7. Die Zwanziger Jahre beginnen
Die Praxiseröffnung war auch Gesprächsstoff mit Miss Cornelia, die am Neujahrstag zu Besuch kam. Sie saß kaum auf ihrem angestammten Platz, da ging es auch schon los:
„Was habe ich da gehört? Der Doktor will hier im Haus eine Praxis eröffnen!"
„Ja, Miss Cornelia, eine in den Vereinigten Staaten eine bereits weit verbreitete Institution."
„Liebe Anne, nicht alles was von diesen neumodischen Dingen von den Yankees herüber schwappt passt in unser beschauliches Glen St. Mary. Und überhaupt, das ist doch mal wieder typisch Mann:
Als hätte eine Frau nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag fremden Leuten hinterher zu putzen, die durch ihr Haus trampeln."
„Als Fremde kann man ja die Patienten meines Mannes kaum bezeichnen, stammen sie doch alle hier aus Glen, Overharbour oder vielleicht noch Lowbridge."
„Liebe Anne, du machst dir gar keine Vorstellung, was für ein Gesindel gerade wieder unten am Hafen eingezogen ist. Die Kinder stehlen wie die Raben, die Mutter ist schlampig und der Vater säuft. Solche Patienten laufen dann hier rum und begrapschen deine wertvollen Stücke", prophezeite Miss Cornelia düster.
„Deswegen wird Mr. Miners in der Diele eine Wand einziehen. Der Auftrag dafür ist schon erteilt. Mein Wohnzimmer kommt nach oben, die Garderobe nach hinten neben das Esszimmer und schon habe ich wieder meine Privatsphäre."
„Liebe Anne, du wirst dich doch nicht wirklich auf so einen Unfug einlassen."
„Miss Cornelia, mein Gilbert spart durch die Praxis viele Wege und ich werde ihn endlich täglich auch zum Mittagessen haben. Wenn ich für ein bisschen mehr Zeit mit ihm nicht mehr als ein Wohnzimmer verliere, bin ich gern bereit dieses Opfer zu tragen."
„Ich muss mich doch sehr wundern, liebe Anne. Aber da du ja ganz die Meinung deines Mannes teilst, werde ich in Zukunft zu diesem Thema nichts mehr sagen."
Um auch wirklich vom Thema abzulenken, erkundigte sich Anne nun nach Mary Vance´s Baby.
„Die kleine Cornelia- Mary gedeiht prächtig. Ich finde sie ja erstaunlich groß für ihre drei Monate, aber was weiß ich schon von Babys. Der Doktor meint jedenfalls es ist alles in Ordnung. Und wenigstens mit so etwas kennt er sich aus."
„Der Milgrave- Junge hat sich auch gut gemacht. Ohne den Kaiserschnitt, durch den er auf die Welt kam, wäre er jetzt tod", gab Anne die kleine Spitze von Mrs. Elliots letzter Bemerkung zurück.
Walther hatte sich nach dem späten Neujahrsfrühstück durch die Küchentür davongestohlen, als die Ankunft vom Mrs. Marshall Elliot alle anderen Familienmitglieder abgelenkt hatte.
Der gefrorene Schnee knirschte unter seinen Füßen, als er zum Regenbogental ging. Dort angekommen lehnte es sich an einen der alten Bäume und blickte gedankenverloren vor sich hin. Darum hörte er auch erst sehr spät, die knirschenden Geräusche von näher kommenden Füßen.
Una, die ebenfalls in Gedanken vertieft war, bemerkte ihn erst, als sie schon fast vor ihm stand. Ihr von der Kälte ohnehin schon gerötetes Gesicht wurde noch eine Nuance farbiger.
„Guten Tag, Una", grüßte Walther, der sie wieder einmal ganz reizend anzusehen fand in ihrem schlichten Mantel, der selbst gestrickten Mütze und einem wärmenden Muff, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte.
„Guten Tag, Walther. Ich hätte nicht gedacht um diese Zeit jemanden hier zu treffen", antwortete sie verlegen.
„Mrs. Elliot stattet meiner Mutter gerade einen Besuch ab. Da habe ich mir lieber einen ruhigen Winkel gesucht", erklärte Walther.
„Dann möchte ich dich lieber nicht stören", meinte sie und wandte sich zum gehen.
Ohne nachzudenken ergriff Walther sie am Handgelenk und sagte sanft:
„Du störst mich nicht. Ich würde mich freuen, wenn du mir Gesellschaft leistest."
Erneut färbte sich ihr Gesicht rot, doch sie blieb nun neben ihm stehen.
„Rilla hat mir erzählt wir hätten während des Krieges in Briefkontakt gestanden", begann er nun zaghaft ein Gespräch.
„Ja, du hast mir ein paar Mal geschrieben, bis..." abrupt verstummte sie, wollte sie doch beinahe sagen:"bis zu deinem Tod."
Walther setzte ihren Satz fort und sie nickte dazu.
„Wir müssen also zumindest gut befreundet gewesen sein, wenn wir uns unter solch schwierigen Umständen doch etwas zu sagen hatten." stellte er fest.
„Ja, wir waren sehr gut befreundet."
„Und mehr nicht?" fragte Walther nach.
Bestürzt verstummte Una. Was sollte sie ihm darauf antworten.
„Was meinst du damit, mehr nicht?" wollte sie wissen.
„Mein Bruder, dein Bruder, sie haben nur ihren Eltern geschrieben und den Mädchen, mit denen sie so gut wie verlobt waren."
„So war es bei uns nicht. Wir haben nie ein Wort darüber verlauten lassen, dass über Freundschaft hinausging", erklärte Una.
„Und es gab keine Gefühle über Freundschaft hinaus, über die wir vielleicht nicht gesprochen haben?"
„Walther", rief sie bestürzt:"Wie kannst du nur so etwas fragen?" Ohne ein weiteres Wort lief sie davon.
Ratlos blieb er zurück. Wie sollte er nun von ihrer Reaktion halten? Hatte er sie mit der Frage gekränkt, hatte er längst verheilte Wunden aufgerissen? Wütend auf sich selbst, dass er Una verschreckt hatte, schlug er mit der Faust gegen den nächstgelegenen Baum. Der Schmerz, der ihn daraufhin durchzog, half allerdings auch nicht weiter und so ging er grübelnd heimwärts.
Die Weihnachtsferien gingen zu Ende und die Blythe- und Meredith- Kinder zogen wieder in die Welt hinaus. Jerry und Jem mussten sich nun voll auf ihr letztes Semester konzentrieren, das ihnen den Abschluss als Ziel vor Augen stellte. Nan und Di kehrten an ihre Lehrerposten zurück, um die Köpfe vieler Kinder mit Weisheit zu füllen. Ruth blieb auf Ingleside, während Shirley Una nach Charlottetown begleitete, um für seine kleine Familie ein Haus zu suchen. Er würde in Kürze als Kapitän eines kleinen Frachtflugzeuges arbeiten können.
Auch Rilla und Kenneth mussten sich schweren Herzens nochmals trennen. Zu ihrem Trost war aber der Termin ihrer Hochzeit bereits festgelegt. Kenneth hatte an den Bauunternehmer Miners bereits den Auftrag erteilt, dass alte Traumhaus zu renovieren damit er dort mit seiner Braut nach den Flitterwochen einziehen konnte.
Zuerst kam aber Mr. Miners Mitte Januar nach Ingleside, um die Trennwand zu planen und seine Angestellten entsprechend zu instruieren. Eine Woche wurde im Haus von früh morgens bis spät abends gehämmert und genagelt. Dann kamen die Maler und verpassten den Wänden vor und nach der eingezogen Wand einen neuen Anstrich. Gilberts Arbeitszimmer und der neue Warteraum wurden neu tapeziert. Im Obergeschoss hatte man zuvor das Gästezimmer leer geräumt und frisch gestrichen. Darin befand sich jetzt ein zwar kleineres, aber dadurch fast noch behaglicheres Wohnzimmer. Zuletzt brachte der Schreiner Stühle für das Wartezimmer, sowie das Gestell für ein Sofa, das der Polsterer dann noch mit einer bequemen Sitzfläche vollendete. Ein kleines Regal mit Büchern ergänzte den Raum.
Als der letzte Heimwerker gegangen war, standen Anne und Gilbert Arm in Arm in der Tür ihres ehemaligen Wohnzimmers.
„Ich finde es ist sehr hübsch geworden", bemerkte Anne.
„Ich hoffe meine Patienten finden das auch und ergeben sich in diese Neuerung. Mir ist Angst und Bange, dass zu meiner ersten Sprechstunde morgen gar kein Patient erscheint."
„Davor musst du dich nicht fürchten. Ich habe gehört Mrs. Fairchild hat ein neues Spitzenunterhemd und einen grauslichen Husten. Ich könnte mir vorstellen, dass sie morgen vorbeikommt, um dich einen Blick darauf werfen zu lassen."
„Spitzenunterhemden interessieren mich nur an dir, Anne- Mädchen", sagte er und schloss sie in die Arme, um sie zu küssen.
„Ich habe noch etwas für dich", sagte sie etwas atemlos, als sich ihre Lippen voneinander trennten.
Sie überreichte ihm ein flaches, aber gewichtiges Päckchen, das an der Wand gelehnt hatte. Als Gilbert das Packpapier entfernt hatte, blitzte ihm ein blank poliertes Schild entgegen, auf dem zu lesen stand:
Praxis Dr. Gilbert Blythe
Sprechstunde Montag bis Freitag 9 – 12 Uhr
Hausbesuche Montag bis Freitag nachmittags
In Notfällen telefonisch erreichbar unter Glen St. Mary 362
„Was für eine wunderbare Idee. Danke", sagte er aufrichtig begeistert.
„Joe Milgrave bringt es morgen früh gleich an und dann muss die Bevölkerung von Glen Notiz von deiner Praxis nehmen. Außerdem wird im „Journal" morgen auch der entsprechende Hinweis dazu stehen. Es wird Zeit, dass diese Gemeinde ein wenig moderner wird."
„Du hast sehr revolutionäre Ideen für eine respektable Arztgattin", neckte er sie.
„Ich habe dich damals gewarnt, als du um meine Hand angehalten hast. Schließlich hätte ich mich mit einem Missionar begnügt", antwortete sie schlagfertig.
„Wo du für mich auf Diamanten verzichtet hast!"
„Dafür hast du mir sechs wunderbare Kinder, einen Engel und einen Perlenring geschenkt.
Lass uns schlafen gehen."
„Oh ja, ich bin auch schon sehr müde", sagte er übertrieben gähnend.
Sie zwinkerten sich verschwörerisch zu und gingen Hand in Hand nach oben.
8. Moderne Zeiten
Der erste Februarmorgen brach mit dichtem Flockenwirbel vor dem Fenster an. Gilbert wirkte ein wenig aufgeregt wegen seiner Praxiseröffnung und schnitt sich prompt beim Rasieren.
„Vielleicht sollte ich das lieber machen, nicht das du dir noch die Kehle durchschneidest", zog Anne ihn auf.
Beim Frühstück aß Gilbert gerade eine Scheibe Toast, die ihm seine besorgte Frau aufdrängte und sprang dann gleich auf, um die erste Sprechstunde in seiner Praxis vor zu bereiten.
Umsonst sorgte sich Gilbert wegen eines leeren Wartezimmers. Als Anne kurz vor neun Uhr die Haustür öffnete, strömte halb Glen herein. Der größte Teil davon war nur aus Neugier gekommen und berichtete dem Doktor von den harmlosesten Wehwehchen. Die Sitzplätze reichten anfangs kaum aus und Susan musste zu Mittag das Essen warm halten, da Gilbert die Sprechstunde erst nach ein Uhr beenden konnte. Nun konnte er mit gesundem Appetit essen und begab sich dann gestärkt auf seine Hausbesuchsrunde.
„Also liebe Frau Doktor, ich weiß ja nicht, ob das so eine gute Idee mit der Praxis im Haus war. Der Teppich in der Diele sieht aus! Ich weiß nicht, wie ich den sauber bekommen soll, nachdem da fast die ganze Gemeinde drüber gelaufen ist."
„Ich klopfe ihn nachher draußen aus", bot Walther an.
„Und Mittag gegessen haben wir auch später als gewöhnlich, liebe Frau Doktor. Das Gemüse war fast zerkocht, von den Kartoffeln ganz zu schweigen."
„Es werden ja nicht jeden Tag so viele Leute kommen", beschwichtigte Anne.
Mit etwas ungläubigem Gesichtsausdruck deckte die Haushaltsperle den Tisch ab.
Die Sprechstunde lief aber auch weiterhin sehr gut. Nur gelegentlich gab es Streit unter den Wartenden, wer den nun eher da gewesen war und Gilbert überlegte sich, dass eine Hilfskraft da für Ordnung sorgen könnte. Eine medizinisch geschulte Fachkraft könnte ihm sogar zeitraubende Arbeiten wie das Verbände anlegen und das Verabreichen von Einreibungen abnehmen.
Er besprach diese Idee mit Anne, die bei der Praxiseröffnung schon wertvolle Hilfe geleistet hat.
Und auch hier hatte sie sofort eine Lösung parat:"Frage Faith! Sie hat im Krieg schließlich in einem Lazarett gearbeitet und gehört praktisch schon zur Familie."
„Eine fabelhafte Idee, Anne- Mädchen. Gleich morgen nach dem Mittagessen fahre ich bei den Merediths vorbei und frage Faith."
Gesagt, getan. Faith, die sich zu Hause unsäglich langweilte, da Rosemary den Pfarrershaushalt auch allein gut im Griff hatte, sagte sofort zu. Und so wurde im Wartezimmer ein Pult und eine Trennwand aufgestellt, hinter der Faith Verbände anlegen und schmerzenden Gliedern mit Einreibungen Linderung verschaffen konnte. Zum Mittagessen blieb sie im Haus ihrer zukünftigen Schwiegereltern und Gilbert brachte sie dann anschließend nach Hause. Manchmal begleitete sie ihn auch zu seinen Hausbesuchen und es erwies sich oft bei neuzugezogenen, vor allem den weiblichen Patienten, als hilfreich, dass eine Frau an seiner Seite stand.
„Faith wird einmal eine gute Arztgattin für unseren Jem abgeben", lobte Gilbert daher seine Sprechstundenhilfe deswegen eines Abends, als er neben Anne im Bett lag.
Shirley hatte recht schnell ein kleines Häuschen gefunden, musste aber noch das ein oder andere daran ausbessern, da es lange leer gestanden hatte. So war es bereits März, als er mit seiner Ruth das erste eigene Heim bezog. Halb Glen hatte Mobiliar für das aussteuerlose Paar gestiftet und es waren recht schöne und vor allem antike Stücke dabei, die Ruth nun ganz nach ihrem Geschmack in den Räumlichkeiten verteilte.
Der Winter dauerte bis in den März mit Schneestürmen und Frost an, der April begann regnerisch und ebenfalls kalt. Traurig dachte Anne an die Frühlingsblüher, für die sie im November noch schnell sie Zwiebeln gesteckt hatte, bevor der Frost den Boden gehärtet hatte. Aus diesem Grund kam Gilbert an einem Aprilabend mit einer blumigen Überraschung nach Hause. Seine Hausbesuchsrunde hatte ihn an diesem Tag bis nach Lowbridge geführt, wo seit dem Krieg ein junger Mann, der in Europa seinen Arm verloren hatte, eine Gärtnerei betrieb. Er hatte sich ein Gewächshaus aus Glas errichten lassen und zog in diesem Blumen. Das Geschäft war im ersten Jahr so gut gelaufen, dass er bereits den Neubau von zwei weiteren Gewächshäusern in Auftrag gegeben hatte.
Gilbert hatte also von der Gärtnerei erfahren und auf dem Heimweg angehalten, um seiner Anne eine Freude zu machen. Ihre Augen strahlten, als er ihr einen kleinen Topf mit einer gerade erblühten, lila Hyazinthe brachte.
„Danke, du bist so gut zu mir, mein Geliebter."
„Ich habe dich doch gesehen, wie du Tag für Tag auf den noch immer wie tod daliegenden Garten geblickt hast."
„Nun ja, ich fürchte die Zwiebeln sind wegen der Nässe auch total verfault und auch für das nächste Jahr nicht zu gebrauchen. Aber woher hast du diese Hyazinthe?"
Gilbert berichtete ihr nun von der Gärtnerei und Anne meinte:
„Was für eine gute Idee. Vielleicht könnte man sich so ein Gewächshaus im Garten bauen lassen."
Annes Überlegung beschäftigte Gilbert, der zur Zeit keine schwierigen Fälle zu behandeln hatte, in der folgenden Woche und als er wieder einmal durch Lowbridge kam, erkundigte er sich bei dem Gärtner nach dem Erbauer und den Kosten des Gewächshauses. Nachdem er ihm versichert hatte nur für den Privatgebrauch und nicht für ein Konkurrenzgeschäft Gebrauch von den Angaben machen zu wollen, erhielt er die Informationen. Daraufhin begab er sich zum Glaser, um den Auftrag für ein kleines Gewächshaus zu erteilen.
9. Abschied von einer langjährigen Freundin
Der Zufall, oder das Schicksal, wollten es, dass Nan Ende April anrief, um mitzuteilen, dass es Rachel Lynde sehr schlecht ging und das schlimmste zu befürchten stand. Daraufhin fuhr Anne gleich am nächsten Tag mit dem Morgenzug nach Bright River, Walther begleitete sie. An der Bahnstadion erwartete sie ihre Busenfreundin Diana Wright, geborene Barry. Nan, die um diese Zeit noch unterrichten musste, hatte sie darum gebeten ihre Mutter abzuholen.
„Wie schön dich zu sehen", sagte Anne und umarmte Diana, wobei sie mit den Armen kaum noch die matronenhafte Gestalt umfassen konnte.
„Das ist meine beste Freundin Diana", erklärte sie Walther, für den Tante Diana bisher nur ein weiterer unbekannter Name in Erzählungen gewesen war.
Anne setzte sich zu Diana auf den Kutschbock, Walther nahm mit dem Gepäck hinten Platz.
„Fred ist heute mit dem Automobil in Carmody", erklärte Mrs. Wrigt ihr inzwischen fast altertümlich anmutendes Gefährt, hatte doch auch in Avonlea die Modernität Einzug gehalten.
In gemächlichem Tempo ging es nun nach „Green Gables", wobei Diana ihrer Freundin über alle Neuigkeiten aus Avonlea und Umgebung Bericht erstattete. Als sie an der Harrison- Farm vorbeikamen, musste Mrs. Wrigt ihren Vortrag unterbrechen, da Anne ein Lachen entschlüpft war. Auf den erstaunten Blick ihrer Freundin hin, erklärte sie:
„Ich musste gerade an den Tag denken, als wir hier lang kamen und ich glaubte meine Kuh Dolly hätte sich schon wieder in Harrisons Feld verirrt."
„Ich kann mich daran gar nicht mehr erinnern."
„Was? Wir kamen damals in unseren feinsten Kleidern, ich glaube von Carmody, hier entlang und als ich Dolly, die ich zu Hause sicher in ihrem Stall wähnte, hier fand, packte mich die Wut. Zusammen trieben wir sie gen Green Gables, dabei war der Boden von wochenlangem Regen total schlammig. Und natürlich landeten wir prompt im Matsch und wer kam vorbei? Gilberts Vater, der mir die Kuh schon lange abkaufen wollte. Zornig wie ich war, gab ich sie ihm sofort mit."
„Und zu Hause fandest du dann Dolly im Stall und hattest Harrisons Jerseykuh verkauft", erinnerte sich Diana nun.
„Ich weiß noch wie bange mir war, als ich ging, um es ihm zu beichten. Und dann sind wir die besten Freunde geworden. Nur sein Papagei war mir ein Dorn im Auge. Er rief mich immer Karotte, mochte Mr. Harrison noch so oft sagen ich wäre ein hübsches Mädchen, wenn er mich kommen sah."
„Wurde der Papagei nicht vom Blitz erschlagen bei dem Gewitter, das Onkel Abraham damals voraussagte?"
„Ja, aber die Voraussage kam von Gilbert und mir und brachte nicht nur einen furchtbaren Hagelsturm, sondern auch Mrs. Harrison nach Avonlea."
Mit Ende ihrer Erzählung erreichten sie nun Green Gables, dessen grünes Dach schon weithin durch die Bäume zu sehen gewesen war. Als die Kutsche vor dem Haus hielt, trat Millie, Davys Frau, heraus.
„Guten Tag, Mrs. Blythe, gut das sie da sind. Ich glaube es geht wirklich zu Ende mit Mrs. Lynde. Der Doktor war vorhin bei ihr, aber er meinte er könne nichts mehr für sie tun."
„Danke Millie, ich werde gleich nach ihr sehen."
Anne verabschiedete sich von Diana, die nach Hause musste um das Mittagessen zu kochen. Walther folgte ihr mit den Reisetaschen ins Haus. Sie ging ihm voran nach oben und zeigte ihm ihr „Mädchenzimmer", wo er die Taschen abstellen konnte.
„Sieh dich derweilen um, ich schaue erst einmal nach Mrs. Lynde", sagte Anne und betrat nach einem zaghaften Klopfen das Krankenzimmer.
Rachel Lynde, einst eine gefürchtete Klatschtante mit messerscharfer Zunge, lag blass und mit schmales Gesicht in dem schmalen Bett. Sie hatte seit dem Beginn von Annes Studienzeit dieses Zimmer bewohnt, um Marilla Cuthbert bei der Hausarbeit und der Erziehung der Zwillinge zu helfen. Nun sah es ganz so aus, als würde sie ihrem damals so plötzlich verstorbenen Mann Thomas folgen.
Anne entnahm dem schon leicht gelblich gefärbten Gesicht der alten Frau, dass Gevatter Tod schon fast ans Bett getreten war.
„Anne", flüsterte Mrs. Lynde mit zittriger Stimme.
„Guten Tag, Mrs. Lynde", antwortete die Besucherin und setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Krankenlager stand.
„Wie schön, dass ich dich noch einmal sehe."
„Wenn ich gewusst hätte, wie schlecht es ihnen geht, wäre ich schon eher gekommen."
„Ich habe deine Tochter gebeten nicht eher Bescheid zu geben. Du wirst in Glen genug zu tun haben. Da wäre es töricht zu verlangen die Tage am Bett einer sterbenden Frau zu verbringen."
„Sie sind für mich immer eine gute Freundin gewesen, der ich diesen Dienst gern erwiesen hätte."
Ein kleines Lächeln huschte über Mrs. Lyndes Gesicht.
„Bei unserer ersten Begegnung sah es aber nicht so aus, als würden aus uns mal Freundinnen werden, meine liebe Anne."
Auch Anne musste nun an dieses Ereignis denken, als sie kaum in Green Gables angekommen gleich mit Rachel aneinander geraten war. Hatte es doch die spitzzüngige Frau gewagt das Haar des Mädchens karottenrot zu nennen. Das damals elfjährige Waisenkind, empfindlich was ihr Aussahen betraf, hatte daraufhin die schlimmsten Beleidigungen gegen Marillas Freundin ausgestoßen. Beinah hätte Anne deswegen Green Gables wieder verlassen müssen, hatte Miss Cuthbert doch von ihr verlangt, sich zu entschuldigen. Hätte Matthew nicht heimlich als Vermittler eingegriffen, wäre sie vor vierundvierzig Jahren ins Waisenhaus oder noch schlimmer, zu Mrs. Blewett, gekommen.
„Du warst am Ende auch für mich schon fast ein eigenes Kind", unterbrach Mrs. Lynde nun die Gedanken ihrer Besucherin.
„Ganz Avonlea war stolz auf dich und ist es auch heute noch, wie ich von den Leuten aus der Gemeinde höre, die mich besuchen. Man hält große Stücke auf deine Tochter als Lehrerin. Sie hat den Schulkindern wieder Zucht und Ordnung beigebracht, nachdem sie unter dem letzten Lehrer fast verwildert waren. Mit Schrecken denkt man hier daran, dass sie im Sommer heiraten möchte und ihren Posten hier wohl aufgeben wird."
„Sie würde sicher auch gern hier bleiben. Aber ihr Platz ist dann nun einmal an Jerry´s Seite und man kann nicht wissen, wohin es ihn als Pfarrer ziehen wird."
„Ich habe gehört unser Reverend will sich gegen Ende des Jahres zur Ruhe setzten . So eine kleine Gemeinde wäre doch genau das Richtige für einen jungen Pfarrer."
„Versuchen sie auch jetzt noch Vorsehung zu spielen, Mrs. Lynde", scherzte Anne.
Rachel hatte das Gespräch angestrengt und wollte nun etwas ruhen. Leise ging Anne daraufhin hinaus, als die Leidende eingeschlafen war. Sie fand Walther auf der Veranda, wo er in einem Schaukelstuhl saß und über die Felder blickte.
„Es ist schön hier, auf deinem Green Gables", sagte er.
Anne stützte sich mit den Händen auf die Brüstung und antwortete;
„Für mich war es das Paradies, als ich aus dem Waisenhaus hier herkam. Hier begann für mich mein Leben erst richtig."
Da sie Walther schon von ihrer Kindheit und Jugend erzählt hatte, wusste er, was sie meinte.
Als Millie nun um die Ecke bog, fragte Anne sie:
„Was wolltest du heute Mittag kochen?"
„Ich habe ein Huhn gekocht. Die Brühe für Mrs. Lynde, aus dem Fleisch wollte ich Frikassee kochen."
„Ich kümmere mich darum, Mrs. Lynde schläft", erklärte Anne und ging in die Küche.
Frau Dr. Blythe genoss es seit langer Zeit wieder einmal ganz allein in einer Küche zu hantieren. Sie fühlte sich fast wieder wie 14, als sie bei den unbeliebten Küchenarbeiten ihren Tagträumen nachgehangen war und manchen Fehler gemacht hatte.
Heute war Anne aber ganz auf ihre Arbeit konzentriert. Sie schöpfte die Brühe ab und kochte sie mit kleingeschnittenen Karotten, Zwiebeln und getrocknetem Sellerie noch einmal auf. Dann pulte sie das Fleisch von den Hühnerknochen und zerkleinerte es. Mit etwas Brühe, Sahne und Gewürzen ergab es ein wohlschmeckendes Frikassee.
Während die Kartoffeln kochten und der Wirsing, den sie noch im Keller gefunden hatte, vor sich hin schmorte, brachte sie eine Tasse Brühe für Mrs. Lynde nach oben.
Rachel war aus ihrem kurzen Schlummer erwacht und Anne setzte sie auf, damit sie die Brühe und etwas abgekühlten Tee trinken konnte.
„Danke, Anne", sagte sie schwach und war schon wieder eingeschlafen, kaum das ihre Pflegerin sie neu gebettet hatte.
Zum Mittagessen kam auch Davy vom Feld, der Anne und ihren Sohn herzlich begrüßte. Er lobte Annes Kochkunst, die froh war, dass ihr das Essen gelungen war. Bei Tisch erörterte man das Problem der nächtlichen Unterbringung, da im Haus kein Zimmer für Walther frei war. Schließlich einigte man sich darauf ihm ein Lager auf dem Wohnzimmersofa zu bereiten. Gleich nach dem Essen suchte Millie deshalb noch ein Bettzeug heraus, das sie zum Lüften auf die Veranda hängte. Anne erledigte den Abwasch, unterstützt von Walther, der das Abtrocknen übernahm, dann setzte sie sich zu Mrs. Lynde. Sie las ihr zur Unterhaltung die aktuelle Zeitung vor und sie unterhielten sich über die „alten" Zeiten.
Nachmittags kehrte Nan aus der Schule zurück. Trotz dem sie mit Aufsatzheften beladen war, die sie korrigieren musste, setzte sich sich zu ihrer Mutter ans Krankenlager. Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter unterhielt Mrs. Lynde und als sie eingeschlafen war, schlichen die beiden hinaus. In der Küche tranken sie mit Walther eine Tasse Tee, dann scheuchte Nan ihre Mutter für einen Spaziergang aus dem Haus. Anne zeigte Walther die geliebten Plätze ihrer Kindheit: den See des glitzernden Wassers mit der Brücke, auf der Gilbert um ihre Hand angehalten hatte, den Geisterwald, die Liebeslaube und das Schulhaus von Avonlea, in dem sie gelernt und unterrichtet hatte. Als sie nach einem berauschenden Sonnenuntergang ins Haus zurückkehrten, war Nan in höchster Aufregung.
„Gott sei dank seit ihr wieder da. Mrs. Lynde geht es sehr schlecht. Sie will aber partout den Arzt nicht kommen lassen", klagte Nan.
„Mrs. Lynde hat ihren Frieden mit Gott gemacht und ist bereit zu sterben. Hole schnell den Reverend. Sie würde wollen, dass er ihr auf dem letzten Weg beisteht."
Walther half seiner Schwester die Pferde ein zu spannen und fuhr mit ihr nach Avonlea um den Pfarrer zu holen. Gerade rechtzeitig kehrten sie an das Sterbebett zurück. Anne hatte Mrs. Lyndes Hand gehalten, die nur auf den Geistlichen gewartet hatte um ihre Augen für immer zu schließen.
Zwei Tage später wurde Mrs. Rachel Lynde an der Seite ihre Thomas auf dem Friedhof von Avonlea beerdigt. Die ganze Gemeinde und sämtliche Bewohner der Umgebung erwiesen ihr die letzte Ehre und genossen anschließend Tee und Kuchen im Pfarrhaus. Die Frau des Reverend hatte ihren Salon für die Trauergemeinschaft zur Verfügung gestellt, damit sie nicht nach Green Gables hinausfahren musste.
Gilbert, der mit dem Morgenzug angereist war, brachte Diana, deren Mann nicht mit zur Beerdigung gekommen war, nach Hause.
„Es ist schön dich wieder einmal zu sehen", sagte Mrs. Wright zum Traummann ihrer Mädchenjahre.
„Ja, auch wenn es eher ein trauriger Anlass war. Du siehst noch genauso gut aus wie vor drei Jahren, als ich das letzte Mal hier war."
Das war nicht gelogen. Seit dieser Zeit hielt Diana ihr Gewicht und hatte ihre Schwäche für Cremes entdeckt, die einen jugendlichen Teint erhalten sollten.
„Ich alte Großmutter", sagte sie im Scherz.
„Meine Anne wird auch bald Großmutter und man sieht es euch beiden nicht an."
„Sie hatte im letzten Jahr auch viel Freude, das hält jung", stellte Diana fest.
„Es tut mir so leid, dass dein Fred nicht wiedergekommen ist aus dem Krieg."
„Ich bin darüber hinweg. Mir sind doch Ann- Cordelia und Jake geblieben. Er hat sich einigermaßen von seiner Verletzung erholt und erwägt ernsthaft zu heiraten."
„Das sind doch gute Aussichten. Und dein Schwiegersohn soll ja ein ganz tüchtiger Mann sein, hat man mir berichtet."
„Ja, er ist wirklich fleißig. Ich glaube er könnte doppelt so viel Land bearbeiten, wie er momentan besitzt. Und er ist gut zu meine Anne. Das ist doch die Hauptsache."
Nun erreichten sie Orchard Slope, wo Diana mit Fred seit dem Tod ihrer Eltern lebte. Sie hatten die Wright- Farm ihrem Schwiegersohn überlassen, der nahezu arm wie eine Kirchenmaus in die Familie gekommen war, da er der jüngste von fünf Söhnen war.
„Sehen wir uns morgen, wenn ich Anne auf einen Tee besuche?" fragte Diana, nachdem Gilbert ihr vom Wagen geholfen hatte.
„Leider nicht. Ich fahre mit dem Frühzug zurück, wegen einer Überraschung für Anne, die ich gerade auf Ingleside vorbereite."
„Wie schade! Was ist es den?" wollte sie neugierig wissen.
„Das verrate ich auch dir nicht, damit du mich nicht verpetzen kannst. Aber komm uns doch bald einmal wieder besuchen, dann siehst du es selbst."
Er küsste sie zum Abschied auf beide Wangen und Diana sah ihm ein wenig sehnsüchtig nach, wie er sich jugendlich auf den Kutschbock hochschwang und zurück nach Avonlea fuhr.
Als Gilbert das Pfarrhaus erreichte, waren Anne und Nan gerade mit den letzten Aufräumungsarbeiten fertig. Gilbert räumte die leeren Körbe, in denen man die Kuchen transportiert hatte, in die Kutsche. Die Frauen verabschiedeten sich noch vom Reverend und seiner Frau, dann konnte man nach Green Gables zurückfahren. Die Sonne ging schon unter, als man das Haus erreichte und das kürzlich gestrichene Dach blitze in den letzten Strahlen noch einmal auf, bevor sich die Dämmerung darüber legte.
Während Nan im Haus die Vorbereitungen fürs Abendessen übernahm, verschnaufte Anne auf der Veranda. So fand Gilbert sie in einem Schaukelstuhl, mit geschlossenen Augen vor sich hin wiegend, als er aus dem Stall kam, wo er die Pferde ausgeschert und gefüttert hatte.
„Der Rosenstrauß, den du auf Matthew´s Grab gepflanzt hast, ist ja riesig geworden."
„Ja, leider war es noch zu früh für Blüten. Er verströmt einen berauschenden Duft, wenn er in voller Blüte steht. Es war überhaupt eine triste Beerdigung, so fast ohne Blumen, nur Immergrün, aus dem schon den ganzen Winter Kränze gebunden worden sind. Schön, dass du ein paar Blumen mitgebracht hattest", sagte sie.
„Wenigstens hat es heute nicht geregnet", erwähnte Gilbert das Positive an diesem Tag.
Anne nickte zustimmend.
„Ich muss morgen mit dem Mittagszug wieder heim. Mrs. Albany von Lowbridge beschäftigt mich. Ich weiß nicht so recht, ob es nur wieder ihr Magen oder der Blinddarm ist, der ihr Beschwerden bereitet."
Das war aber nur ein Grund. Im Garten von Ingleside wurde gerade das Glashaus errichtet, da wollte Gilbert den Handwerkern auf die Finger sehen.
„Ich ordne Mrs. Lyndes Sachen und komme dann nach Hause", sagte Anne.
Am nächsten Tag brachte Anne ihren Mann selbst mit der Kutsche zur Bahnstation in Bright River.
„Du wirst mir fehlen, mein Anne- Mädchen."
„Sei doch froh, dass du mal wieder ein paar Tage Ruhe vor deinem Hausdrachen hast", scherzte sie.
„Dein Feuer macht es aber immer so behaglich", antwortete Gilbert bevor er sie zum Abschied küsste und in den Zug stieg.
Anne genoss die ruhige Fahrt durch den strahlenden Nachmittag, bevor sie sich daran machte Mrs. Lyndes Habseligkeiten durchzusehen. Was aus Rachels kleiner Küche und von ihrer Kleidung noch zu gebrauchen war, spendete Anne der Heilsarmee. Die Erinnerungsstücke packte sie in einen Karton, den sich eines von Rachels Kindern irgendwann abholen würde.
Als Nan mit einer Tasse Tee nach oben kam, war Anne fast mit allen Sachen durch. Sie ließ sich auf das Bett sinken, das dem Bettzeug beraubt, irgendwie kahl wirkte. In kleinen Schlucken genoss sie den Tee, den ihre Tochter aufgebrüht hatte.
„Wie war dein Schultag?" fragte sie dann Nan.
„Montags sind die Kinder immer schwer zu zügeln. Ihnen steckt noch das Toben vom Wochenende in den Knochen."
„Das war schon zu meiner Zeit als Lehrerin so", erinnerte sich Anne versonnen.
„Hallo, jemand zu Hause?" rief da eine weibliche Stimme von unten.
„Diana, die hatte ich ja gang vergessen", sagte Anne.
Sie sprang auf wie ein junges Mädchen und lief nach unten. Es war schon ein komischer Anblick, wie Anne mit wehendem Rock und Teetasse die Treppe nach unten flitzte.
Die Freundinnen fielen sich um den Hals und gingen dann in die Küche.
„Ich hoffe es ist noch eine Tasse Tee in der Kanne", sagte die Gastgeberin. „Ich hatte völlig vergessen, dass du heute kommst."
„Ich bin ja nun auch nicht wegen des Tees hier."
„Oh, ich könnte dir auch ein bis drei Gläser von Marillas Johannisbeerwein anbieten. Es sind noch ein oder zwei Flaschen davon im Keller."
Die beiden Frauen mussten lachen bei der Erinnerung an die Teeeinladung vor vielen Jahren, als Diana sich an vermeintlichem Johannisbeersaft gelabt hatte und sturzbetrunken nach Hause wankte. Nur Mrs. Barry, eine strenge Antialkoholikerin, fand den Zustand ihrer Tochter nicht komisch und verbot ihr den weiteren Kontakt zu Anne. Wenn das rothaarige Mädchen im folgenden Winter5 nicht der jüngsten, Minnie May, das Leben während eines Krupp- Anfalls gerettet hätte, wäre die Freundschaft der beiden noch lange gestört gewesen.
„Nein, ich glaube wir bleiben lieber beim Tee", sagte Diana.
Anne versorgte die Freundin mit einer Tasse und brühte sogleich frischen auf. Dann stellte sie noch einen Teller mit Gebäck, das von der Beerdigung übrig geblieben war, zusammen und platzierte ihn auf dem Tisch.
„Nun, erzähle wie es allen geht", bat Anne, als sie sich zu ihrer Freundin gesetzt hatte.
Über dem Erzählen vergaßen die Freundinnen die Zeit, es begann zu dämmern und es wurde Zeit das Abendessen vorzubereiten.
„Willst du nicht mit uns essen?" lud Anne ihre Busenfreundin ein.
„Ja, gern. Fred wird sowieso erst spät aus Carmody zurück sein und schon gegessen haben. Jake kann sich auch allein was zu essen suchen, er ist alt genug und du so selten da."
„Gut, dann hole ich mal Kartoffeln und Erbsen aus dem Keller. Es sind die letzten des vorigen Jahres. Auf Ingleside halten die nie so lang. Irgendwie ist der Keller von Green Gables viel besser wie der in Glen", sagte sie und stieg die Treppe hinunter.
Diana nahm sich derweilen eine Schürze vom Haken und band sie sich um.
Dann kam Anne auch schon wieder.
„Die müssen ja noch gepellt werden", seufzte Diana.
„Ja, liebste Freundin, so ist es. Ich übernehme das, wenn du Kartoffeln schälst."
Und so vertieften sie sich während der Arbeit in weitere Erzählungen.
Bald darauf kochten die Kartoffeln und die Erbsen im Salzwasser und Schweinefleisch briet in der Pfanne verführerisch vor sich hin. Anne kam nun mit dem Zucker, um einen Teelöffel davon an die Erbsen zu geben.
„Weißt du noch als wir das Mittagessen für Priscillas Tante, diese bekannte Schriftstellerin, gekocht haben und du, Marilla und ich jede einen Löffel Zucker an die Erbsen gaben, weil wir alle dachten es hätte noch keiner getan?" erinnerte Diana sich.
Lachend nickte Anne.
„Das war eins der katastrophalsten Essen, die ich je fabrizierte!"
„Und wie war das mit der Maus in der Puddingsauce?" piesackte Diana.
„Nicht so schlimm wie Marillas Rheumamittel in der Schichttorte, die ich für den Besuch der Ellens gebacken hatte", konterte Anne.
Sie lachten noch immer, als Nan, die Aufsätze korrigiert hatte, und Millie und Davy, von der Arbeit auf dem Feld, zum Abendessen kamen.
Nachdem Diana beim Abwasch geholfen hatte, ging sie nach Hause und Anne zog sich mit einer Tasse Tee auf ihr Zimmer zurück. Sie hatte sich gerade am Fenster niedergelassen, als es klopfte.
„Herein", rief sie und Walther trat ein.
„Wo warst du, wir haben dich zum Abendessen vermisst? Den ganzen Tag habe ich dich kaum zu Gesicht bekommen."
„Ich war spazieren", sagte er kurz angebunden und setzte sich dann in ihre Nähe, auf das Bett.
Schweigend blickten sie gemeinsam eine Weile zum Fenster hinaus.
„Spazieren gehen kann man hier wirklich wunderbar", ergriff Anne schließlich das Wort.
„Ich bin bis ans Meer gelaufen. Es war herrlich den wogenden Fluten zuzusehen. Fast wäre ich hineingelaufen, um mich von ihnen davon tragen zu lassen."
Anne, die die tiefe Traurigkeit in ihm spürte, nahm mitfühlend seine Hand.
„Warum bist du so bedrückt? Ist es weil du dich an nichts erinnern kannst?"
„Ach", sagte er heftig, stand abrupt auf und entwand seine Hand der ihren.
„Ich habe es fast aufgegeben. Deswegen muss ich mein Leben auch endlich selbst in die Hand nehmen. Selbst wenn ich euer Sohn muss, kann ich mich nicht ein Leben lang von euch durchfüttern lassen!"
„Und was willst du tun?" fragte sie behutsam.
„Ich weiß es nicht", stieß er heftig aus.
Anne, die seine innere Aufgewühltheit bemerkte, stand auf und schloss ihn in die Arme. Erst wollte er sich wehren, doch dann ließ er besänftigt seinen Kopf auf ihre Schulter sinken und brach in stille Tränen aus. Sie liefen ihm über die erhitzten Wangen und nässten ihre Schultern.
„Kommt Zeit, kommt Rat", sagte sie. „Du wirst deinen Weg finden, das verspreche ich dir."
Am nächsten Tag holte Diana ihre Freundin und deren Sohn mit dem Automobil ab, um sie nach Bright River zu fahren.
„Damit du nicht glaubst ich hätte unser modernes Gefährt nur erfunden", scherzte Mrs. Wright, als sie hupend vor Green Gables ankam.
Auf dem Weg zur Bahnstation hielten sie am kleinen Friedhof von Avonlea. Dort legte Anne auf den Gräbern von Matthew, Marilla, ihren Schwiegereltern und Mrs. Lynde frisch erblühte Kirschzweige nieder.
Während Walther das Gepäck in einem Zugabteil verstaute, verabschiedeten sich die Freundinnen herzlich.
„Du musst uns nun bald wieder einmal besuchen kommen, liebe Diana", forderte Anne.
„Ganz bestimmt. Gilbert hat mich neugierig gemacht mit der Überraschung, die er für dich vorbereitet hat.
„Was für eine Überraschung?" erkundigte sich Anne erstaunt.
Doch Diana konnte nur unwissend die Schultern zucken und schob Anne die Treppe hinauf, da der Schaffner gerade das Abfahrtssignal gab.
Auf der ereignislosen Zugfahrt bat Walther seine Mutter ihm noch mehr aus ihrem Leben zu erzählen. Er merkte sich alle Geschichten, die sie zum Besten gab, und wenn er Zeit und Ruhe hatte, notierte er sie sich in ein Tagebuch. Schon ein ganzes Heft hatte er so mit ihren Erzählungen gefüllt.
Gilbert erwartete sie am Bahnhof von Glen und ungeachtet der Blicke der Reisenden und Wartenden schloss er seine Anne stürmisch in die Arme.
„Schön, dass du wieder da bist, mein Anne- Mädchen", sagte er zwischen zwei Küssen.
„Findest du es nicht übertrieben nach zwei Tagen getrennt sein so einen Wirbel zu machen?" fragte Anne, die sich der Blicke der Umstehenden allzu bewusst war.
„Ich liebe dich eben immer noch wie am ersten Tag. Du hast mir diese Gefühle schließlich sprichwörtlich eingeprügelt", erinnerte er sie schmunzelnd an die zerdepperte Schiefertafel.
Sie ergab sich seiner Begrüßung und ließ sich zum Automobil führen. Walther brachte das Gepäck.
Als sie in Ingleside vorfuhren und hielten, nahm Gilbert ein Tuch aus dem Handschuhfach und band es einer erstaunten Anne um die Augen.
„Ist das wegen der Überraschung?" fragte Anne.
„Ich wußte doch, dass unsere liebe Mrs. Wright plaudert."
Er half der blinden Gemahlin aus dem Automobil und führte sie nach hinten in den Garten, wo das Gewächshaus im Sonnenlicht funkelte.
„Tara", sagte er und lüftete die Augenbinde.
Anne war einen Augenblick sprachlos angesichts des gläsernen Gebäudes.
„Ein Gewächshaus in meinem bescheidenen Inglesider Garten", jubelte sie.
„Ach Gilbert, du bist so ein Schatz!"
Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn gnadenlos, konnte sie doch hier keiner sehen.
„Und genau richtig, um viele schöne Sachen darin anzubauen. Ich muss dann gleich in mein Gartenbuch schauen, wofür so ein Gewächshaus sich gut eignet."
Gemeinsam gingen sie ins Haus und Anne begrüßte nun Susan und Rilla, die in der Küche saßen.
„Du siehst aber nicht sehr fröhlich aus, meine Rilla", bemerkte Anne.
„Ein Brief von Kenneth", antwortete das Blythsche Nesthäkchen und zeigte dicht beschriebene Seiten.
„Nanu, seit wann ist das ein Grund für Kummer?"
„Er schafft es nicht, den im Krieg verpassten Stoff bis zum Examen aufzuholen. Deswegen muss er es um ein Jahr verschieben und nun glaube ich, dass aus der Heirat zu Weihnachten nichts wird."
„Dann wartet ihr eben bis zum nächsten Sommer."
„Ich habe das Warten satt! Ich habe einen ganzen Krieg lang gewartet", sagte Rilla heftig und ging.
Anne folgte ihrer Tochter etwas verwundert. Sie fand ihre Jüngste in ihrem Zimmer, wo sie weinend auf ihrem Bett lag. Anne´s anfängliche Verärgerung über Rillas Benehmen wurde mit der Tränenflut davon gespült. Stattdessen fühlte sie nun Mitleid für den Kummer des Nesthäckchens.
„Ich weiß wie schwer warten ist, meine Kleine. Dein Vater und ich waren damals auch drei Jahre verlobt, bevor wir heiraten konnten."
„Aber du hast nicht vorher noch drei Jahre lang zittern müssen, ob er überhaupt aus dem Krieg heimkehrt."
„Da hast du Recht. Aber wenn du wirklich nicht mehr warten möchtest, gibt es doch eine ganz einfache Lösung: ihr heiratet wie geplant zu Weihnachten hier auf Ingleside. Und dann begleitest du ihn bis zum Sommer nach Montreal!"
Rilla setzte sich auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und strahlte ihre Mutter an.
„Das ich da selbst nicht drauf gekommen bin. So machen wir es. Ich muss ihm gleich schreiben."
Sie küsste ihre Mama herzhaft und wirbelte dann zu ihrem Schreibtisch. Anne ging leise aus dem Zimmer.
