Asche zu Asche
Rilla verlor das Kind am neunzehnten Mai.
Die Besucher aus Glen waren längst wieder zu Hause, was insofern ganz gut war, da zwischen Rilla und Jem während des ganzen Besuchs eine mehr als angespannte Stimmung geherrscht hatte, über deren Ursprung jedoch beide eisern geschwiegen hatten.
Ken war ebenfalls nicht in Windgates, sondern – mal wieder – in der Redaktion, wo er gegen Mittag, gerade als er nach einem Blick aus dem Fenster festgestellt hatte, was für ein schöner Tag es doch war, einen folgenschweren Anruf bekam. E
ine aufgelöste Matilda berichtete ihm davon, dass Rilla zusammengebrochen wäre und es ihr sehr schlecht ginge, dass der Arzt bereits da wäre, Ken aber am besten trotzdem sofort kommen sollte, da es ernst aussah.
Der ließ sich natürlich nicht zweimal bitten, packte hastig seine Sachen zusammen, wobei er die Hälfte liegen ließ, holte sich bei seinem Chef die Erlaubnis zu gehen, rannte zu seinem Wagen und fuhr in beinahe halsbrecherischem Tempo nach Windgates zurück.
Als er dort jedoch ankam, war bereits alles vorbei und der Arzt erwartete ihn schon.
„Mr. Ford, ich möchte es kurz machen: Ihre Frau hatte eine Fehlgeburt. Für das Kind konnten wir naturgemäß nichts mehr tun, aber Mrs. Ford ist außer Lebensgefahr – ein Wunder, wenn man ihre bisherige medizinische Geschichte bedenkt."
Für eine Augenblicke starrte Ken den anderen Mann sprachlos an, dann würgte er hervor: „Eine Fehlgeburt?"
Der Arzt deutete seien Reaktion falsch und setzte einen noch betroffeneren Gesichtsausdruck auf.
„Es tut mir Leid. Wir haben versucht, die Geburt aufzuhalten, aber in Anbetracht der Tatsachen…", begann er, wurde allerdings von Ken grob unterbrochen.
„Sie wollen mir sagen, Rilla ist… war… schwanger?"
Jetzt war es an dem Arzt überrascht zu schauen: „Ja, in der 17. oder 18. Woche bereits. Wussten Sie das etwa nicht?"
Langsam schüttelte Ken den Kopf: „Nein. Nein, ich hatte keine Ahnung." Seine Stimme klang merkwürdig belegt und sein Blick driftete ab.
Nachdem er sich noch einmal hatte versichern lassen, dass Rilla rein physisch weitgehend in Ordnung war, machte er sich auf den Weg in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Rilla lag auf seiner Seite des Bettes, hatte ihr Gesicht in seinem Kissen vergraben und rührte sich nicht.
„Wann hast du geplant, mir zu sagen, dass du schwanger bist?", fragte Ken sie und ließ sich auf die Bettkante sinken. Rilla drehte sich um, sah ihn an und er konnte sehen, dass sie geweint hatte.
„In drei Wochen. Wenn du es bis dahin nicht von selber gemerkt hättest", ihre Stimme klang weitgehend neutral, aber Ken kannte sie gut genug, um den versteckten Vorwurf darin zu erkennen.
Es war das Übliche: ‚Wenn du…, dann…'
„Das hat damit überhaupt nichts zu tun", wehrte er sofort ab, „im Moment geht es nämlich nur darum, dass du mir verschwiegen hast, dass du schwanger bist, verdammt. Was bei deiner technischen Unfruchtbarkeit ganz sicher keine Kleinigkeit ist."
„Na und? Das Kind ist tot, ich lebe. Alles wieder beim Alten. Du solltest zufrieden sein", fauchte Rilla, der mittlerweile auch aufging, dass sie von ihrem Mann nicht den Trost bekommen würde, den sie erwartet hatte, zurück.
„Werd' gefälligst nicht unsachlich", Ken merkte kaum, wie seine Stimme lauter wurde, „du weißt ganz genau, dass ich gar nicht ‚zufrieden' sein kann. Es war auch mein Kind, trotzdem dass du es nicht für nötig gehalten hast, mich über seine Existenz zu unterrichten."
„Du hättest mich doch nur gezwungen, es aufzugeben", erwiderte Rilla leise, aber ebenso wütend wie er.
„Mit gutem Grund", herrschte Ken sie an, „du hättest sterben können, Rilla, verdammt noch mal. Und ich habe mir an unserem Hochzeitstag geschworen, dass ich lieber selbst sterbe, als zuzulassen, dass dir etwas passiert!"
„Und du glaubst also, mich dazu zu zwingen, mein Kind umzubringen, ist der richtige Weg um das zu tun?", Rillas Augen bohrten in Kens.
Er hielt ihrem Blick stand und nickte. Sein Gesichtsausdruck war hart.
„Nun, wenn dass so ist, dann verschwinde", erwiderte Rilla nach einer kurzen Stille. Ihre Stimme war sehr ruhig, gefasst und verriet nicht eine Spur von dem, was sie fühlte.
Ken rührte sich nicht, sondern sah sie nur an, sein Gesichtsausdruck ähnlich verschlossen.
„Hast du nicht gehört?", Rillas Stimme hatte einen scharfen Unterton angenommen, „geh raus! Ich will dich nicht mehr sehen."
Diesmal stand Ken tatsächlich auf und verließ den Raum – ohne ein Wort zu sagen und ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.
Kaum, dass die Türe sich hinter ihm geschlossen hatte, drehte Rilla sich wieder um, presste ihr Gesicht in das Kopfkissen und wartete darauf, dass die Tränen kamen. Sie taten es nicht.
Also blieb sie liegen, mit brennenden, tränenlosen Augen und dachte an die Geschehnisse des halb vergangenen Tages. Dachte an ihr Kind und, als sie das nicht mehr aushielt, an Ken und an ihren Streit. Betete darum, dass er ihre scharfen Worte nicht zu ernst genommen hatte und wiederkommen wurde.
Aber er kam nicht.
Sie sah ihn erst wieder am nächsten Tag beim Frühstück. Ken blätterte einige Zeitungen durch, las zwischendurch einige Artikel, trank zwei Tassen Kaffe, aß drei Brote und schwieg.
Rilla sah aus dem Fenster, nippte an ihrem lauwarmen Tee ohne wirklich etwas zu trinken und schwieg ebenfalls.
Irgendwann sah Ken auf und nahm so das erste Mal die Anwesenheit seiner Frau zur Kenntnis, aber nur um in drei kurzen, kühlen Sätzen einige organisatorische Dinge bezüglich der Kinder, des Haushalt und seiner Arbeit zu besprechen.
Dann stand er auf und ging. Kein Lächeln, keinen Kuss, noch nicht einmal einen kurzen Gruß zum Abschied. Für einen Moment blieb Rilla regungslos sitzen, starrte nur auf die Türe, die längst hinter Ken zugeschlagen war, dann schien sie sich gesammelt zu haben.
Sie setze sich gerader hin, stellte die Teetasse so heftig ab, dass die Hälfte des verbliebenen Inhalts auf den Unterteller schwappte und setze nur scheinbar mühelos ein hübsches, freundliches Lächeln auf.
Und auf diese Weise ging es weiter. Tage wurden zu Wochen, Wochen zu einem Monat und mit der Zeit entwickelten die beiden einen Rhythmus, der sicherstellte, dass alles geregelt wurde, der den Kontakt aber gleichzeitig auf ein Minimum reduzierte.
So auch an einem Morgen Ende Juni, als sie einander am Frühstückstisch gegenüber saßen. Ken las wie immer seine unzähligen Zeitungen, während für Rilla zwei Briefe gekommen waren – einer von Di aus Avonlea und ein zweiter von Carl aus Vancouver.
„Jane hat am 26. ihr Baby bekommen", bemerkte sie ohne auszusehen, während sie Carls Brief überflog, „ein Mädchen, rothaarig und blauäugig wie ihre Mutter. Sie wollen es Rachel nennen. Rachel Elliot, nach Janes eigener Mutter."
„Schickst du eine Glückwunschkarte.", es war von Ken wie eine Frage formuliert, aber wie eine Aufforderung ausgesprochen.
„Natürlich", erwiderte Rilla recht gleichgültig und beide verfielen wieder in ihr Schweigen.
So wäre es wohl auch weitergegangen, wäre in dem Moment nicht Walt herein gelaufen gekommen. Er hielt einen Teil der Spielzeugzugs in der Hand, den der erst vor einigen Tagen von Owen und Leslie bekommen hatte und blieb vor seinem Vater stehen.
„Daddy mit mir spielen!", auffordernd sah er zu Ken hoch. Bevor der irgendetwas sagen oder tun konnte, schaltete Rilla sich ein.
„Daddy muss arbeiten, Schatz. Er kann jetzt nicht mit dir spielen", erklärte sie ihrem Sohn, während sie aufstand und um den Tisch herum zu ihm ging.
Etwas widerwillig, aber dennoch weitgehend gehorsam folgte Walt ihr, als sie ihn an die Hand nahm und ins Nebenzimmer führte, wo der Rest des Zuges noch auf den Schienen stand und wo Ally auf einem der Sofas saß und mit ihrem Teddy Franz und ihrer Lieblingspuppe Carla spielte.
Diesmal war es Ken, der zurückblieb und nachdenklich die Tür betrachtete. Rillas Worte klangen in seinen Ohren nach, wieder und wieder und wieder, beinahe wie eine gesprungene Schallplatte.
Daddy muss arbeiten, Schatz. Daddy muss arbeiten, Schatz. Daddy muss arbeiten, Schatz. Daddy muss…
Natürlich wusste Ken, dass Rilla sich daran störte, wie viel er arbeitete. Sie hatte es ihm noch nie ins Gesicht gesagt, aber es war offensichtlich von ihren Seitenblicken und kleinen, spitzen Bemerkungen.
Er wusste auch, dass sie irgendwo sogar Recht hatte. Er arbeitete zu viel und kümmerte sich zu wenig um seine Familie. Aber der bisherige Stellvertretende Chefredakteur war kurz davor in den Ruhestand versetzt zu werden und Ken war klar, dass er sich sehr anstrengen musste, um den begehrten Posten zu bekommen.
Also arbeitete er in der letzten Zeit noch mehr als sonst. Natürlich war das ein Mitgrund für sein spätes Erfahren von Rillas Schwangerschaft und auch dafür, dass seine Frau stetig unglücklicher zu werden schien.
Er hatte sie im April mit Faith reden hören, darüber, wie schrecklich nutzlos sie sich vorkam, wo ihr doch alles hinterher getragen wurde und dass er, Ken, anscheinend mit seiner Arbeit verheiratet wäre, anstatt mir ihr und dass sie es, wären die Kinder nicht, nicht mehr aushalten wurde, ihr Leben lang nur Ken Fords Trophäe zu sein.
Ken selber wäre es nie eingefallen, sie so zu bezeichnen.
Vielleicht lag es an der Erinnerung an das überhörte Gespräch, vielleicht an Rillas Worten, die sich in seinem Kopf immer noch wiederholten, vielleicht an Walts hoffnungsvollem Blick eben oder vielleicht auch an etwas völlig anderem.
Auf jeden Fall stand Ken plötzlich ruckartig auf und ging in den angrenzenden Salon.
Ally saß noch immer auf dem Sofa und redete vor sich hin, Walt spielte mit seiner Eisenbahn und Rilla saß neben ihm auf dem Boden, lächelte und beobachtete ihre beiden Kinder.
„Aurelie", sprach Ken die Angestellte, die in einer Ecke stand, an, sobald er den Raum betrat, „sag doch bitte Joseph, dass er in der Redaktion anrufen und mich dort für heute entschuldigen soll, ja?"
„Natürlich, Sir", erwiderte Aurelie prompt und verließ das Zimmer. Ohne etwas weiteres zu sagen, ließ Ken sich ebenfalls auf den Boden sinken, nahm den zweiten Zug und ließ ihn über die Schienen fahren.
Walt lachte fröhlich und klatschte in die Hände. Ken wusste, dass Rilla ihn beobachtete, wagte aber erst nach einigen Momenten, den Blick zu heben und sie anzusehen.
Das Lächeln auf ihren Lippen sagte ihm, dass er endlich einmal das Richtige tat.
