Die Zeit verfliegt
„Und, was schreibt Di?", erkundigte Jem sich, streifte Schuhe und Mantel ab und warf beides in eine Ecke.
„JEM!", schalt Faith, bevor Anne die Chance bekam, zu antworten, „ich habe die Küche eben erst geputzt!"
„Tut mit Leid", erwiderte ihr Mann ohne große Überzeugung, wirbelte dann die Zwillinge einmal durch die Luft – Joy kicherte und gluckste fröhlich, aber Merry beobachtete ihren Vater etwas misstrauisch –, klopfte Jamie kurz auf die Schulter und ließ sich neben Faith fallen.
Augenblicklich wanderte eine Hand in die Keksdose, die auf dem Tisch stand, dann grinste er seine Frau auf eine Art an, die mehr an den schelmischen Schuljungen erinnerte, der er mal gewesen war, als den gestandenen Arzt, Ehemann und vierfachen Vater, der er nun war.
„Warum die gute Laune, Jem?", fragte Shirley, der mit seiner Frau und seinem Sohn momentan Urlaub in Glen machte, ebenfalls grinsend.
Jem, den Mund voller Kekse, gestikulierte nur in Richtung seines jüngsten Sohnes, eines rothaarigen, braunäugigen Säuglings, keine zwei Wochen alt, der ruhig in den Armen seiner Mutter lag.
„Genehmigt", stand sein jüngerer Bruder ihm zu und warf seinerseits einen Blick auf den wohl gerundeten Leib seiner eigenen Frau.
Laut Gilbert würde es keine zwei Wochen mehr dauern, bis er sein zweites Kind auf dieser Welt würde willkommen heißen dürfen und so konnte er Jems offensichtliche gute Laune nur zu gut verzeihen.
Persis selber verdrehte nur die Augen, wechselte einen viel sagenden Blick mit Faith und wandte sich dann an ihre Schwiegermutter: „Was genau schreibt Di denn jetzt?"
Seit Jonas' Telefonanruf am 24.4, gerade eine Woche nachdem am 17. Jems und Faiths Jüngster das Licht der Welt erblickt hatte, der ihnen die Geburt eines kleinen Mädchens angekündigt hatte, hatte man in Ingleside ungeduldig auf den versprochenen Brief gewartet, den Anne nun, einige Tage später, in den Händen hielt.
„Ein Mädchen, wie ihr ja schon wisst", erwiderte diese jetzt und überflog den Brief nach weiteren Informationen zu ihrer neusten Enkeltochter.
„Sie haben sie Philippa Katherine genannt, ‚Philly' abgekürzt und anscheinend hat sie braune Augen und… rote Haare!", rief Anne aus, stimmte aber bald in das Lachen ihrer Kinder ein.
„Arme Mutter Anne", grinste Faith, nachdem sich alle etwas beruhigt hatten, „zwei rothaarige Enkelkinder in einer Woche!"
„Ich denke doch, ich werde damit klarkommen. Euren Johnny liebe ich schließlich bereits von ganzem Herzen", erwiderte Anne schelmisch, auf John Cuthbert Blythe, das Baby in Faiths Armen verweißend, „ich frage mich lediglich, ob Di es schaffen wird."
Daraufhin mussten wieder alle Lachen und selbst die vier Kleinkinder, die auf dem Küchenboden spielten, stimmten ein, obwohl sie nicht wirklich verstanden, worum es eigentlich ging.
Und hätte man Faith gefragt, so hätte sie geschworen – ja, geschworen – dass auch Johnny lächelte.
Denn, egal wie oft Jem ihr sagte, dass Säuglinge nicht lächeln konnten, Faith war der festen Überzeugung, dass sie sehr wohl dazu in der Lage waren und Jem sollte ihr doch bitte schön das Gegenteil beweisen, wenn er so etwas behauptete!
„Di schreibt, ihr Baby würde ihr nur Leid tun, aber Jonas findet das Ganze anscheinend unglaublich lustig", Anne schnaubte etwas.
„Ganz genauso wie euer Vater, als Jemchen geboren wurde. Ich war so wütend auf die Krankenschwester, als sie mir gesagt hat, dass du rote Haare kriegst, aber Gilbert hat nur gelacht und gelacht. Typisch Mann, wie Miss Cornelia sagen würde."
„Also, ich hätte nichts dagegen wenn mein Kleines rote Haare kriegt", warf Persis ein, „rothaarige Babys sind so unglaublich niedlich."
„Nicht wahr?", ereiferte sich Faith, gerade als Jem trocken bemerkte: „Das kannst du Mutter nicht antun, Persis. Drei rothaarige Enkel auf einmal? Das ist selbst für sie ein bisschen viel."
„Glaub mir, Persis", wandte sich Anne an die jüngere Frau, ihren Sohn komplett ignorierend, „das sagst du nur, weil du mit den goldenen Haaren deiner Mutter gesegnet bist. Das gleiche gilt für dich, Faith, auch wenn ich nicht weiß, wem du dein Haar zu verdanken hast."
„Meiner Großmutter Meredith", erwiderte Faith und zerwuschelte Johnny die bereits sehr dichten, roten Locken.
„Und nach Jem kamen dann ja noch Di und Rilla", griff Shirley ihr früheres Thema wieder auf, „muss ein harter Schlag gewesen sein, nicht Mutter?"
Anne lachte: „Ich hatte ja noch Nan. Und wenn man sich Rilla heute anguckt, kann man kaum glauben, dass sie einmal dieses molligen Mädchen mit feuerroten Haaren und dem Gesicht voller Sommersprossen war.
Als ich jünger war, war es immer mein innigster Wunsch, dass meine Haare über die Jahre zu braun nachdunkeln und meine Sommersprossen verschwinden, aber wirklich geglaubt habe ich es nie – und jetzt ist Rilla der lebende Beweis dafür, dass es doch möglich ist."
Wieder wurde die Küche mit Gelächter erfüllt, nur unterbrochen als Susan hereinkam. Sie war mit Anne auf Fairview gekommen und hatte es sich nicht nehmen lassen, Una bei der Wäsche zu helfen.
„Ich denke, liebe Frau Doktor", begann sie feierlich, „dass ich mich am besten jetzt verabschiede, damit der Herr Doktor und Sie pünktlich ihr Abendessen auf dem Tisch haben, wenn sie Heim kommen."
„Tu das, Susan", erwiderte Anne und wollte noch mehr sagen, aber Jem kam ihr zuvor.
„Und danach leg dich etwas hin", orderte er, ganz der besorgte Arzt, „mir gefällt es nicht, wie schwer du in der letzten Zeit arbeitest. Du siehst nicht ganz gesund aus."
„Das ist gar nichts", winkte Susan resolut ab, verabschiedete sich und machte sich auf den Rückweg. Die Erwachsenen in der Küche folgten ihr mit besorgten Blicken.
Susan war nach der knapp überstandenen Grippe nie mehr ganz die Alte gewesen und wirkte in der letzten Zeit noch müder und schlapper als sonst, wollte von einer Pause oder gar Urlaub aber gar nichts hören.
Nein, wenn man sie darauf ansprach, neigte sie sogar dazu, noch mehr zu arbeiten, weshalb die meisten es aufgegeben hatten, sie so direkt auf ihre Gesundheit hinzuweisen wie Jem es gerade getan hatte.
„Ich mache mir Sorgen um sie", gestand Anne jetzt, alles Lachen aus ihren Augen vergangen, und seufzte, „sie wird schließlich auch nicht jünger."
„Du kennst doch Susan", versuchte Shirley sie aufzuheitern, „die haut so schnell nichts um. In ein paar Tagen ist sie wieder gesund, du wirst sehen."
Aber in seiner Stimme lag mehr Hoffnung als wirkliche Überzeugung. Auch Anne nickte nur wenig überzeugt und war erleichtert, als Faith das Thema wechselte.
„Ich habe vorgestern einen Brief von Rilla bekommen. Sie scheint sich langsam mit ihrem Schicksal abzufinden. Ihr Brief auf jeden Fall klang richtgehend fröhlich und hoffnungsvoll. Nach diesem scheußlichen Streit letztes Jahr hat Ken sich wohl überlegt, er müsste praktisch noch mal um sie werben und ich denke, wir wissen alle, wie gut er darin ist", sie lachte leise.
„Anscheinend hat er tatsächlich sein Arbeitspensum heruntergeschraubt, überhäuft sie mit Geschenken und ‚kleinen Aufmerksamkeiten' und ist jeden Abend entweder zu Hause oder führt Rilla aus. Entweder sie gehen Essen oder auf irgendwelche Partys oder gucken sich Filme oder Theaterstücke an. Am liebsten mag sie aber Opern, schreibt sie."
„Ich finde immer noch, dass er sie in irgendeines dieser verwöhnten, gedankenlosen Luxusgeschöpfe verwandelt", bemerkte Jem mit gerunzelter Stirn, „ich meine, so viel Geld muss einen einfach verderben."
„Hey", protestierte Persis, „ich bin mit ‚so viel Geld' aufgewachsen und ich finde mich eigentlich nicht verdorben."
„Bist du auch nicht", versicherte Shirley seiner Frau, strich ihr beruhigend über den Rücken und warf seinem Bruder einen warnenden Blick zu. Schließlich war Persis hochschwanger und sollte sich bestmöglich nicht aufregen.
„Außerdem", wandte Faith sich halb amüsiert, halb herausfordernd an Jem, „wenn man dich so reden hört, könnte man denken, dass da die Stimme der Eifersucht spricht."
Jem lachte etwas verächtlich und griff nach einem weiteren Keks, um der Verlegenheit zu entkommen, antworten zu müssen.
Aber Faith achtete eh nicht mehr auf ihn, sondern hatte sich schon über Johnny gebeugt, der den Umschwung in der eben noch so ausgelassenen Stimmung gefühlt und jetzt angefangen hatte zu weinen.
„Ich glaube, ich lege ihn besser hin", bemerkte Faith nach einem Blick auf die Küchenuhr und stand auf, „die Zwillinge müssten auch langsam…"
Bevor sie den Satz beenden konnte, betrat Una die Küche.
„Es ist langsam Zeit die Mädchen ins Bett zu bringen", stellte sie fest.
Faith lachte: „Genau das wollte ich auch gerade sagen. Legst du sie hin? Dann kümmere ich mich um Johnny hier." Una nickte und lächelte.
„Joy, Merry! Schlafenszeit!", rief sie und streckte beide Hände nach den Mädchen aus. Merry, die ihre Tante verehrte, kam augenblicklich angelaufen, aber Joy schüttelte nur stur den Kopf, schmollte und blieb sitzen wo sie war.
Sie hatte die Rechnung allerdings ohne ihre Vater gemacht, der sich plötzlich zu ihr herunterbeugte, sich hochhob und sie wie ein Flugzeug durch die Luft fliegen ließ.
Sofort wurde der eingeschnappte Ausdruck auf dem Gesicht seiner kleinen Tochter zu einem voller purer Freude und sie schien auf einmal überhaupt nichts mehr dagegen zu haben, ins Bett gebracht zu werden.
„Wir gehen auch besser", bemerkte Shirley dann und half Persis hoch, bevor er Olli auf den Arm nach, „es ist doch ein recht langer Weg."
Er und Persis wohnten während ihres Urlaubs im Traumhaus, das im Moment nicht genutzt wurde, da alle Fords in Toronto waren, und sich somit anbot.
Jetzt verabschiedeten sich beiden von Anne, Shirley küsste seine Mutter auf die Wange und Sekunden später war Anne alleine in der Küche, ausgenommen nur die Gegenwart von Jamie, der auf dem Boden saß und versuchte zu puzzeln, obwohl er mit fünf Jahren wahrscheinlich noch etwas jung dafür war.
Als Anne neben ihm in die Knie ging, um ihm zu helfen, spürte sie einmal mehr, dass Bewegungen, dir ihr früher so leicht gefallen waren, heute schwerfällig und manchmal richtgehend schmerzhaft waren.
Auch ihr Haar war mittlerweile mehr silbern und grau als rot und die Falten, die begannen, sich in ihrem Gesicht auszubreiten, waren zu viele, als das man sie zählen konnte.
Und während sie so neben ihrem ältesten Enkel saß, den sechzigsten Geburtstag nur fünf kurze Wochen hinter sich, kam Anne Blythe sich alt vor.
