4. Leben erfüllt Ingleside

Da Shirley mit seinen Geschwistern, sowie seiner Frau bis zur Teezeit unterwegs waren, blieben auch die Besucher so lange und in aller Eile musste nun eine Tasse Tee nach der anderen von Susan aufgebrüht werden. Dazu wurden Kekse gereicht, die sie in aller Eile seit dem Mittagessen gebacken hatte. Eine weitere Fuhre Zitronentörtchen, die Miss Cornelia mitbrachte, rettete die Teetafel vor einem allzu kärglichen Anblick. Niemand achtete indessen darauf was an kulinarischem gereicht wurde, da ausnahmsweise einmal Menschen den Höhepunkt einer Versammlung bildeten.

Ganz erschöpft sank Susan auf einen Küchenstuhl, als endlich der letzte Besucher gegangen war. Ruth und Rilla beendeten den Abwasch und setzten sich dann zu ihr.

„Ich wüsste nicht, was ich ohne euch Mädchen gemacht hätte", sagte die Haushaltsperle, was ihre Art war „Danke schön" zu sagen.

„Nun werde ich kurz verschnaufen und dann in Carter Flaggs Laden einkaufen gehen, damit für das Abendessen etwas im Haus ist", meinte sie dann.

„Rilla und ich könnten das doch erledigen", schlug Ruth vor, die sich gern weiter nützlich machen wollte. Ihre Schwägerin nickte zustimmend.

„Das würdet ihr tun? Das ist sehr lieb von euch. Da schaue ich gleich einmal nach, was wir brauchen und schreibe einen Zettel."

Im Wohnzimmer saßen derweilen Shirley und seine Mutter bei einander. Walther, den der Nachmittag sehr angestrengt hatte, war auf sein Zimmer gegangen, um sich auszuruhen.

„Du hast uns noch gar nicht erzählt, wie du deine Ruth kennen gelernt hast", sagte Anne.

„Ich habe sie in einem Lazarett getroffen. Aufgrund ihrer Fremdsprachenkenntnisse hat man sie nach Kriegsende in ein englisches Feldlager geholt, weil es zu wenig Hilfspersonal gab. Ich habe dort zwei Kameraden meiner Staffel besucht, die bei einer Notlandung verletzt worden waren und mit denen ich sehr gut befreundet war. Sie legte gerade einem von ihnen einen neuen Verband an und wie ich sie das erste Mal sah, traf es mich wie ein Blitz. Als Ruth dann zu mir aufblickte, war es um mich geschehen. Aber es war gar nicht so leicht sie zu einem Treffen zu überreden. Meine Kameraden unterstützten mich aber tatkräftig und so ging sie wenigstens erst einmal einen Spaziergang mit mir machen."

„Und schließlich hast du sie von deinen Qualitäten überzeugt", schloss Anne aus der Tatsache, dass Ruth nun eine Blythe war.

„Ja, aber nur weil ich ihr nach Berlin folgte, als das Lager im Januar aufgelöst wurde. Ich ließ sie einfach nicht mehr aus den Augen und meine Hartnäckigkeit muss sie wohl überzeugt haben. Als ich sie zum zehnten Mal bat meine Frau zu werden, stimmte sie endlich zu. Wir heirateten im Juni in ihrer Heimat, damit ihre Mutter und ihre Schwester dabei sein konnten. Der Abschied fiel ihr nicht leicht und ich wollte, dass auch ihre Familie nicht an meinen ehrlichen Absichten zweifelt."

„Ich glaube du hast eine gute Wahl getroffen mit deiner Ruth. Und wie habt ihr euch eure Zukunft vorgestellt?" wollte sie wissen.

„Wenn wir uns eingelebt haben, möchte ich ihr gern Green Gables und Avonlea zeigen. Es soll eine Art Flitterwochen werden. Und dann gehen wir nach Charlottetown. Dort soll ein kleiner Flughafen errichtet werden. Die Beförderung von Gütern per Flugzeug gewinnt an Interesse und ich kann fliegen! Ich möchte meine Ausbildung nutzen und Kapitän so eines kleinen Güterflugzeuges sein. Ich habe schon Kontakt zu den entscheidenden Leuten aufgenommen und habe gute Aussichten, dass meine Pläne sich verwirklichen lassen."

„Ich bin stolz auf dich", sagte seine Mutter und strich ihm liebevoll über die Wange.

„Auch wenn Susan sich immer mehr um dich gekümmert hat, so stehst du meinem Herzen doch genauso nah, wie deine Geschwister."

„Das weiß ich doch Mutter. Der Gedanke an dich war es, der mich im Krieg durchhalten lassen hat. Und der Gedanke an Vater, der mich so tapfer hat gehen lassen. Na ja und zuletzt musste ich auch für Susan zurückkommen und wenigstens noch einmal ihre Windbeutel probieren."

Als Rilla und Ruth vom Einkaufen zurückkehrten, trafen sie am Tor auf zwei junge Frauen, die aus der Gegenrichtung gelaufen kamen. „Nan, Di", rief Rilla, die ihre Schwestern sofort erkannte. „Wie kommt ihr den so plötzlich hier her?" fragte sie ungläubig.

„Mit dem Abendzug", antworteten die Zwillinge, die sich so gar nicht ähnlich sahen, aus einem Mund.

Rilla stellte ihnen Ruth vor und waren sichtlich erstaunt plötzlich eine Schwägerin zu haben. Das Shirley geheiratet hatte, davon hatte ihre Mutter ihnen nichts berichtet. Gemeinsam ging man ins Haus und während die Zwillinge ihren jüngeren Bruder begrüßten, verstauten Rilla und Ruth die Einkäufe. Man klärte Nan und Di genauer über Walthers Zustand auf, damit sie wussten, wie sie ihm begegnen sollten.

„Aber wie kommt es, dass ihr so einfach zum Montag nach Hause kommt", wollte Anne wissen, als sie mit ihren Töchtern im Wohnzimmer saß.

„Ich habe mir kurz entschlossen Urlaub genehmigt", erklärte Di. „Miss Carson, die Geschichtslehrerin kann meine Stunden übernehmen und Sonntagabend fahre ich zurück nach Summerside."

„Ich habe meinen Schülern einfach Aufgaben für Zuhause gegeben und einen großen Aufsatz in Arbeit gegeben, nachdem Mrs. Nox mir deine Nachricht überbracht hatte. Sie kümmert sich auch um Green Gables und wie Di fahre ich Sonntag nach Avonlea zurück", sprach Nan.

„Die Frau des Pfarrers ist persönlich bei die in der Schule erschienen", wunderte sich Anne.

„Ja, damit sie auf dem Weg ganz Avonlea davon erzählen konnte", berichtete Nan lachend.

Zum Abendessen war auch Gilbert wieder zu Hause, der sich sehr freute, dass seine Töchter so überraschend zu Besuch gekommen war. Er hatte unterwegs John Meredith getroffen und seine Familie zum Essen eingeladen. Susan hätte über die plötzliche Menschenansammlung, denen sie ein Essen vorsetzen sollte, die Hände zusammengeschlagen, hätte nicht Rosemary Meredith einen Salat und kalten Braten zum Festmahl beigesteuert. Und so saßen nun im Speisezimmer von Ingleside die Familie Blythe, ausgenommen Jem, und Rosemary und John Meredith mit ihren Kindern Faith und Bruce. Susan servierte den elf Personen, speiste aber in der Küche, trotz allen Einladungen sich mit an die Tafel zu setzen.

Nach dem Essen durfte Susan dafür ausruhen, den die Zwillinge erledigten den Abwasch. Rilla servierte derweilen ihren Eltern und den Merediths Tee im Wohnzimmer. Shirley war mit seiner Liebsten einen Abendspaziergang machen und Walther hatte sich zurückgezogen. Mit den vielen „fremden" Menschen in einem Raum fühlte er sich unwohl, auch wenn er spürte, das sie alle ihn mochten und es gut mit ihm meinten. In mancher Minute sehnte er sich fast nach dem beschaulichen Klosterleben zurück. Die Gedichte, die Rilla ihm gegeben hatte und die er selbst einst verfasst haben sollte, weckten kein Erkennen in ihm. Fast krampfhaft versuchte er Erinnerungen herauf zu beschwören, aber es gelang ihm nicht. Und im Stillen verzweifelte er fast daran, dass sein Leben, das seit 26 Jahren währte, für ihn nur aus drei Jahren bestand, den drei Jahren, seit er im Kloster wieder erwacht war.

Als Ingleside sich in tiefer Nachtruhe befand, lagen Anne und Gilbert noch wach bei einander.

„Ob Walther sich je wieder an uns erinnern kann?" fragte sie ihn. Diese Frage hatte sie in den wenigen ruhigen Minuten den ganzen Tag über gequält.

„Vom medizinischen Standpunkt aus könnte ich das erst nach einer Untersuchung beurteilen."

„Ist es wie damals bei George West", versuchte Anne eine Parallele zu finden, die ihr Hoffnung machen könnte.

„Wäre es eine rein körperliche Verletzung wie bei West, dann ja. Der Gedächtnisverlust könnte auch seelisch bedingt sein aufgrund der erlebten Schrecken. Dann kann nur die Zeit die Wunden heilen und das Gedächtnis vielleicht zurückkehren."

Der nächste Morgen begann schon wieder ganz gewöhnlich. Am Frühstückstisch versammelte sich fast der gesamte Blythe- Clan, der durch Shirley nun um eine Person angewachsen war. Mit einem glücklichen Lächeln, wie Gilbert es lange nicht an seiner Anne gesehen hatte, schaute sie in die Runde. Aber auch sein Gesicht hatte etwas an jugendlicher Frische zurückgewonnen und mit neuer Tatkraft ging er an sein Tagewerk.

Nachdem Rilla beim Abwasch geholfen hatte, ging sie nach oben und klopfte an Walthers Tür. Er bat sie herein und langsam öffnete sie die Tür. Ihr Bruder lag auf dem Bett und starrte an die Decke.

„Es ist ein schöner Tag, vielleicht einer der letzten in diesem Jahr. Möchtest du mich ins Regenbogental begleiten? Wir müssen auch nicht reden. Ich wollte sowieso einen Brief schreiben. Aber ich würde mich über deine Gesellschaft freuen."

Er dachte kurz nach. „Ja, gut, ich komme mit. Rilla, welches dieser vielen Bücher habe ich am liebsten gemocht?" fragte er, auf das Bücherregal deutend.

Sie ging an das Bord und zog auf Anhieb einen abgegriffenen Band heraus. Mit den Gedichten hatte sie sich nach der Nachricht von seinem Tod oft getröstet. Deshalb wußte sie nun genau, wo es stand. Kurze Zeit später verließen die beiden schweigend das Haus und gingen ins Regenbogental. Rilla war froh, dass sie niemanden begegneten. Fremde Menschen hätten vielleicht den Ausdruck von Entspannung auf Walthers Gesicht verscheucht. An ihrem Ziel angekommen, setzten sie sich auf zwei nahe bei einander liegende Steine unter die „Drei Liebenden". Rilla nahm ihr Schreibzeug zur Hand, während Walther sich eine zeitlang umsah, bevor er sich in das mitgebrachte Buch vertiefte.

Rilla schrieb:

Mein liebster Kenneth,

ein Tag verging ohne das ich dir schrieb, aber soviel ist geschehen. Während du bei deinen Eltern bist und den Weg für unsere Zukunft ebnest, hat sich für uns eine Welt geändert. Shirley ist mit einer Braut heimgekehrt und hat Walther mitgebracht. Ja, du liest recht. Mein liebster Bruder Walther, um den wir alle so sehr getrauert, ist wieder da.

Nun füllte sie ihre Seiten mit Shirleys Bericht bis ihr die Hand schmerzte.

Jetzt ist nach der ganzen Aufregung wieder Ruhe eingekehrt in Ingleside. Heute nachmittag widme ich mich meiner Näharbeit, damit du dich der Aussteuer deiner Braut nicht schämen musst. Ich wünschte du wärest hier, um meine Freude mit mir zu teilen, so wie du mir in meiner Trauer beigestanden hast. Du fehlst mir mehr, als Worte sagen können.

Deine dich immer liebende Rilla

Als sie aufsah, bemerkte sie, dass Walther seine Augen auf sie gerichtet hatte.

„Wem schreibst du?" , fragte er. „Dein Gesicht strahlte vor Liebe und Glück bei dem Gedanken an den Empfänger des Briefes."

„Meinem Verlobten Kenneth."

„Erzählst du mir von ihm?" bat Walther schüchtern, da er nicht wußte, aber er ihr mit dieser Bitte zu nahe trat.

„Kenneth ist der Sohn von Mutters Freundin Leslie und ihrem Mann Owen. Er und seine Schwester Persis haben im Sommer mit uns im Regenbogental gespielt und Jem und du, ihr wart sehr gut mit ihm befreundet. Ich hatte schon immer eine Schwäche für ihn. An dem Tag, als in Europa der Krieg ausbrach, waren wir alle zu einer Party am Leuchtturm. Da tanzte er mit mir und wir unterhielten uns stundenlang. Er konnte wegen einer Beinverletzung erst später in die Armee eintreten und bevor er von hier fortging, kam er auf einen letzten Besuch. Ich war allein, so wie er es gewünscht hatte und da nahm er mir das Versprechen ab bis zu seiner Rückkehr keinen anderen zu küssen. Ich wußte nicht so recht, was ich davon halten sollte. Aber seine Briefe zeigten mir, dass er wohl mehr für Freundschaft für mich empfand. Und dann kehrte er heim und fragte mich, ob ich immer noch seine Rilla bin. Du nanntest mich immer Rilla-meine-Rilla und diesen Kosenamen übernahm er. Ich sagte „Ja".

Er blieb 14 Tage bei seinen Verwandten in Lowbridge und kam Tag für Tag. Wir saßen dann hier im Regenbogental und er sprach von den schlimmen Jahren im Krieg. Es tat ihm gut und er half mir über die Trauer hinweg zu kommen, die ich wegen deines angeblichen Todes empfand. Am vorletzten Abend als wir hier saßen, kniete er sich plötzlich vor mich und sagte:

„Rilla-meine- Rilla, der Gedanke an dich hat mich diesen Wahnsinn überstehen lassen. Die letzten Tage mit dir haben mir geholfen ihn zu verarbeiten. Du bist kein kleines Mädchen mehr, du bist eine Frau geworden. Eine Frau, die viel Leid ertragen hat und einem Mann trotzdem neue Kraft geben kann. Ich liebe dich. Ich habe dich schon geliebt, als ich ging, wollte dich aber nicht durch ein Versprechen an mich binden, für den Fall, dass ich nicht zurückkehre. Heute liebe ich dich noch tausend Mal mehr und kann mir mein Leben ohne dich nicht vorstellen. Möchtest du meine Frau werden?"

Abends hat er bei Vater um meine Hand angehalten und seitdem sind wir offiziell verlobt. Ich nähe gerade so oft ich kann für meine Aussteuer. Wir wollen nächstes Jahr heiraten. Seine Eltern schenken uns zur Hochzeit das Traumhaus. Dort werden wir dann wohnen."

„Was ist das Traumhaus?" fragte Walther, der schweigend zugehört hatte.

„Es steht nahe dem Leuchtturm draußen. Unsere Eltern haben darin gewohnt als sie nach Glen kamen und Jem wurde dort geboren. Bevor du zur Welt kamst, zogen sie dann nach Ingleside und die Fords, also Kenneth´s Eltern, haben es als Sommerhaus gekauft. Sie leben in Toronto, wo Kenneth´s Vater herstammt."

„Ich sehe, du hast wie Shirley dein Glück gefunden", stellte er fest.

„Wir alle können erst wieder richtig glücklich sein seit wir wissen, dass du lebst", sagte Rilla sehr ernst.

Walther spürte wie aufrichtig sie es meinte.

„Und wie steht es bei unseren anderen Geschwistern um ihr Herz?" fragte er, da er sich plötzlich ganz vertraut mit ihr fühlte.

„Jem ist mit Faith Meredith verlobt, Nan mit ihrem Bruder Jerry. Auch sie wollen nächstes Jahr heiraten. Di hat wohl keinen Verehrer, so weit ich weiß. Auch vor dem Krieg hat sie uns gegenüber nie etwas von Herzensdingen verlauten lassen. Dem einzigen, den sie sich anvertraut hätte, wärest du gewesen, Walther."

„Und gibt es ein Mädchen, dass auf mich wartet?"

Rilla musste über diese Frage nachdenken. Sie wußte von Una´s Gefühlen für ihren Bruder. Wie seine Gefühle für sie aber ausgesehen hatten, konnte sie nicht sagen. Sie entschloss sich deswegen für eine diplomatische Antwort:

"Du hast dir mit Una Meredith Briefe geschrieben. Mehr kann ich dir nicht sagen."

„Glaubst du ich hatte Gefühle für sie?"

„Wenn es so wäre, würdest du es merken, wenn du sie wieder triffst."

„Warum war sie gestern nicht mit zum Essen? Sie gehört doch zur Familie des Pfarrers?"

„Sie besucht die Hauswirtschaftsschule in Charlottetown." erklärte Rilla. „Am Wochenende wird sie sicherlich heimkommen. Vielleicht ergibt sich dann eine Gelegenheit für dich sie kennen zu lernen."

Sie blieben noch eine Weile schweigend sitzen. Eine Art Vertrautheit hatte sich eingestellt und Walther fühlte sich in der Gegenwart seiner jüngsten Schwester richtig wohl. An sie konnte er sich guten Gewissens mit seinen Fragen wenden, dass wußte er nun. Als die Sonne den mittäglichen Zenit erreichte, kehrten sie einträchtig zum Mittagessen heim. Als Walther und Rilla durch die Haustür von Ingleside traten, hörten sie, wie die Zwillinge sich im Wohnzimmer mit einem Mann unterhielten. „Das ist Jem", rief Rilla und rannte hinein. Walther folgte ihr langsam und sah noch, wie sich sein ältester Bruder aus ihrer stürmischen Umarmung befreite.

„So freundlich hast du mich lange nicht begrüßt, Spinne" neckte er sie.

Dann blickte er auf und wurde ernst.

„Walther, ich kann es immer noch nicht fassen. Aber hier stehst du leibhaftig vor mir."

Er ging auf seinen Bruder zu und die beiden begrüßten sich mit einem kräftigen Händedruck, der Walther einen wohligen Schauer des Erkennens über den Rücken laufen ließ.

„Müsstest du nicht in Kingsport sein?" fragte ihn Rilla nun.

„Mein Professor hat mir für die Familienzusammenführung die restliche Woche freigegeben, wenn ich fleißig Eigenstudium betreibe."

„Nun sind wir alle wieder zusammen", jubelte Rilla und drehte sich vor Freude einmal im Kreis.

„Und Faith wird sich freuen über das unerwartete Vergnügen dich zu sehen", neckte sie ihren größten Bruder.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Walther wurde ganz selbstverständlich in alle Aktivitäten integriert und fühlte sich seiner restlichen Familie gegenüber auch bald nicht mehr so fremd. Er unterhielt sich viel mit Rilla, die aus ihrer gemeinsamen Jugend erzählte und immer neue Geschichten zu berichten wußte.

5. Ein Wiedersehen

Am Freitagabend kam Rilla von einer Besorgung, die sie für Susan in Carter Flaggs Laden erledigt hatte, und traf Una Meredith, die gerade vom Bahnhof nach Hause lief.

„Rilla", rief sie und ihre Stimme klang dünn wie die einer Ertrinkenden.

„Una, du siehst ja furchtbar aus", stellte ihre Freundin erschrocken fest.

Das jüngste Meredith- Kind war schon immer etwas blass gewesen, aber nun erschien ihr Teint fast durchsichtig.

„Ist es wirklich wahr?" fragte sie mit bebender Stimme und ergriff Rillas Hand.

„Ja, es ist wahr. Aber Walther ist nicht mehr der Alte", erklärte Rilla.

„Der Krieg verändert die Menschen, ich weiß."

„Nein, er hat das Gedächtnis verloren", sagte Rilla und erzählte Walthers Geschichte.

Als sie zum Schluss von Walthers Frage im Regenbogental berichtete, kehrte etwas Farbe in Una´s Gesicht zurück.

„Komm morgen Vormittag vorbei und ich sorge dafür, dass du ihn ohne großen Menschenandrang wieder sehen kannst", versprach Rilla, die nun schnell nach Hause musste.

Una Meredith ging sehr langsam nach Hause. So sehr ihr Herz auch jubelte, dass Walther am Leben war, so sehr bangte es sie doch vor dem Wiedersehen.

Am Samstagmorgen regnete es in Strömen und keiner hatte Lust das Haus zu verlassen. Verzweifelt überlegte Rilla, wie sie eine ungestörte Begegnung zwischen Una und Walther arrangieren sollte. Zum Glück verabschiedete sich wenigstens Jem, um seine Braut im Pfarrhaus zu besuchen, und nahm Nan mit, da Jerry zum Mittagessen angekündigt hatte. Er hatte sich kurz entschlossen zu einem Wochenendbesuch angesagt, als er hörte, dass seine Verlobte zu Hause sei. Shirley und Ruth hatten sich auf ihr Zimmer begeben und Gilbert würde vorm Mittagessen kaum aus dem Arbeitszimmer zurückkehren, wo er sich in eine medizinische Abhandlung vertieft hatte. Blieben noch Susan, Di und ihre Mutter zu beschäftigen. Sie bat Susan ein paar Windbeutel zu backen mit der Ausrede, dass Walther sie sich gewünscht hätte. Die Haushaltsperle machte sich auch sofort an die Arbeit, bemerkte aber, dass sie keine Sahne für die Füllung hätte. Daraufhin bat sie Di darum in Carter Flaggs Laden Sahne zu besorgen und Anne beschloss ihre Tochter zu begleiten und unterwegs bei Mary Vance Douglas vorbeizuschauen, die vor drei Tagen von einem Mädchen entbunden worden war. Schnell rief Rilla nun im Pfarrhaus an, um Una herbei zu rufen. Dann ging sie nach oben und klopfte bei Walther.

„Leistest du mir unten etwas Gesellschaft? Alle anderen sind unterwegs und ich finde es so traurig allein zu sitzen. Du könntest mir vorlesen, während ich nähe."

Walther tat ihr gern den Gefallen und so saßen die beiden zusammen im Wohnzimmer, als Una kurze Zeit später mit bangem Herzen in der Tür stand. Da die Meredith- Kinder wie selbstverständlichen im Ingleside- Haus ein- und ausgingen, kündigten sie sich nie durch Klingeln oder Klopfen an und so stand Una nun schon kurze Zeit unbemerkt da. Ihr Herz klopfte ihr so stürmisch bei Walthers Anblick, dass sie sich wunderte, dass man sie deswegen nicht schon eher bemerkt hatte. Als Rilla sie nun sah, erhob sie sich und ging auf sie zu.

„Una, wie schön das du Zeit für uns hast. Leider sind alle anderen außer Walther und mir beschäftigt", sagte sie und zwinkerte ihrer Freundin dabei verschwörerisch zu.

„Walther, das ist Una Meredith", stellte sie vor und schob Una ein wenig in den Raum.

„Gib mir deinen Mantel, ich hänge ihn auf."

Als Rilla von der Garderobe zurückkehrte, stand Una noch immer wie erstarrt. Walther sah sie nur an und sagte kein Wort.

„Was ist den los?" fragte Rilla, um einen scherzenden Ton bemüht. „Setzt dich zu mir, Una, ich muss dir unbedingt die Tischdecke zeigen, an der ich gerade sticke. Walther liest mir zur Unterhaltung vor."

Mit diesen Worten zog sie die Freundin neben sich auf das Sofa und forderte ihren Bruder mit dem Blick ihrer Augen auf, weiter zu lesen. Walther räusperte sich und begann mit der Lektüre. Una musste sich zwingen ihn nicht weiter anzustarren, konnte sich aber nur schwer auf den neuen Stich konzentrieren, den Rilla ihr zeigte. Auch Walther konnte sich seit dem er einen Blick auf Una geworfen hatte nicht mehr ganz auf das Buch konzentrieren. Immer wieder verlangte es ihn sie ansehen und manchmal trafen sich ihre Blicke dabei. Dann schauten sie beide jedes Mal verlegen wieder weg. Für so ein Mädchen müsste doch das Herz eines Jungen schlagen, dachte er bei sich. Wie er mich ansieht, das hat er früher nie getan, überlegte sich Una.

Die Dreisamkeit indessen währte nicht lang. Di kehrte von der Besorgung zurück und gesellte sich zu ihnen, nachdem sie Susan die Einkäufe gebracht hatte.

„Wie schön dich zu sehen, Una", begrüßte sie sie die jüngere Freundin, um sie dann sogleich über die Hauswirtschaftsschule auszufragen. Schüchterner als es sonst ihre Art gegenüber Freunden war, erteilte sie Auskunft. Di wunderte sich im Geheimen darüber, Walther allerdings fand es sympathisch, entsprach es doch seiner momentanen Verfassung viel mehr als das Geplauder der sonstigen Mädchen, die die Zwillinge besuchten. Als die Standuhr zwölf schlug, sprang Una wie von einer Tarantel gestochen auf.

„Ich muss heim, wegen des Mittagessens", sagte sie eilig und war schon fast aus dem Zimmer hinaus, als sie bemerkte, dass sie sich gar nicht richtig verabschiedet hatte.

„Du kannst doch bei uns Mittagessen, wo Jem und Nan sich bei euch den Bauch voll schlagen", schlug Di vor.

„Nein, ich muss Rosemary doch in der Küche helfen. Faith wird heute nur Augen und Hände für Jem haben. Da möchte ich sie ungern im Stich lassen. Auf Wiedersehen, Walther", sagte sie und reichte ihm kurz die Hand. Nachdem sie auch Di einen kurzen Abschiedsgruß zugeworfen hatte, stand sie schon im Flur. Rilla, die ihr gefolgt war, half ihr in den Mantel.

„Das wird schon", tröstete sie Una, in deren Augen die pure Verzweiflung über diesen, in ihren Augen, misslungenen Vormittag stand.

Als sie auf der Straße stand, atmete sie erleichtert auf und ging dann schnellen Schrittes nach Hause. Dabei war sie so in Gedanken, dass sie nicht einmal Walthers Mutter bemerkte, an der sie vorbeikam.

Zum Abschluss des Mittagessens servierte Susan als Höhepunkt ihre Windbeutel.

„Du bist aber heute verschwenderisch", neckte Anne sie.

„Wo unser Walther die sich doch gewünscht hat, liebe Frau Doktor."

Rilla blieb fast das Herz stehen bei diesen Worten, aber ihr Bruder war zu sehr in Gedanken vertieft. So blieben Rillas Bemühungen die anderen Familienmitglieder zu beschäftigen, unbemerkt.

Den Kirchgang am Sonntagmorgen traten die Blythes geschlossen an und es war schon ein beachtliches Grüppchen, das sich da samt Susan in das Gotteshaus begab. Dieses platze am Morgen sprichwörtlich aus allen Nähten, gab es schließlich einen „Wiederauferstandenen" zu bestaunen. Pfarrer John Meredith hatte die Erinnerungsplatte im Blythchen Kirchenstuhl entfernt, woran sonst niemand gedacht hatte. Da er an diesem Sonntag aufgrund der anwesenden Sensation mit wenig Aufmerksamkeit rechnete, hatte er auch den Bibeltext und seine Predigt wenig anspruchsvoll gestaltet.

Walther kam es wie ein Spiessrutenlauf vor, als ihm nach dem Gottesdienst von allen Seiten zu seinem Überleben gratuliert wurde. Als er die schützenden Mauern von Ingleside erreichte, begab er sich sofort in die Einsamkeit seines Zimmers, das er nur mit Jem teilen musste. Dieser war aber mit Faith zu den Merediths gegangen. Nur Rilla traute sich ihrem Bruder in die Abgeschiedenheit zu folgen. Sie sah den Anflug von Verzweiflung in seinen Gesichtszügen.

„Du musst dir Zeit lassen, Walther. Irgendwann wird dir alles wieder einfallen", tröstete ihn Rilla.

„All diese Menschen kennen mich seit ich klein bin, aber ich selbst, ich selbst kenne mich nicht. Wenn ich in den Spiegel schaue, frage ich mich: Wer bist du? Was war los in deinem Leben? Und ich komme einfach nicht dahinter. Nicht der Hauch einer Ahnung", rief er voller Verzweiflung.

„Vielleicht hilft es dir, wenn du deine Gedanken aufschreibst. Früher hast du deine Gefühle in Gedichten ausgedrückt. Wenn du es niederschreibst, öffnest du vielleicht deine Sinne für das, was du vergessen zu haben scheinst", schlug Rilla vor, dann ließ sie ihn allein.

Am Abend reisten Di, Nan und Jem wieder ab und es wurde ruhiger im Haus. Auch Una kehrte mit dem Abendzug nach Charlottetown zurück. Sie hatte Walther nur kurz am Bahnhof gesehen und war erleichtert, das sie in den nächsten Wochen ein wenig Distanz zu ihm hatte, um über ihn und ihre Gefühle nachzudenken.

6. Ein Jahrzehnt neigt sich dem Ende zu

Der November brachte den ersten Frost. Bei strahlend blauem Himmel war es so kalt, dass einem der Atemhauch vor dem Mund stand.

Walther fühlte sich inzwischen fast heimisch in Ingleside, nachdem er gut einen Monat wieder zu Hause war. Shirley hatte nur darauf gewartet und reiste nun mit Ruth nach Avonlea, wo er bis Weihnachten bleiben wollte.

„Es ist plötzlich seltsam ruhig im Haus", stellte Walther fest, als er nur mit seiner Mutter allein am Kaminfeuer saß.

„Es gab Zeiten, da habe ich diese Stille kaum ausgehalten", erwiderte Anne und dachte an die schreckliche Zeit nach der Nachricht von Walthers Tod. „Jetzt kann ich sie dagegen schon fast wieder genießen."

„Shirley und ich haben ganz schönen Wirbel in euren Alltag gebracht, als wir heimkehrten."

„Einen Trubel, den wir alle hier um nichts in der Welt missen möchten."

Rilla kam vom Einkaufen und brachte einen frischen Windzug eiskalter Luft mit herein, sowie die neuste Zeitung. Sie gab sie ihrer Mutter und holte sich rasch eine Tasse Tee zum Aufwärmen aus der Küche. Dann kuschelte sie sich neben Anne auf das Sofa und fragte:

„Was gibt es Neues in der Welt?

Früher hatte sie sich nie für Zeitungsmeldungen interessiert, aber im Krieg hatte sie wie alle anderen auf jede Nachricht gelauert. Und seit dem wieder Frieden in Europa herrschte, hatte sie sich geschworen weiter die Zeitung zu lesen, um zu wissen was sich in der Welt tat. War sie schon keine studierte Frau, so sollte ihr Kenneth wenigstens eine bekommen, die wußte was um sie herum vorging.

„Es gibt gute Nachrichten. Die Regierung hat die Sparpläne aufgehoben. Die Ernten waren dieses Jahr gut und die Verträge mit dem Ausland sind geregelt."

„Da kann Papa ja endlich wieder sein Automobil aus dem Winterschlaf holen. Es tat mir jedes Mal leid, wenn ich seinen wehmütigen Blick darauf sah."

„Was hälst du davon, wenn du es mit Walther aus seiner Verpackung befreist und ein wenig putzt. Das wäre eine schöne Überraschung für euren Vater, wenn er von seinen Hausbesuchen zurückkehrt."

Rilla war sofort Feuer und Flamme für diesen Vorschlag und steckte mit ihrer Begeisterung auch Walther an. Und so waren sie bis zum Mittagessen damit beschäftigt das Automobil zu enthüllen, zu reinigen und auf Hochglanz zu polieren. Dann schoben sie es vor den Stall in den strahlenden Novembertag.

Als Gilbert am Nachmittag heimkam, wurde er von seinen Kindern schon sehnsüchtig erwartet, wollten sie doch sein Gesicht angesichts der Überraschung sehen. Wie die kleinen Kinder, die Ausschau nach dem Weihnachtsmann hielten, waren sie abwechselnd zum Fenster geeilt. Als Rilla ihren Vater nun die Hauptstrasse hochfahren sah, stürmten sie hinaus. Gilberts freudig überraschtes Gesicht entschädigte sie für ihre Mühe, auch wenn er nicht gleich verstand, warum das Automobil zum Vorschein gebracht worden war. Als seine Anne ihm dann von der Zeitungsmeldung berichtete, freute er sich um so mehr.

Als alle beim Tee saßen, schlug Dr. Blythe vor am Sonntag nachmittag eine kleine Fahrt im Automobil zu machen. Alle stimmten dem Vorschlag begeistert zu und am Sonntag war auch noch einmal strahlender Sonnenschein für die Ausfahrt. In dicke Mäntel und Decken gehüllt saßen die fünf Inglesider im Automobil und fuhren eine Runde durch Glen und bis nach Lowbridge.

Die letzten Novembertage brachten Dauerregen und man konnte kaum auf die Straße gehen ohne fortgeschwemmt zu werden. Gilbert steckte Hals über Kopf in Arbeit, da viele erkältet das Bett hüteten und nach dem Doktor riefen. Zum Glück waren nur zwei Besorgnis erregende Fälle von Lungenentzündung dabei, trotzdem bemerkte Anne eine gewisse Nachdenklichkeit bei ihrem Mann, die sonst nur vorkam, wenn er eine schwierige, medizinische Entscheidung zu fällen hatte.

Eines Abends Anfang Dezember saßen Anne und Gilbert allein vor dem Kaminfeuer. Susan, Rilla und Walther hatten sich schon zu Bett begeben, da beschloss Anne der Sache auf den Grund zu gehen.

„Was beschäftigt dich so, Gilbert? Seit Wochen grübelst du über einem Problem, aber bisher hast du dich mir nicht anvertraut. Geht es um einen Patienten, dass du die Angelegenheit nicht mit mir besprechen kannst?"

Im Allgemeinen hielt er es gegenüber seiner Frau nicht so streng mit der Schweigepflicht, vor allem da sich in Glen St. Mary sowieso immer schnell herumsprach, wer leidend, sterbend oder gebärend war.

„Nein, Anne, zum Glück gibt es kein Patient, der mir Sorgen bereitet. Ich habe über einen Artikel in meiner Fachzeitschrift nachgedacht. Neumodisches Zeug, wie Miss Cornelia sagen würde, spukt mir durch den Kopf. Bevor ich dir damit komme, wollte ich es mir selbst gründlich überlegen. Ich habe eine Liste der Vor- und Nachteile erstellt, über die Möglichkeiten der Realisierung und der Notwendigkeit gemacht."

„Kurzum du hast es dir nicht leicht gemacht, so wie ich es von dir gewohnt bin. Aber glaubst du nicht, ich hätte dir als objektiver Betrachter schon eher gute Dienste leisten können?"

„Vielleicht nicht, Anne- Mädchen. Es geht um Ingleside."

„Willst du umziehen?" fragte Anne erschrocken. Natürlich war das Haus im Moment fast zu groß, kamen die anderen Kinder aber nach Hause platzte es dagegen fast aus den Nähten.„Nein, sei unbesorgt, wir bleiben in Ingleside. Ich möchte mir gern im Haus eine Praxis einrichten."

„Eine Praxis?" fragte Anne nach.

„In den Vereinigten Staaten gibt es das schon lange. Vor allem in den Städten fährt der Arzt nicht mehr zu seinen Patienten hin, sondern sie kommen zu ihm. Durch die eingesparte Fahrtzeit kann er mehr Patienten behandeln. Natürlich würde es hier in unserer ländlichen Gegend nicht auch ohne Hausbesuche gehen, aber ich habe mir das so überlegt: Morgens würde ich hier in der Praxis arbeiten und nach dem Mittagessen wie üblich die Hausbesuche erledigen."

„Aber braucht man dazu nicht entsprechende Räume?" meinte Anne, die sich das trotz ihrer verbliebenen Phantasie nicht richtig vorstellen konnte.

„Deswegen habe ich ja so lange darüber nachgedacht. Mein Arbeitszimmer würde ich als Behandlungsraum nutzen. Ich bräuchte allerdings ein Wartezimmer. Oben stehen zwar Zimmer leer, aber ich kann es euch ja nicht zumuten meine Patienten durchs ganze Haus laufen zu lassen."

„Das Wohnzimmer läge deinem Arbeitszimmer genau gegenüber. Und die Möbel könnte man leicht in einem Zimmer oben aufstellen", gab Anne sich dem Gedanken ihres Mannes hin.

„Ich finde es schön, dass du mir deine gute Stube so bereitwillig opfern möchtest. Aber denke doch daran, dass sich hier unser Kamin befindet, an dem wir so viele behagliche Stunden verbracht haben."

„In den oberen Zimmern sind Öfen zum Heizen und wenn uns nach romantischem Kaminfeuer ist, können wir es uns ja immer noch hier gemütlich machen. Und sei mal ehrlich, wie oft hatten wir in den letzten Jahren Gelegenheit zusammen hier zu sitzen. Unserem Wohngefühl schadet es keineswegs, wenn wir diesen Raum abtreten, schließlich sind unsere Kinder so gut wie aus dem Haus und so viel Besuch, dass wir nicht eins der Kinderzimmer entbehren könnten, bekommen wir ja nun auch nicht."

„Und die Patienten, die Tag für Tag hier ein- und ausgehen, würden dich nicht stören?" fragte Gilbert, der ihre sofortige Einwilligung gar nicht richtig begreifen konnte.

„Mr. Miners, der Bauunternehmer, könnte ganz leicht eine Trennwand einbauen", löste sie das Problem.

Gilbert erhob sich aus dem Sessel, war mit einem Schritt bei ihr und riss sie in die Arme.

„Du bist die allerbeste Frau die ein Mann sich nur wünschen kann!" dankte er ihr.

„Auch wenn ich karottenrote Haare habe", neckte sie ihn.

„Vor allem, weil du karottenrote Haare hast", revanchierte sich Gilbert und in einem Anflug jugendlicher Verliebtheit nahm er seine Anne auf die Arme und trug sie ins Schlafzimmer.

Zu Weihnachten versammelte sich die gesamte Familie Blythe wieder auf Ingleside. Es war das fröhlichste Weihnachten, dass es auf Ingleside je gegeben hatte. Auch Walther fühlte sich nicht mehr befangen, wenn seine Familie ihn umarmte und küsste. Er mochte es zwar nicht wissen, dass er zu ihnen gehörte, aber im Herzen konnte er es mittlerweile fühlen.

Beim Weihnachtsschmaus am Heiligen Abend erzählten Anne und Gilbert ihren Kindern von den Praxisplänen. Susan, die aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit anders als eine normale Angestellte behandelt werden musste, war schon eher damit vertraut gemacht worden. Shirley, der mit seiner Ruth im Januar sowieso nach Charlottetown ziehen würde, hatte ebenso wenig dagegen einzuwenden wie Nan, die im Sommer heiraten und dann mit Jerry von Gemeinde zu Gemeinde ziehen würde, immer dorthin, wo ein Pfarrer gebraucht wurde. Rilla, die wegen Kenneth´s Ankunft am nächsten Tag viel zu aufgeregt war, äußerte sich gar nicht dazu. Jem hätte nach Beendigung seines Studiums immer noch das Zimmer, das er mit Walther teilte und das auch erhalten bleiben würde und ein Zimmer für Di blieb ebenfalls bestehen.

„Wir haben auch eine Änderung in eurem Leben vorgesehen", sagte schließlich Shirley, nachdem das Thema Praxiseröffnung ausführlich besprochen worden war.

„Ihr werdet im Juli Großeltern", verkündete er.

Nachts lagen Anne und Gilbert noch wach im Bett und sie neckte ihn:

„Jetzt liege ich mit einem Fast- Großvater in einem Bett."

Er lachte nur und zog eine Schachtel unter seinem Kissen hervor.

„Ich habe hier ein Geschenk für dich, Fast- Großmutter. Das wollte ich dir unter vier Augen geben."

Erstaunt nahm sie das schmale Kästchen entgegen und öffnete den Deckel. Ein schmaler Armreif aus Gold lag darin, auf dessen Oberseite die Worte Anne und Gilbert graviert waren. Im Reif hatte er vom Juwelier die Namen ihrer Kinder verewigen lassen und auch die kleine Joyce, deren Grab sie seit 28 Jahren an deren Geburts- und Sterbetag aufsuchten, fehlte nicht.

Tränen der Rührung rannen ihr übers Gesicht und sogleich streifte sie den Reif über.

„Danke", konnte sie nur flüstern und kuschelte sich in seine Arme.

Die Zwanziger Jahre des Zweitausenden Jahrhunderts brachen mit einem gigantischen Feuerwerk an, das zu Mitternacht in Glen St. Mary den Himmel erhellte. Auf Ingleside begingen die Familien Blythe und Meredith, die in diesem Jahr durch zwei Hochzeiten noch mehr miteinander verbunden werden würden, und Kenneth Ford gemeinsam den Jahreswechsel. Es war ein fast unübersichtliches Knäuel von Menschen, das sich Schlag zwölf umarmte, küsste und die besten Wünsche fürs neue Jahr zurief. Auch Walther und Una gerieten in dem Gewimmel aneinander und er nahm all seinen Mut zusammen, um das Mädchen kurz in die Arme zu schließen. „Ein gesundes neues Jahr", wünschte Una, während ihr die Röte ins Gesicht stieg. Dann wendete sie sich schnell ab. Die drei Brautpaare dachten an ihre bevorstehenden Verbindungen, Shirley und Ruth freuten sich auf ihr Kind und Anne teilte Gilberts Begeisterung für die Praxiseröffnung.