerbt und galt generell als eines der hübschesten Kinder, die bisher in der Familie geboren worden waren.
Di und Jonas waren überglücklich und konnten, ganz entgegen ihrer eigentlichen Natur, gar nicht aufhören ihre Tochter zu knuddeln, was die kleine Josie sich aber auch zu gerne gefallen ließ, war sie doch generell ein sehr verschmustes und anhängliches Kind.
Sie war keinen Monat auf der Welt, als am 28.01.1925 in Glen mit Cornelia ‚Nell' Douglas Marys viertes Kind geboren wurde, die mit ihren schwarzen Haaren und hellgrauen Augen ihrem Bruder Tom bereits jetzt recht ähnlich saß.
Zumindest wenn man sie mit Babyfotos von ihm verglich, erkannte man wirklich kaum einen Unterschied. Wie auch Josies Geburt zuvor verlief die von Nell glücklicherweise völlig problemlos.
Anne und Gilbert bekamen ihr jüngstes Enkelkind erst Ende April zu Gesicht, als sie die Blakes für einige Tage in Avonlea besuchten. Bleiben konnten sie jedoch nicht lange, da sie eigentlich auf der Durchreise nach Toronto waren.
Die Einladung an ihre Eltern hatte Rilla schon Jahre vorher ausgesprochen und in regelmäßigen Abständen wiederholt, aber bisher hatte es sich einfach nicht ergeben und so war es mehr als 4 Jahre seit der Hochzeit, dass Anne und Gilbert ihre Jüngste in Toronto besuchten.
Begleitet wurden sie von Jem und Faith und ihren Kindern, sowie Una und Susan. Es war trotz der Verbesserungen der Reisemöglichkeiten eine beschwerliche Reise.
Denn während Jamie sich an der Hand seines Vaters alles neugierig ansah und von allen Eindrücken so gefesselt war, dass er sich sehr gut benahm, hielten die nunmehr einjährigen Zwillinge recht wenig davon, stundelang in diversen Zügen durchgeschüttelt zu werden und taten ihren Unmut entsprechend laut kund.
Irgendwann erreichte man jedoch Toronto und wie versprochen wartete am Bahnhof ein Wagen auf sie, der sie nach Windgates brachte.
Dort angekommen wollten Jem und Gilbert schon nach den Koffern greifen, aber der Chauffeur winkte nur ab und tatsächlich kam im nächsten Moment ein junger Mann aus dem Herrenhaus und beide begannen damit, leise und schnell das Gepäck nach drinnen zu tragen.
Ihm folgte, weitaus ruhiger und gesetzter, eine junge Frau, die sich lächelnd an die Neuankömmlinge wandte.
„Guten Tag", begrüßte sie sie, „ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Überlassen Sie das Gepäck nur Robert und Harry und folgen Sie mir bitte. Mistress Ford erwartet Sie bereits."
Zu verwirrt von dieser Menge an Bediensten und der formellen Art mit der man sie begrüßte, folgten die Gäste der Frau schweigend ins Haus, aber Faith und Jem wechselten einen viel sagenden Blick und Annes Lächeln geriet etwas sorgenvoll.
Sie wurden durch einige Gänge und Zimmer geführt, bis die Bedienstete schließlich vor einer zweiflügeligen, weißen Tür hielt und anklopfte.
Nach einigen Sekunden öffnete sie die Türe und verkündete: „Madam, Ihre Gäste sind eingetroffen."
Von drinnen konnte man Rillas Stimme vernehmen: „Ach, vielen Dank, Matilda. Lass sie nur herein. Könntest du Bessie fragen, ob sie die Zimmer fertig hat? Und Aurelie soll mir bitte Walt bringen, sobald er aufwacht. Ich nehme an, Helen kocht bereits?"
„Ja, Madam, sie hat vor einigen Minuten angefangen", erwiderte Matilda, wie die Frau anscheinend hieß, während sie die Türe weiter öffnete, um die Blythes, Una und Susan hineinzulassen.
„Gut. Sag ihr doch bitte, sie soll etwas für meinen Mann zurückhalten. Ich erwarte ihn nicht vor Einbruch der Nacht zurück", wies sie an, ohne ihre Familie bisher eines Blickes gewürdigt zu haben.
„Natürlich, Madam. Falls Sie sonst noch etwas brauchen, dann wissen Sie ja, wo Sie mich finden", Matilda nickte respektvoll, was wohl den veralteten Knicks ersetzte, und zog sich zurück.
Für ein, vielleicht zwei Augenblicke standen die Neuankömmlinge etwas hilflos im Raum herum und auch die Stimmung war ein wenig angespannt, wurde dann aber augenblicklich wieder angenehm, als ein strahlendes Lächeln sich auf Rillas Lippen legte und sie aufstand, um ihre Familie zu begrüßen.
Im selben Moment sprang auch Ally von ihrem Platz auf dem Sofa auf, wo sie gesessen und sich von ihrer Mutter eine Geschichte hatte vorlesen lassen, und lief hinüber zu ihrer Großmutter.
Nachdem das ‚große Hallo' vorüber war und jeder einen Platz gefunden hatte, kam Jem, der sich noch nie viel aus sinnlosen Höflichkeiten gemacht hatte, auch ohne Umschweife auf das Thema zu sprechen, dass sie alle etwas mehr als interessierte.
„Sag mal, Spinne, wie viele Angestellte habt ihr eigentlich?", fragte er sie lässig und machte eine halbherzigen Handbewegung in Richtung der Tür, durch die Matilda kurz zuvor verschwunden war.
Rilla lächelte etwas: „Acht. Warum fragst du, Rotkäppchen?"
„Acht?", klinkte sich Faith ein und drückte mit einer Hand Jamie, der sich hatte davonschleichen wollen, zurück auf seinen Platz.
„Ja, acht", bestätigte Rilla, „Matilda kennt ihr ja schon. Sie ist meine Zofe und die Haushälterin, außerdem beaufsichtig sie zusammen mit Joseph die anderen Bediensteten. Joseph ist unser Butler, außerdem Kens Kammerdiener und die Köchin heißt Helen.
Aurelie ist Kindermädchen und erstes Hausmädchen, Bessie das zweite Hausmädchen. Robert, der euch abgeholt hat, ist der erste Diener und zudem noch Chauffeur, Harry ist der zweite Diener. Und Jack kümmert sich um alles, was draußen anfällt, ist also sozusagen Pferdepfleger und Gärtner in einer Person."
„Okay", Jem nickte langsam, „und warum bitte siehst du aus wie ein Porzellanpüppchen?" Seine Schwester lachte spontan auf.
„Na, das ist doch eine meiner Hauptaufgaben, oder nicht?", fragte sie halb rhetorisch und hob eine Augenbraue, von der Faith sicher wusste, dass sie gezupft war.
Überhaupt hatte Jem Recht mit seiner Bezeichnung. Mit den feinen, dunkelgrünen Seidenkleid, der nahezu perfekt sitzenden Frisur und den beiden tropfenförmigen Perlenohrringen, hatte Rilla tatsächlich etwas von einer Porzellanpuppe.
Was Faith ebenfalls auffiel, war Rillas blasser Teint, allerdings verschwendete sie keinen weiteren Gedanken daran, was man ihr insofern nicht vorwerfen konnte, da Rilla schon immer eher bleich gewesen war und es ja wirklich als vornehm galt.
Die Tatsache, dass Rillas Haut heute beinahe durchscheinend schien, schob Faith auf das gedämpfte Licht im Zimmer und den etwas zu starken Gebrauch von Rouge.
Die anderen, soweit sie es merkten, dachte in ähnliche Richtungen und selbst Gilbert, der sonst zu allererst bemerkte, wenn mit jemandem etwas nicht stimmte, ließ sie nach kurzem Stutzen von Rillas fröhlicher Plauderei ablenken.
So blieb einzig Jem, der seine Schwester misstrauisch beobachtete, weshalb nur er alleine die Art wie sie sich bewegte, die Veränderung in ihrem Lächeln, als man auf die bevorstehenden Niederkünfte von Jane (im Juni/Juli) und Nan (im September/Oktober) zu sprechen kam, und das Leuchten in ihren Augen, als sie Joy und Merry knuddelte, bemerkte und deutete.
Aber er sprach seinen Verdacht nicht sofort aus, sondern wartete bis Abends.
Während Bessie und Aurelie die Kindern nach einiger Zeit zum spielen mitnahmen, plauderten die Erwachsenen über dies und jenes und tauschten sämtliche Neuigkeiten aus, nur kurz unterbrochen, als Rilla und Faith, begleitet von Una, gegen Abend die Kinder ins Bett brachten.
Denn um ihre Kinder, dass hatte Rilla immer wieder klar gemacht, kümmerte sie sich zu 90 Prozent selber. Und so wurde es spät abends, bis man schließlich beschloss, schlafen zu gehen.
Einzig Rilla blieb sitzen und griff nach einem Buch, während sie erklärte: „Ich denke, ich werde noch auf meinen Mann warten. Joseph geht zwar nie schlafen, bevor Ken es tut und kann ihm durchaus das Essen warm machen, aber es isst sich doch sehr einsam, wenn sonst alle schlafen. Eigentlich versuche ich, jede Nacht auf ihn zu warten, es sei denn, er kommt richtig spät."
Und so wünschte man sich eine gute Nacht und die anderen gingen nach oben. Mit Ausnahme von Jem, der Faith vorschickte und ihr versprach, gleich nachzukommen.
Taktvoll schloss Faith die Türe hinter sich und lies die beiden Geschwister allein.
„In Ordnung, Rilla, sagst du mir jetzt, was los ist?", Jems Stimme lies keine wirkliche Widerrede zu. Rilla sah aus dem Fenster und schwieg. Ihr Bruder gab so schnell allerdings nichts auf.
„Du bist schwanger, oder?", fragte er sie. Rilla nickte, sah ihn aber immer noch nicht an. Jem ließ sich in einen der Sessel fallen.
„Was hast du vor?", inquirierte er weiter.
„Was tut man wohl, wenn man schwanger ist?", fragte Rilla ihn ein wenig sarkastisch.
„Du kannst es nicht austragen", erwiderte Jem, den seine vorgetäuschte Ruhe langsam verließ.
Rilla lachte humorlos: „Und warum nicht?"
„Das weißt du doch! Es ist schon ein medizinisches Wunder, dass du überhaupt noch einmal schwanger geworden bist. Dieses Kind auszutragen… es würde dich umbringen", seine Augen bohrten in die ihrigen.
Rilla lächelte ein wenig und zum ersten Mal seit Jem denken konnte, wirkte sie dabei wirklich überheblich – und gewollt so.
„Na und?", fragte sie, sah ihn kurz an, bevor sie sich wieder dem Fenster zuwandte.
„Verdammt, Rilla", herrschte Jem sie an, „verstehst du überhaupt, was du da redest? Du setzt gerade dein Leben für ein Kind aufs Spiel, das noch nicht einmal geboren ist. Wie weit bist du überhaupt?"
„15. oder 16. Woche", erwiderte Rilla, immer noch sehr ruhig.
Jem nickte: „Gut, dann ist es noch nicht zu spät. Dad kennt einen Arzt in Montreal, der…"
„Was, Jem?", unterbrach Rilla ihn höhnisch, „illegale Machenschaften? Tz, das ist aber gar nicht brav."
Für einige Sekunden starrte Jem sie nur an, dann explodierte er: „Ich versuche dir hier zu helfen. Ich versuche, dein Leben zu retten. Und alles was du tun kannst, ist arrogant zu lächeln und alles abzuschmettern. Dass Ken so etwas unterstü–"
Jem unterbrach sich, als er den Blick in den Augen seiner Schwester sah.
„Moment. Sag mir jetzt bitte nicht, Ken weiß noch nicht einmal, dass du schwanger bist", er schien selber nicht glauben zu wollen, was er da dachte.
„Ken kennt sämtliche Geschehnisse von hier bis Timbuktu", erwiderte Rilla ruhig, „da kann man doch nicht erwarten, dass er sich auch noch mit denen in seinem eigenen Haus herumschlägt, oder? Und jetzt entschuldige mich bitte, ich bin müde."
