Tage, die waren und Tage, die sind
„Und? Wie geht es Susan?", fragte Anne besorgt, nachdem Gilbert in die Küche trat. Kaum, dass er sich gesetzt hatte, stellte Faith auch schon eine Tasse Tee vor ihm ab, die er mit einem müden Lächeln annahm.
Bevor er auf die Frage seiner Frau antwortete, trank Gilbert einen Schluck des Tees, blickte dann für einen Moment gedankenverloren hinunter auf die alte, oft gebrauchte Tischplatte mit ihren Schnitten und Flecken, Zeuge von Jahren voller Glück und Trauer, und seufzte leise.
„Was ist los, Dad?", drängte jetzt auch Jem seinen Vater zu einer Antwort.
Sie alle machten sich schon seit einigen Tagen große Sorgen um Susan, die immer schwächer und blasser zu werden schien, sich aber weigerte, ihr Arbeitspensum hinunterzuschrauben, sondern im Gegenteil stur noch härter und mehr arbeitete.
Es war natürlich gekommen, wie es hatte kommen müssen und kurz nach dem Mittagessen hatte sie plötzlich angefangen zu schwanken und war schließlich ohnmächtig geworden.
„Es ist ihr Herz", gab Gilbert nach einer weiteren Pause zu und drehte sich dann zu seiner Frau um, „es gibt nichts mehr, was wir für sie tun können."
Anne erbleichte, Jem setzte geräuschvoll seine Teetasse ab und Faith drückte Johnny an sich, beruhigende Worte murmelnd, als wäre es ihr Sohn, der beruhigt werden müsste und nicht sie selbst.
„Hätten wir es nicht kommen sehen müssen?", fragte in dem Moment Anne, ihre Stimme gequält und voll von Schuldgefühlen.
Wieder entstand eine Pause, bevor Gilbert langsam erwiderte: „Vielleicht. Aber selbst wenn wir früher Bescheid gewusst hätten, wir hätten nichts mehr für sie tun können. Susan ist nicht mehr die Jüngste, Anne, und die Grippe hat ihr und ihrem Herzen schwer zugesetzt.
Es ist möglich, dass ich, hätte ich ihr strenge Bettruhe verordnet, ihr Leben noch um einige Wochen hätte verlängern können, aber es zu retten lag nie in meiner Macht."
Anne wirkte etwas erleichterter, aber weder sie noch Gilbert sahen den zweifelnden Blick in Jems Augen.
Doch der schwieg, bis er seine beiden Eltern oben bei Susan und damit außer Hörweite wusste.
Erst dann wandte er sich mit gerunzelter Stirn an seine Frau: „Ich kann nicht glauben, dass das alles sein soll, dass ihr nicht mehr zu helfen war! Ich meine, wir sind Ärzte, Faith, wir sind dazu da, Leben zu retten. Es kann doch nicht sein, dass wir machtlos daneben stehen müssen, wenn jemand stirbt!"
Faith schwieg, wartete ab, einfach, weil sie wusste, dass es das Beste war, was sie tun konnte.
Tatsächlich fuhr Jem nach einigen Sekunden fort, ruhiger dieses Mal, gesetzter: „Ich glaube… ich glaube, es hätte einen Weg gegeben, sie zu retten. In den letzten Jahren sind wir weit gekommen in der Erforschung von Herzkrankheiten und…
Faith, du weißt am besten, wie sehr ich meinen Vater schätze und bewundere, aber ich glaube, dieses eine Mal hat er unrecht. Wenn er mir nur erlaubt hätte, nach Susan zu sehen und sie vielleicht in eine Klinik zu bringen… ich bin mir sicher, dass wir noch etwas für sie hätten tun können – vielleicht sogar jetzt noch."
„Weißt du, Jem", erwiderte Faith nachdenklich, legte den Kochlöffel zur Seite und stützte Johnny auf der Hüfte ab, „manchmal geht es nicht darum, ob man jemanden retten kann, sondern ob man ihn retten soll."
Jem fuhr herum und starrte sie ungläubig an. „Was… was sagst du da?", brachte er hervor.
Faith antwortete nicht sofort, sondern schmeckte erst die Soße ab, schüttete noch etwas Salz hinein und strich Johnny kurz über die roten Locken, bevor sie langsam erwiderte, ganz so, als müsste sie ihre Worte sehr genau wählen.
„Wenn mich der Krieg eines gelehrt hat, dann ist es, dass… dass man manchmal nicht intervenieren sollte. Ich meine, ja, vielleicht könnte ein Klinikaufenthalt Susans Leben verlängern, um ein paar Monate vielleicht oder auch ein Jahr, aber sie ist alt, Jem, fast achtzig.
Es mag grausam klingen, aber viel länger hat sie nicht mehr zu leben und ich glaube, dass sie lieber jetzt und hier stirbt, als monatelang still in einem Krankenhausbett zu liegen, ohne irgendetwas tun zu können, nur damit ihr Schicksal sie am Ende doch ereilt."
Für einen Moment schwieg Jem, offensichtlich sprachlos, dann, sehr langsam, fragte er: „Meinst du das… ernst?"
„Ja", erwiderte seine Frau knapp ohne zu zögern oder sich auch nur umzudrehen.
„Du meinst also, ich soll sie einfach sterben lassen, auch wenn es vielleicht eine Möglichkeit gibt, sie zu retten?", fragte er heftig.
„Nein, meine ich nicht", widersprach Faith ruhig, machte aber keinerlei Anstalten zu sagen, was genau sie denn jetzt meinte. Es bedurfte erst einer Nachfrage seitens ihres Mannes, bevor sie leise seufzte und zu erklären versuchte.
„Ich denke… ich denke, dass man wissen muss, wann Schluss ist. Es geht nicht immer nur darum, Menschen um jeden Preis am Leben zu erhalten."
Langsam drehte sie sich zu Jem um, sah ihn an und fragte leise: „Was, Jem, wenn sie dir dein Bein hätten abnehmen müssen? Was wäre dann gewesen? Hättest du dann verstanden, was ich meine?"
Für einen Moment starrte Jem sie nur an, blinzelte kurz und erkundigte sich schließlich betont locker: „Was kochst du da?" Und Faith wusste, dass er tatsächlich verstand.
Bevor sie allerdings auf seine Frage nach dem Essen antworten und das Thema damit auch von ihrer Seite aus für abgeschlossen erklären konnte, öffnete sich die Hintertür zum Garten und Shirley trat ein, Persis und Olli direkt hinter ihm.
„Mum hat gerade angerufen und gesagt, dass Susan krank ist?", Shirleys Satz kam wie eine Frage heraus. Jem und Faith tauschten einen Blick.
„Setz dich", ordnete Jem an, „du auch, Persis." Faith zauberte augenblicklich zwei Tassen heißen Tees hervor und stellte sie vor die beiden.
„Es ist ihr Herz", wiederholte Jem ohne es zu merken die exakten Worte seine Vaters – den Standardspruch, „es gibt nichts mehr, was wir für sie tun können."
„Das heißt…", begann Shirley langsam, brachte seinen Satz aber nicht zu Ende.
Jem nickte resigniert: „Sie wird sterben, ja." Eine kurze Pause, dann: „Es tut mir Leid."
„Was?", fragte Shirley, seine Stimme wieder voll des Zynismus, den er nach seiner Hochzeit weitgehend abgelegt hatte.
Jem runzelte die Stirn und schien zu überlegen, ob er scharf oder vorsichtig antworten sollte, aber Faith kam ihm zuvor.
„Persis? Alles in Ordnung mit dir?", fragte sie besorgt und trat näher an die jüngere Frau heran.
„Ich… na ja, ist wahrscheinlich nicht unbedingt der beste Zeitpunkt, aber ich glaube… ich glaube, mein Kind hat entschieden, genau jetzt auf die Welt zu kommen", gestand Persis und ihre Wangen färbten sich rosa.
Für einen Moment starrten die anderen drei sie nur an, dann hatte Jem die Situation im Griff.
„Shirley, bring sie nach oben. Dein altes Zimmer ist im Moment als einziges unbenutzt, bring sie also ruhig dahin. Faith, hol mir Handtücher und mach Wasser heiß. Du kennst das ja. Ich hole eben meine Sachen."
Sprach's und verschwand nach draußen. Augenblicklich nahm Faith Johnny und Olli, um beide hinzulegen und dann das Gewünschte zu besorgen. Persis ließ sich willenlos von ihrem Mann nach oben bringen, ihr Gesicht verzogen von den Schmerzen der Wehen.
Es wurde eine lange Nacht in Ingleside.
Gilbert wachte über Susan, Jem half Persis ihr Kind auf die Welt zu bringen, Anne versuchte Shirley zu beruhigen und Faith ging stundenlang mit Merry auf dem Arm auf und ab, die neben Bauchschmerzen auch noch Albträume hatte, in einem Versuch, sowohl das Kind als auch sich selbst zu beruhigen.
Es kam aber auch alles zusammen! Und ausgerechnet in so einer Nacht musste Merry, die normalerweise nie irgendwelche großen Probleme machte, Albträume bekommen.
Zudem war auch noch Una weg, bei Jerry und Nan in Souris, wo sie bleiben würde, bis Nan im Juni ihr eigenes Kind zur Welt bringen würde, hätte Nan doch im Gegensatz zu Faith selber keine Eltern und Schwiegereltern in der Nähe, die ihr mit den beiden Kleinkindern und dem Baby helfen konnten.
Faith seufzte. Natürlich wusste sie, wie schrecklich belanglos ihre Gedanken gerade waren, aber es machte alles so viel einfacher, an unwichtige Dinge zu denken.
Susan lag im Sterben und Persis in den Wehen… und obwohl sie es nicht wollte, konnte Faith nicht anders, als an Rillas Schicksal denken und beten, dass die Nacht nicht zwei Menschen fordern würde.
Sie tat es nicht.
Das Schwarz des Himmel klärte sich langsam zu einem bleigrau und die Vögel wachten auf, als Jem herunter kam. Für einen Moment blieb er stehen und betrachtete die Szene vor ihm.
Shirley saß in seinem Sessel, der Blick abwesend, eine Tasse mit Tee in der Hand, von dem Jem hätte schwören können, dass er längst kalt war. Anne war auf dem Sofa, anscheinend eingenickt, aber auf keinen Fall so tief schlafend, als das sie im Notfall nicht direkt einsatzbereit gewesen wäre.
Faith stand am Fenster, eine schlafende Merry an sich gedrückt und sah sich den Sonnenaufgang an. Sie bemerkte Jems Anwesenheit zuerst, drehte sich um und sah ihn fragend an.
„Es ist ein Mädchen", verkündete Jem. Faith lächelte, Shirley drehte sich um und Anne schreckte hoch.
„Ein gesundes kleines Mädchen", Jem grinste etwas, „und blond noch dazu. Aber keine Sorge, Mum, vielleicht hat Nans Kind ja deine Haare geerbt."
Alle lachten und es hatte etwas ungemein befreiendes an sich.
Shirley ging sofort hoch zu seiner Frau und Tochter, während Jem sich in einen Sessel setzte. Bevor er allerdings irgendetwas sagen konnte, kam Gilbert herunter.
„Ich befürchte, wir verlieren sie", gestand er resigniert. Sofort sprang Anne auf und lief nach oben, die anderen drei folgten.
Susan lag im Bett, wirkte schwach, aber merkwürdig friedvoll.
Faith hatte Recht gehabt, begriff Jem, Susan hatte ihren Tod längst akzeptiert, wahrscheinlich schon vor Wochen. Sie hatten es alle nur nicht sehen können – oder wollen.
Jem wollte etwas sagen, doch da klopfte es und Shirley erschien in der Tür, eine blasse, aber entschlossene Persis stützend, die ihrerseits ein kleines, goldenes Baby im Arm hielt.
„Wir haben beschlossen, sie Susan zu nennen", verkündete Shirley mit belegter Stimme, als er das Kind nahm und es in Susans Arme legte.
Und Susan, ganz als hätte sie nur hierauf gewartet, lächelte auf das Baby hinab, seufzte leise und schloss dann für immer die Augen.
Und so kam es, dass am 5. Mai des Jahres 1926 Susan Baker für immer diese Welt verließ, aber nicht ohne vorher ein kleines Mädchen darin willkommen zu heißen, das die Enkeltochter war, von der Susan geglaubte hatte, dass sie sie niemals haben würde.
- Fin -
