Mondsüchtig

„…dann hätte ich gerne noch zehn Eier und zwei Liter Milch", bat Una nach einem Blick auf ihre Liste.

Mildred MacAllister, Carter Flaggs Nichte, suchte das Gewünschte zusammen und Una wollte gerade ihr Geld herausholen, als Jamie, der sie begleitete, zaghaft an ihrer Hand zupfte.

„Bekomme ich ein paar Karamellen, Tante Una?", fragte er mit diesem treuherzigen Blick, von dem er sehr genau wusste, dass ihm dann niemand etwas abschlagen konnte.

Wie erwartete gab Una mit einem kleinen Lächeln nach: „Und noch Karamellen für meinen Neffen hier."

„Natürlich", zwitscherte Mildred und fragte dann, während sie die Bonbons abfüllte: „Stimmt es, dass der jüngere Reverend Meredith und seine Frau zur Zeit in Glen sind?"

„Ja", Una nickte, während sie bezahlte und Jamie eines der Karamellen gab, „sie sind hier um uns ihren jüngsten Sohn zu zeigen."

„Ach wie schön", Mildred lächelte, „nun, dann bestellen Sie viele Grüße und meine Glückwünsche."

„Mache ich. Auf Wiedersehen", verabschiedete Una sich, nahm Jamie an die eine Hand, ihre Einkäufe in die andere und ging.

Nan und Jerry waren vor etwas drei Tagen und damit rechtzeitig zu Weihnachten gekommen, zusammen mit Annie, Blythe und dem kleinen Bert, der vor knapp drei Monaten, am 30.09, als Gilbert Bruce Meredith zur Welt gekommen war.

Er hatte glänzendes, schwarzes Haar, die schokoladenbraunen Augen seiner Mutter und für ein Neugeborenes bereits ausgesprochen feine Gesichtszüge.

Charakterlich unterschied er sich sehr von seinen Geschwistern, war weder so fröhlich und aufgeschlossen wie Annie, noch so schwierig und unruhig wie Blythe, sondern eher ruhig und unauffällig.

Dafür, dass er erst so klein war, hatte Bert bereits ein ausgeprägtes Verhalten, lag am liebsten still in seinem Körbchen und beobachtete mit großen Augen und ernstem Gesichtchen alles, was um ihn herum geschah.

Jerry hatte einmal gescherzt, dass sein jüngster Sohn sich so unbabyhaft benahm, dass es ihn beinahe gruselte. Und, wie Una zugeben musste, daran war tatsächlich etwas Wahres, auch weil Bert es gar nicht leiden, geknuddelt und beschmust zu werden, besonders nicht von Fremden.

Seine Eltern waren natürlich trotzdem unglaublich stolz und glücklich und besonders Nan strahlte pures Glück aus, was teilweise wohl auch daran lag, dass sie erneut schwanger war.

Mitte Juli würde das Kind, laut Gilbert, geboren werden und damit, wie Faith festgestellt hatte, noch vor dem vierten Hochzeitstag seiner Eltern.

Aber das Jahr 1926 versprach ohnehin ein kinderreiches Jahr zu werden, waren doch auch Faith und Di schwanger, deren Niederkünfte beide für den April errechnet waren, und auch von Carl aus Vancouver war gestern ein Telefonanruf gekommen, in dem er sein drittes Kind für August ankündigte.

Nicht zu vergessen waren natürlich Shirley und Persis, die wohl im Mai zum zweiten Mal Eltern werden würden. Tatsächlich war die einzige in der Familie, die nicht schwanger war, Rilla.

Natürlich Rilla. Zwar wusste kaum jemand, was sich im Frühjahr diesen Jahres abgespielt hatte, aber dass es eine Fehlgeburt und eine schwere Ehekrise einschloss, war durchgesickert.

Und auch wenn Una nicht wusste, was genau geschehen war, so beneidete sie Rilla.

Beneidetet sie dafür, dass sie den Mann hatte heiraten können, den sie liebte, dass sie seine Kinder zur Welt hatte bringen dürfen, wenn es denn auch nur zwei waren, und dass sie generell das Leben hatte, was Una verwehrt geblieben war.

Nicht, dass sie es ihr auch nur eine Sekunde lang missgönnen würde! Nein, Una war kein Mensch, der anderen Menschen etwas missgönnte, schon gar nicht einer Freundin, aber trotz allem fühlte sie jedes Mal, wenn sie Rilla – oder Faith oder Nan oder irgendwen – mit ihren Kindern sah, einen kleinen Stich.

Denn, so sehr Una Faith' Kinder, besonders ihren Erstgeborenen, liebte und so glücklich sie war, bei ihrer Schwester ein Heim gefunden zu haben, so sehr trauerte sie auch um das, was hätte sein können.

Zu oft lag sie nachts wach, starrte in die Dunkelheit und fragte sich, was sie jetzt wohl tun würde, hätte nicht damals, an diesem schrecklichen Septembertag, eine deutsche Kugel ihren Träumen ein Ende gesetzt.

Una seufzte und reichte Jamie abwesend ein weiteres Karamellbonbon, ohne zu merken, dass er eigentlich schon viel zu viele gegessen hatte. Anstatt das Bonbon allerdings in den Mund zu stecken, behielt Jamie es in der Hand, überlegte kurz und streckte plötzlich seine Zunge heraus.

Die Straße war menschenleer, weshalb Una etwas brauchte, um zu begreifen, dass es kein Mensch war, dem Jamie die Zunge raus streckte, sonder ein Haus. Das Haus des Methodistenpfarrers, um genau zu sein.

Denn Jamie, der noch nicht begriffen hatte, dass auch Menschen unterschiedlicher Gesinnungen friedlich nebeneinander existieren konnten, sah den Methodistenpfarrer als direkten Rivalen seines Großvaters und indirekt auch als einen seines Onkels Jerry, weshalb er beschlossen hatte, Rev. Arnold nicht leiden zu können.

Natürlich schallt Una ihren Neffen dafür, aber an Jamie, nicht umsonst eine lebendige Kopie seines Vaters, prallte das meiste einfach ab und so grinste er nur frech und schob sich sein Karamellbonbon in den Mund.

Doch Unas Gedanken drifteten schon wieder ab, diesmal zu einem jungen Mann, der in gewisser Weise ihr Schicksal teilte.

Zwar war Fred Arnolds viel zitierte große Liebe nicht tot, dafür aber verheiratet und Mutter, weshalb seine Chancen bei ihr ungefähr gleich Null waren.

Denn dass Rilla Ford ihren Mann, trotz ihrer Auseinandersetzungen, vorbehaltlos liebte, daran zweifelte wohl niemand, der die beiden je miteinander gesehen hatte. Und auch Fred Arnold war weder so blöd, noch so geblendet von Liebe, es nicht zu sehen.

Nachdem damals, 1919, die Nachricht von Rillas und Kens Verlobung verbreitet worden war, war auch seine letzte Hoffnung erloschen und er hatte sich in sein Studium gestürzt. Vor einigen Monaten dann, als er es beendet hatte, war er abgereist, um in irgendeinem afrikanischen Land als Missionar zu arbeiten.

In Glen hatten sich die Gerüchte natürlich überschlagen, aber mittlerweile war es ruhig geworden um die Arnolds und nur noch wenige dachten mehr an Fred.

Una wünschte ihm inständig, dass er irgendwo, sei es nun in Afrika oder sonst wo auf der Welt, eine Frau finden würde, die seine Liebe erwidern konnte. Denn sie wusste nur zu gut, wie es war, wenn der Mensch, den man liebte, einen anderen voller Liebe ansah.

Es war ein unerträgliches Gefühl. Umso unerträglicher, wenn man beide Menschen mehr liebte als irgendwen sonst auf der Welt. Denn das Walter sich damals ausgerechnet Faith ausgesucht hatte, hatte kein bisschen geholfen.

Natürlich, da waren sein letzter Brief , dann Rilla, deren Blick Una immer wieder versicherte, dass Walter sie geliebt hatte und nicht Faith, und schließlich Shirley, der der festen Überzeugung war, dass es das Ideal, welches Walter in Faith verkörpert gesehen hatte, gewesen war, in dass er sich verliebt hatte und nicht etwa Faith selber.

Nichts davon konnte Una jedoch wirklich überzeugen – und der einzige Mensch, der es wirklich konnte, hatte sein Wissen und seine Gefühle mit in sein Grab genommen.

Aber es war ja schon immer so gewesen. Immer Faith. Die kluge, schöne, charmante Faith. Una seufzte lautlos.

Nicht, dass sie ihre Schwester nicht von ganzem Herzen geliebt hätte, aber manchmal saß da doch ein klitzekleiner Stachel, der sie zwickte und juckte und störte.

Es war keine Missgunst, noch nicht einmal richtige Eifersucht, sondern mehr eine kleine Rebellion dagegen, ihr Leben lang im Schatten zu leben.

Aber wie jedes Mal, wenn Una so weit mit ihren Gedanken kam, erinnerte sie sich daran, wie gut es doch manchmal sein konnte, einfach im Schatten, im Windschatten, zu verweilen und abzuwarten.

Zu warten, bis alles wieder gut war, bis Faith die Probleme aus dem Weg geräumt hatte, bis es wieder sicher war für Una, herauszukommen, bis sie nicht mehr gezwungen war, sich der Welt zu stellen.

Denn Una wusste sehr genau, um wie viel einfacher Faith ihr das Leben machte, hatte es umso deutlicher gespürt, als der Krieg ausgebrochen und Faith schließlich gegangen war, Una zurücklassend, mit all ihren Problemen.

Faith war schon immer die Kämpferin gewesen.

Die, die sich ihren Weg suchte, egal wie steinig er auch sein mochte. Und Una war hinterhergelaufen und hatte ihr den Rücken gestärkt und war einfach da gewesen, wenn sie gebraucht worden war und das schien zu reichen.

Faith hatte den Weg frei geschlagen und hatte Una gleichzeitig beschützt vor allen Übeln der Welt, einfach, weil sie wusste, dass die Welt Una verletzten wurde.

Und deshalb hatte Faith zuallererst Una gefragt, bevor sie nach England gegangen war, hatte von ihrer Schwester wissen wollen, ob es in Ordnung war zu gehen, sie zurückzulassen oder ob sie besser bleiben sollte.

Una hatte versichert, dass es okay war, auch wenn es das nie sein wurde, einfach, weil es ihre Aufgabe war, Faith den Rücken zu stärken und da zu sein und niemandem zur Last zu fallen, genauso wie es Faith' war, zu kämpfen, egal gegen was oder wen oder wann oder wie lange, und natürlich am Ende zu siegen.

Und mehr als alles andere war es ihre Aufgabe, Una zu beschützen.

Und deshalb würde nie irgendwer ein einziges, auch nur annähernd missgünstiges Wort über Faith aus Unas Mund hören.

Vielleicht lag es daran, dass Una zu Missgunst nicht fähig schien, vielleicht daran, dass sie immer zu beschützt worden war, um irgendwem etwas zu missgönnen, wahrscheinlich aber daran, dass Una wusste, wie viel sie ihrer Schwester verdankte.

Schutz, Hilfe, Trost, Liebe.

Was Una allerdings nicht wusste, war, dass Faith, hätte man sie gefragt, was sie denn ihrer Schwester verdankte, ohne lange zu zögern eine ganze ähnliche Antwort gegeben hätte.

Aber Una wusste dass nicht und selbst wenn sie es gewusst hätte, sie hätte es wohl nicht geglaubt. Denn, wenn Una Meredith in ihrem Leben eins gelernt hatte, dann war es, sich selbst zu unterschätzen.

Und genauso, wie sie nicht glauben konnte, dass Faith sie tatsächlich brauchen könnte, konnte sie nicht glauben, dass Walter sie vielleicht wirklich geliebt haben sollte.

Weil, so fand sie, was gab es an ihr, Una Mary Meredith, schon groß zu lieben?