10. Neue Aufregungen

Zum Abendessen herrschte auf Ingleside wieder Friede, Freude und Eierkuchen.

Noch während des Hauptganges schrillte das Telefon und mit unheilverheißender Miene ging Susan, um den Anruf entgegen zu nehmen. Als die Haushälterin zurückkehrte, war ihre Miene besänftigt und eher aufgeregt.

„Herr Doktor, Mr. Elliot hat angerufen. Miss Cornelia ist die Treppe hinunter gestürzt. Sie sollen sofort kommen!"

Gleichzeitig sprangen Gilbert und Walther auf. Dr. Blythe holte seine Arzttasche, Walther das Automobil aus dem Stall.

„Soll ich mitkommen?" fragte Anne, die an der Haustür auf ihren Mann wartete.

„Nein, falls ich Hilfe brauche, schicke ich nach Faith. Ruh du dich von der Bahnfahrt aus", antwortete er, während Anne ihm in den Mantel half.

Ein kurzer Abschiedskuss, dann war er weg und Walther kam herein.

Schweigend aß man zu Ende.

Anne lag wach in ihrem Bett. Es war nach Mitternacht und Gilbert immer noch nicht heimgekehrt. Das verhieß nichts gutes.

Sie war gerade eingenickt, als sie das leise Knarren der Tür hochschrecken ließ. Gilbert schlich herein. Anne setzte sich auf.

„Nun habe ich dich doch geweckt."

„Nein, ich war nur gerade etwas eingedöst. Ich habe noch kein Auge zugemacht vor Sorgen. Wie steht es um Miss Cornelia?"

„Es war wirklich ein schlimmer Sturz. Sie ist die ganze Treppe hinunter gepoltert, als ihr schwarz vor Augen wurde. Sie hat eine leichte Gehirnerschütterung und einen Oberschenkelhalsbruch."

„Was ist das den?" erkundigte sich Anne, die von einer solchen Fraktur in Gilbert´s Patientenkreis noch nie gehört hatte.

„Der Hüftknochen ist an der Stelle gesprungen, wo das Bein im Hüftgelenk liegt. Das lässt sich nur bei einer Operation richten, aber Miss Cornelia weigert sich ins Krankenhaus zu gehen. Selbst als ich ihr sagte ohne den Eingriff müsse sie monatelang einbandagiert das Bett hüten!"

„Ist es wirklich so schlimm?"

„Ja, leider. Ein Hüftknochen wächst sehr schlecht zusammen ohne entsprechende Hilfeleistung durch einen chirurgischen Eingriff. Erschwerend kommt hinzu, dass Miss Cornelia im fortgeschrittenen Alter und eine Frau ist."

„Wenn sie sich von dir nicht helfen lassen will, dann müssen wir anderen uns etwas einfallen lassen", sagte Anne.

Dann gab sie ihrem Gilbert einen Gute- Nacht- Kuss, kuschelte sich in ihr Bettzeug und schlief bald tief und fest.

Beim Frühstück war Miss Cornelias Unfall Gesprächsthema Nummer eins. Da es um eine enge Bekannte der Familie ging, konnte man von Gilbert hier keine ärztliche Schweigepflicht erwarten.

„Nun, liebe Frau Doktor, wie es aussieht, werde ich dann wohl einige Zeit Mrs. Elliots Haushalt übernehmen müssen, damit der arme Mann und natürlich Mrs. Elliot etwas anständiges zu Essen bekommen."

„Das willst du tun, Susan?" fragte Anne etwas erstaunt.

„Auf Ingleside ist kaum noch etwas zu tun seit hier keine sechsköpfige Kinderschar mehr herumspringt. Und was so anfällt, kann man getrost Rilla überlassen."

Die junge Frau fühlte sich geschmeichelt angesichts Susans Kompliment:

„Und ich werde für Miss Cornelia nach Mary Vance und dem Babys schauen."

Auch das war ein würdigungswerter Vorschlag, kannte man doch Rillas Abneigung gegen Mary Vance, die sie vor Jahren mit einem Fisch durch ganz Glen getrieben hatte.

„Dann übernehme ich Miss Cornelias Anteil an den Hilfsprojekten und die Näharbeiten, die sie für die Kinder sämtlicher armer Familien in und um Glen betreibt", schloss Anne sich an.

„Ich helfe Susan beim Umzug und erledige die Einkäufe, damit Susan nicht immer den weiten Weg zwischen dem Haus der Elliots und Carter Flaggs Laden zurücklegen muss", beendete Walther das Hilfsangebot.

Und so fuhr Susan am Nachmittag mit Walther in der Kutsche hinaus zum Haus der Elliots, wo zusätzlich eine Krankenschwester versorgt werden musste, die Miss Cornelias Pflege übernommen hatte.

Rilla machte ihren ersten Besuch bei Mary Vance. Deren kleine Tochter war seit ihrer Geburt im Oktober fast ständig krank: entweder sie hustete, oder war verschnupft, oder beides. Sie nahm sehr wenig zu und trank kaum bei den Mahlzeiten. Auch den Brei, zu den Miss Cornelia ihrer Adoptivtochter geraten hatte, zeigte kaum Wirkung. Das Gesicht der kleinen Cornelia- Mary war ständig blass und fast durchscheinend. In ihrer weißen Babystrickkleidung war sie kaum erkennbar.

Mrs. Douglas Haushalt verschluderte mehr und mehr, da sie sich den ganzen Tag nur um das unruhige, meist schreiende Kind kümmern musste.

Anne saß im Wohnzimmer von Ingleside und plante derweilen den anstehenden Nähzirkel, der eigentlich im Haus der Elliots hatte stattfinden sollen.

Am Abend gab es nur ein paar kalte Reste. Anne, so sehr an ihre Küchenhilfe gewöhnt, hatte erst ans Abendessen bereiten gedacht, als Gilbert heimkam. Da weder Walther noch Rilla zur Mahlzeit erschienen, belegte Anne nur schnell ein paar Brote mit Bratenresten und brühte frischen Tee.

Ihr Gilbert war auch mit diesem bescheidenen Abendessen, das sie gemütlich vor einem kleinen Kaminfeuer verspeisten, zufrieden.

Bald darauf betraten Walther und Rilla das Haus. Er hatte bei den Elliots zu Abend gegessen und verspürte nun nicht den Wunsch nach Geselligkeit, so dass er sich auf sein Zimmer zurückzog.

Rilla dagegen nahm sich eins der übrig gebliebenen Brote und setzte sich zu ihren Eltern.

„Papa, kannst du nicht morgen mal nach dem Douglas- Baby schauen? Es hat heute ganz furchtbar gekeucht und gehustet. Man hat jeden Atemzug gehört." bat sie.

„Natürlich. Wenn ich gewusst hätte, das es der Kleinen so schlecht geht, wäre ich schon längst wieder einmal bei den Douglas vorbei gegangen. Aber die Eltern haben mich noch nie darum gebeten, höchstens einmal Miss Cornelia."

„Und wie sieht es sonst so aus bei den Douglases?" erkundigte sich Anne aus Mitgefühl, nicht aus Neugier, wie es vielleicht eine Mrs. Lynde getan hätte.

„Miller ist den ganzen Tag in Flaggs Laden. Er ist sogar alle seine Mahlzeiten dort. Kein Wunder, wenn ihr mich fragt. Mary kocht ja nichts mehr. Ihre Küchenschränke sind total leer! Sauberes Geschirr hätte sie auch keins mehr gehabt. Also habe ich heute abgewaschen und wenigstens ein paar Kleinigkeiten in Flaggs Laden bestellt, die Miller mitbringen soll. Dann habe ich wenigstens in den unteren Etagen etwas Staub gewischt und die Böden geschrubbt und die obere Etage gelüftet. Die Zimmer dort mache ich morgen sauber. Und dann schicke ich Mary an die frische Luft und kümmere mich derweilen um das Baby. Mary ist auch schon totenblass."

Zum Glück war Bertha Marilla am nächsten Morgen früh ausgestanden, um Frühstück zu machen, den die Hausherrin hatte verschlafen.

Als man ungewohnter Weise wirklich einmal ganz „in Familie" am Tisch saß, sagte Anne:

„Ich bin wirklich zu verwöhnt von Susans Hilfe. Hätte Rilla nicht Frühstück gemacht, begänne die Sprechstunde heute verspätet. Danke, mein Mädchen."

„Ist doch in Ordnung, Mutti. Aber ums Mittagessen musst du dich selbst kümmern. Ich will dann gleich zu den Douglases. Es gibt viel zu tun."

„Ich muss erst mal sehen, was Susan so in der Speisekammer zurückgelassen hat", sagte Anne.

Nachdem die Frauen den Frühstücksabwasch erledigt hatten, verabschiedete sich Rilla und Anne durchstöberte die Speisekammer, die außer Kartoffeln, Mehl, Zucker, Eiern, Butter und einem kleinen Stück Käse kaum noch etwas bot. Sie bat Walther sie zum Einkaufen in Carter Flaggs Laden zu begleiten und so gingen Mutter und Sohn bald darauf die Hauptstrasse nach unten.

„Da kann ich gleich die Besorgungen für Susan erledigen und heute Nachmittag hinausbringen", sagte Walther.

„Da fahre ich mit um Miss Cornelia zu besuchen. Warst du gestern an ihrem Krankenbett?"

„Ich habe bloß kurz guten Tag gesagt. Sie ist mir irgendwie immer noch fremd, obwohl ich sie fast ebenso lang kenne wie euch."

Da Anne merkte, dass ihn dieser Gedanke wieder traurig stimmte, wechselte sie schnell das Thema.

„Ist dir schon was eingefallen, was du nun weiterhin tun möchtest?"

„Ich habe mir überlegt aufs Queens zu gehen, um ein Lehrerexamen zu machen. Das Jahr, was ich dort absolviert habe, ist aus meinen Erinnerungen gelöscht und ich weiß nicht, ob ich mit dem Diplom, das ich schon habe, einfach so einen Lehrerposten ausfüllen könnte."

„Das ist doch eine sehr gute Idee. Du müsstest dich nur bald am College melden, damit man dich zur Aufnahmeprüfung vormerkt."

„Ich habe schon einen entsprechenden Brief abgeschickt."

Schweigend gingen wie weiter und erreichten bald Carter Flaggs Laden, wo sie ihre Einkäufe tätigten. Mit vielen Taschen beladen, traten sie dann den Heimweg an.

Walther leistete seiner Mutter in der Küche Gesellschaft, als diese das Mittagessen zubereitete.

Während sie Fleisch für einen Eintopf kochte und Gemüse zerschnipselte, saß er am Tisch und schrieb in sein Notizbüchlein.

„Auf dem Dachboden steht auch noch deine alte Schreibmaschine", fiel Anne da ein.

Man hatte sie nach der Nachricht von seinem Tod dorthin verbannt, um nicht ständig an den Verstorbenen erinnert zu werden.

„Da gehe ich gleich mal nachschauen", sagte Walther, schloss das Heft und begab sich mit diesem hinaus. Dabei hätte Anne zu gern mal einen Blick hineingeworfen. Sie war sehr neugierig, womit er da Seite um Seite füllte.

Bald darauf ertönte Schreibmaschinengeklapper im Haus.

„Irgendwie haben mir diese Geräusche gefehlt und ich habe es gar nicht gemerkt", dachte Anne für sich und zerschnitt fröhlich das gegarte Rindfleisch.

Pünktlich stand heute ein dampfender, wohlriechender Eintopf aus dem Tisch, als Gilbert aus der Sprechstunde kam.

„Du hast das Kochen nicht verlernt, mein Anne- Mädchen", lobte der Arzt.

„Danke. Ich bin froh, dass er mir gelungen ist."

„Nach dem Essen fahre ich gleich als erstes zu den Douglases und dann zu den Elliots. Soll ich etwas mitnehmen?"

„Du könntest du Susans Besorgungen und Mutter mitnehmen. Dann könnte ich heute Nachmittag weiter schreiben. Ich fühle mich gerade in der Stimmung dazu."

„Ja, das ist eine gute Idee", stimmte Ann zu. „Der Abwasch hat Zeit bis heute Abend."

So fuhr Anne also mit ihrem Mann nach dem Mittagessen im Automobil davon, während Walther sogleich an die Schreibmaschine zurückkehrte. Den ganzen Nachmittag war in Ingleside ununterbrochenes Tastengeklapper zu hören, das aber nun keinen störte.

Anne begleitete Gilbert bei seinem ersten Krankenbesuch. Rilla öffnete ihren Eltern die Haustür und bedeutete ihnen leise einzutreten.

„Mary ist gerade eingeschlafen. Sie hat die ganze Nacht beim Baby gewacht, darum habe ich sie ins Bett geschickt."

Sie gingen zu dritt ins Wohnzimmer, wo die kleine Cornelia- Mary schwer atmend in einem Körbchen lag. Mit besorgtem Gesicht untersuchte der Arzt das zierliche Mädchen.

„Was hat sie heute zu sich genommen?" fragte Dr. Blythe.

„Mary hatte sie zwei Mal gestillt, bevor ich kam und ich habe ihr vorhin eine ganz kleine Portion Brei geben können."

„Es sieht nicht gut aus. Das Mädchen ist total unterernährt, weil sie nicht genug Kraft zur Essensaufnahme hat. Das Herz schlägt nur schwach und unregelmäßig. Ich fürchte eine Fehlbildung des Organes, die über kurz oder lang zum Tod führt."

Erschrocken schlug Rilla die Hand vor den Mund.

„Kann man gar nichts tun? Vielleicht, wenn man sie im Krankenhaus genauer untersuchen würde?" fragte Anne.

„Nein, ein hoffnungsloser Fall. Ich glaube es ist auch für das Kind eine Gnade, wenn es stirbt. Die Kleine quält sich durch ihr Erdendasein."

„Wie soll ich das Mary nur beibringen", sagte Rilla mit tränenerstickter Stimme.

„Und Miss Cornelia wird es auch schwer treffen. Die Kleine war fast wie ein leibliches Enkelkind für sie", fügte Anne hinzu.

„Ich schlage vor, wir behalten Cornelia- Marys Zustand erst einmal für uns. Nachdem ich bei Miss Cornelia war, fahr ich im Krankenhaus vorbei und versorge Säuglingsnahrung. Es gibt da ein Milchpulver, das als Muttermilchersatz sehr gut geeignet ist und mit der Flasche fällt es dem Mädchen vielleicht leichter zu trinken. Damit sie besser atmen kann, solltest du ein Tuch, das in Thymiansud gekocht wurde, ans Bett hängen, Rilla. Mehr kann man im Moment nicht tun. Ich komme dann mit dem Milchpulver und Flaschen wieder her", sagte Gilbert abschließend.

Dann ging er mit Anne hinaus.

Zunächst schweigend fuhr das Arztehepaar aus Glen hinaus.

„Anne, ich muss dich darauf vorbereiten, dass Miss Cornelias Zustand nicht sehr gut ist. Sie hat starke Schmerzen und bekommt deswegen entsprechende Mittel. Vielleicht könntest du noch ein gutes Wort bezüglich der Verlegung ins Krankenhaus einlegen. Die bisher ertragenen Torturen haben sie eventuell so weit geläutert, dass sie sich überzeugen lässt."

„Ich werde es versuchen, Gil, aber du weißt ja wie hartnäckig sie ist."

Als sie am Haus der Elliots ankamen, stand gerade Susan vor der Tür und schüttelte eine Decke aus.

„Liebe Frau Doktor, schön sie zu sehen", begrüßte die Haushaltsperle Anne.

„Ich freue mich auch dich wohlauf zu sehen. Du scheinst dich also mit deinen neuen 'Herrschaften' zu vertragen", scherzte Anne.

„Mrs. Cornelia sehe ich ja fast kaum und auch Marshall Elliot lässt sich nur zu den Mahlzeiten sehen."

„Wir haben dir die Sachen mitgebracht, die Walther versorgen sollte", sagte Gilbert und reichte Susan einen Korb.

„Vielen Dank. Ich habe schon darauf gewartet. Und eine neue Einkaufsliste hätte ich auch."

„Die nehme ich dann mit. Ich gehe erst einmal mit Gilbert hoch zu Miss Cornelia."

Anne folgte ihrem Mann die Treppe nach oben, die Mrs. Elliots Verhängnis gewesen war, und trat hinter ihm ins Krankenzimmer. Die Krankenschwester sprang sogleich aus dem Sessel auf, in dem sie mit einem Buch über die Kranke gewacht hatte.

„Sie ist gerade eingeschlafen", erklärte die medizinische Angestellte.

„Dann gehen wir am besten nach unten und trinken erst eine Tasse Tee mit Susan", flüsterte Dr. Blythe und verließ mit Anne das Zimmer.

Fast eine Stunde plauderten das Doktorpaar und ihre Angestellte am Elliot´chen Küchentisch bei Tee und Gebäck. Dann kam die Krankenschwester nach unten, um Bescheid zu geben, dass die Patientin nun wach sein.

„Trinken sie hier eine Tasse Tee und machen sie einen kleinen Spaziergang. Ich helfe meinem Mann und bleibe dann eine Weile bei ihr", sagte Anne und schob dieser einen Stuhl zu.

„Keine Sorge, die Frau Doktor macht das schon. Die hat sechs Kinder, die kennt sich mit Krankenpflege fast so gut aus wie eine Gelernte", beruhigte Susan die medizinische Angestellte.

Anne betrat das Krankenzimmer, wo Gilbert bereits mit der Untersuchung begonnen hatte.

„Sie haben sich wieder zu sehr bewegt, Miss Cornelia. So kann der Bruch niemals heilen."

„Versuchen sie doch mal ununterbrochen ruhig zu liegen. Mir tut schon der Rücken weh von der Herumliegerei", nörgelte die Patientin.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen trat Anne ans Bett der Freundin.

„Liebe Anne, sag deinem Mann er soll mich nicht dauernd ausmeckern. Er weiß gar nicht wie schwer ich es habe."
„Liebe Miss Cornelia, sie könnten es viel einfacher haben, wenn sie sich im Krankenhaus operieren lassen würden", sagte Anne besänftigend.

„Nur über meine Leiche", stieß diese heftig hervor.

„Das kann schneller gehen, als sie denken", sprach Dr. Blythe, nun auch etwas aufgebracht.

„Ich kann hier absolut nichts für sie tun. Sie werden ihr restliches Leben mit schlimmen Schmerzen in diesem Bett verbringen", erklärte er ihr das bevorstehende Martyrium.

„Ich lasse nicht an mir herum schnipseln", verteidigte Miss Cornelia ihre Position.

„Es wäre nur ein kleiner Schnitt, damit wir an den Beckenknochen kommen, um ihn zu schienen. Sie müssten dann nicht so lange das Bett hüten und könnten im besten Fall genauso gut laufen wie vor dem Sturz."

„Nein", beharrte die Patientin.

„Aber mehr als die übliche Ration Schmerzmittel kann ich ihnen nicht verabreichen und bald wird ihr Körper sich darauf eingestellt haben. Dann hilft nur noch Morphium und das macht in kürzester Zeit süchtig", warnte Dr. Blythe. Dann klappte er seine Arzttasche zu und ging hinaus.

Auf dem Flur wartete er auf seine Frau, die auch sogleich aus dem Zimmer kam.

„Musstest du so hart sein?" tadelte sie ihn.

„Ich bin Arzt und verpflichtet die Wahrheit zu sagen und die sieht nun einmal so aus, wie ich sie beschrieben habe."

„Gut, beruhige dich. Ich rede noch einmal mit ihr, Holst du mich später ab?"

„Ja. Ich fahre ins Krankenhaus und komme auf dem Rückweg vorbei", sagte Gilbert und küsste seine Frau flüchtig auf die Wange.

Anne sah ihm nach, wie er die Treppe hinunterging und kehrte dann mit nachdenklichem Sinn ins Krankenzimmer zurück.

„Es ist zwar sehr schön dich zu sehen, liebe Anne, aber dein Gesichtsausdruck stimmt mich nicht gerade heiter", begrüßte Miss Cornelia sie.

Mit einem Seufzer ließ sich die Besucherin in den Sessel nieder.

„Sie machen es einem auch nicht sehr leicht, heiter zu sein, Miss Cornelia."

„Das wird schon wieder. Der Herr Doktor malt da viel zu schwarz!"

„Ihr Optimismus in allen Ehren, aber in dieser Angelegenheit sollten wir doch auf Gilberts Sachverstand vertrauen."

„Liebe Anne, versuche du bloß nicht auch noch mich zu beschwatzen. Meine Meinung steht felsenfest. Das ist vergeudeter Atem, das kannst du mir glauben."

„Aber Miss Cornelia, wenn Gilbert recht hat und sie für immer bettlägerig bleiben, wissen sie denn nicht was das für alle bedeutet? Sie werden doch gebraucht! Marschall braucht sie, Mary Vance und das Baby, all die armen kleinen Babys der Fischerfamilien, die ihnen ihre Kleidung verdanken, das Hilfswerk und der Nähzirkel", zählte Anne auf.

„Dann müssen die eben mal eine Zeit lang ohne mich auskommen. Ich bin schließlich nicht unersetzlich!"

„Doch, dass sind sie. Ich habe es erst heute wieder bemerkt. Mir fehlt meine Küchenhilfe, da diese ihren Mann bekocht, und bei mir geht es schon drunter und drüber. Ich habe noch nicht ein Stück an ihrer Stelle genäht, wo sie schon ein Hemdchen fertig hätten. Und um Mary Vance steht es sehr schlecht. Rilla hilft ihr gerade ein wenig, aber der Armen stehen schwere Zeiten bevor."

Nach kurzer Überlegung beschloss Anne die Diagnose des Babys zu verraten.

„Mary Vance wird sie bald sehr nötig haben. Dem Baby geht es sehr schlecht. Man weiß nicht wie lange es noch zu leben hat und man kann rein gar nichts für das Würmchen tun. Aber sie, Miss Cornelia, sie können gesund werden, wenn sie nur einmal über ihren eigenen Schatten springen."

„Das würde ich ja gern, liebe Anne, aber in meinem Zustand sehr schlecht möglich", scherzte die Kranke ironisch, bevor sie in tiefes Grübeln über Annes Rede versank.

Es blieb nun sehr lange ruhig im Krankenzimmer und als es unten hupte, sagte Anne aufstehend:

„Ich muss nun gehen, Gilbert ist zurück. In zwei Tagen sehe ich wieder nach ihnen. Überlegen sie es sich gut."

„Danke für deinen Besuch, liebe Anne", verabschiedete sich Miss Cornelia, die nachdenklich zurückblieb.

„Alles in Ordnung bei dir?" fragte Dr. Blythe, als seine Frau mit besorgtem Gesicht zu ihm ins Automobil gestiegen war.

Anne beichtete ihm, dass sie Miss Cornelia die Wahrheit wegen Marys Baby gesagt hatte.

„Wer weiß wozu es gut ist", sagte Gilbert nur und fuhr los.

Am Haus der Douglases angekommen, brachte der Arzt das versorgte Milchpulver und die Flaschen hinein. Nachdem er Rilla mit den nötigen Instruktionen zur Milchzubereitung und Fütterung versehen hatte, fuhr er mit Anne nach Hause.

11. Das Blatt wendet sich

„Ich bereite das Abendessen", sagte Anne, als sie Ingleside erreichten und ging ins Haus.

Gilbert fuhr den Wagen in den Stall und nahm eins der Pferde, um mit ihm einen kurzen Ausritt zu machen. Seit die Kutsche nur noch selten gebraucht wurde, musste den Pferden so etwas Auslauf verschafft werden.

Anne hatte sich in der Küche gerade eine Schürze umgebunden, als das Telefon klingelte. Mr. Elliot rief an um auszurichten, dass seine Frau sich nun doch mit einer Operation einverstanden erklärt hatte.

„Gott sei dank", sagte Anne aufatmend. „Das sind gute Neuigkeiten. Gratulieren sie ihrer Frau zu dieser Entscheidung und grüßen sie sie. Ich gebe Gilbert Bescheid. Er wird alles weitere veranlassen."

Beim Abendessen berichtete Mrs. Blythe ihrem Mann vom Sinneswandel der Patientin.

„Ohne dich hätte sie es nie eingesehen", meinte der Arzt.

„Vielleicht hat Marys Baby doch den Ausschlag gegeben", sinnierte Anne.

„Ich werde dann gleich in der Klinik Bescheid geben und einen Krankentransport für morgen vormittag bestellen. Dann kann Miss Cornelia gleich morgen mittag operiert werden."

Und so geschah es dann auch. Gilbert organisierte alles und informierte dann die Familie Elliot über die getroffenen Absprachen.

„Hoffentlich geht alles gut", sagte Anne, als sie nachts neben Gilbert im Bett lag.

„Das Risiko des Eingriffs ist verschwindend gering in Anbetracht des Nutzens", beruhigte er sie.

„Ich würde es mir nie verzeihen, wenn etwas schief ginge. Schließlich habe ich Miss Cornelia zu dem Eingriff überredet", meinte Anne schwarzseherisch.

Am nächsten Nachmittag lief Anne nervös durchs ganze Haus. Sie war beunruhigt wegen der Operation, zu der sie Miss Cornelia geraten hatte. Walther klimperte auf der Schreibmaschine und Rilla war bei den Douglases, so dass niemand da war, um Anne zu beschwichtigen. Gilbert war gleich nach der Sprechstunde, ohne Mittagessen, ins Krankenhaus gefahren und seine Frau wartete nun auf Nachricht von ihm.

Doch es dämmerte bereits, und Rilla kehrte von einem anstrengenden Tag in Marys Haus zurück, ohne dass Gilbert anrief. Die Tochter, die ihrer Mutter die Erregung ansah, kochte ihr einen beruhigenden Tee und nötigte sie am Kamin Platz zu nehmen.

„Ich mache derweilen das Abendessen und höre aufs Telefon", sagte sie und ging nach unten.

Anne trank den Tee in kleinen Schlucken und leistete dann ihrer Tochter in der Küche Gesellschaft.

Rilla, Walther und ihre Mutter saßen bei einem Abendessen aus aufgewärmten Eintopf und belegten Broten als Gilbert endlich heimkehrte. Anne lief zur Tür. Der Arzt kam durch die Tür, die zum neu entstandenen Vorraum führte, sein Gesicht sah besorgt aus. Ihr Herz krampfte sich unheilahnend zusammen.

„Was ist passiert?" fragte sie mit zitternder Stimme.

„Es gab Komplikationen. Miss Cornelias Herz hat die Narkose nicht gut verkraftet."

„Ist sie tot?" flüsterte Anne.

„Nein, aber noch nicht aus der Bewusstlosigkeit erwacht. Ein Phänomen, das man des öfteren bei schweren Eingriffen beobachtet hat."

„Und was heißt das?" bat die Arztfrau um Erklärung.

„Bei den mir bekannten Fällen gibt es eine fünfzigprozentige Chance das der Patient erwacht und sich wieder erholt."

„Und die anderen fünfzig Prozent?" wagte sie kaum nachzufragen.

„Sterben gleich oder liegen einige Zeit bei künstlicher Ernährung und pflegebedürftig im Bett, bis der Tod auch sie erlöst."

Anne schlug sie Hände vors Gesicht.

„Das ist alles meine Schuld. Hätte ich Miss Cornelia nur nicht zu der Operation geraten."

Gilbert schloss sie in die Arme.

„Das war nicht voraus zu sehen. Bei einem Patienten, der noch nie in Narkose lag, kann man schlecht einschätzen wie lange er diesen künstlichen Schlaf erträgt."

Er führte seine Frau ins Speisezimmer und drückte sie auf einen Stuhl. Walther und Rilla, die alles angehört hatten, sahen ihnen etwas bleich entgegen.

„Wenn das Mary erfährt! Ich weiß nicht, wie sie das verkraften soll", sagte Rilla.

In bedrückter Stille wurde das Abendessen fortgesetzt. Danach verzog sich Gilbert ins Arbeitszimmer, um in seinen Fachbüchern alles über tiefe Bewusstlosigkeit nach Operation, später als Wachkomma bekannt geworden, herauszusuchen. Anne und Rilla erledigten schweigend den Abwasch. Dann setzte Mrs. Blythe sich an den Kamin und Rilla suchte Walther auf. Der hatte sich nach der Mahlzeit auf sein Zimmer verzogen und saß träumend auf seinem Bett.

„Woran denkst du?" fragte Rilla und nahm neben ihrem Bruder Platz.

„Von meiner Zukunft. Ich überlege, was ich daraus mache."

„Und, was willst du tun?"

„Erst einmal ein Lehrerexamen machen, wenn ich am ' Queens ' angenommen werde. Und dann unterrichten, vielleicht versuche ich nebenbei ein Buch zu veröffentlichen."

„Von was wird es handeln? Hast du schon eine Idee?"

„Ich schreibe schon daran und verwende dazu Mutters Lebensgeschichte."
„Deswegen hörst du dir so geduldig ihre Erzählungen an und löcherst sie wegen ihrer Jugend!"

„Vater hat ja nie Zeit. Die Geschichte mit der Schiefertafel, die Mutter auf seinem Kopf zerdeppert hat, würde ich schon noch gern aus seiner Sicht hören."

„Als einziger Arzt in Glen und Umgebung hat er eben viel zu tun. Vielleicht kann Jem ihm ab Herbst unter die Arme greifen, wenn er seinen Abschluss hat", meinte Rilla.

„Dr. James Matthew Blythe, klingt doch beeindruckend, oder?"

„Hättest du auch gern einen Doktortitel?"

„Oh nein, Rilla- meine- Rilla, ich halte es da wie du: nicht mehr lernen als nötig. Und irgendwo schlummert sicher noch das Wissen, das ich vorm Krieg am Redmonds College erworben habe. Ich fühle mich zu alt dorthin zurückzukehren und meine Studien von vorne zu beginnen", erklärte er.

„Und wie steht es in Herzensangelegenheiten?"

„Ich glaube nicht, dass ich das meiner kleinen Schwester anvertrauen kann", neckte er sie.

Rilla tat beleidigt und boxte ihm spielerisch in die Seite.

„Dann erzähle ich auch nichts mehr von Kenneth", drohte sie.

„Das hältst du nie durch. Irgend jemanden musst du doch von ihm vorschwärmen", antwortete Walther lachend.

„Du wirst es schon sehen!"

„Nein, ich will ehrlich zu dir sein. Da mein Herz ja frei von Erinnerungen an Mädchen ist, die ich zurückgelassen haben könnte, gibt es da schon eine junge Frau, die mir gefallen würde."

„Wer?" bohrte Rilla neugierig nach.

„Mrs. Flagg", sagte Walther, um einen ernsten Tonfall bemüht.

„Oh du Lügner", rief Rilla und warf sich erbost auf ihn.

Sie kugelten spielerisch raufend übers Bett und plumpsten zu Boden. Lachend saßen die Geschwister dann nebeneinander auf der Holzdiele.

Dann wurde Walther wieder ernst und auch Rilla hörte auf mit Lachen.

„Una Meredith gefällt mir, aber ich fürchte ich habe sie vor den Kopf gestoßen. Sie hat sich seit Januar nicht wieder in Ingleside blicken lassen und vergeblich habe ich an den Wochenenden, wo ich sie zu Hause wusste, im Regenbogental auf sie gewartet."

„Ja, du hast mir von eurem Gespräch gleich am ersten Tag des Jahres berichtet. Una hat aber deswegen nie ein Wort zu mir gesagt, wenn wir uns trafen. Vielleicht hast du sie wirklich gekränkt."

„Aber wieso? Du musst doch wissen, was zwischen ihr und mir vor dem Krieg war."

„Ja, ich weiß es. Aber bevor ich dir mehr sagen kann, muss ich Una fragen, ob sie meine Vermittlung wünscht. Und es ist ihr ernst mit ihr? Sie ist meine beste Freundin!"

Walther überlegte.

„Ich kenne sie ja kaum, zumindest für meine derzeitigen Begriffe. Aber sie gefällt mir, so wie ich sie bisher kennen gelernt habe. Um mehr zu erfahren, müsste ich sie wenigstens ab und zu sehen."

„Ich werde sehen, was ich machen kann. Aber nun gehe ich schlafen. Morgen wird wieder ein harter Tag."

Rilla küsste ihren Bruder auf die Wange und ging gähnend hinaus.

Er sah ihr nach und begann dann ebenfalls sich auf die Nachtruhe vorzubereiten. Als er aus dem Raum trat, um zum Badezimmer zu gehen, sah er noch Kerzenschein durch die leicht geöffnete Wohnzimmertür. Er trat ein und fand seine Mutter am Ofen sitzend, die Hand auf Magogs Kopf gelegt, der, natürlich mit seinem Gefährten Gog, nach oben gezogen war. Anne blickte nachdenklich vor sich hin. Ihre Stirn war in Falten gelegt, die ihre Besorgung verrieten.

„Du denkst an Miss Cornelia?" fragte Walther leise, um seine Mutter nicht zu erschrecken.

Er kniete sich neben ihren Sessel und nahm ihre Hand.

„Wenn sie nun nie wieder aufwacht? Dann ist es meine Schuld!"

„Nein, dann war es Gottes Wille. Du warst nur sein Werkzeug. Und du hast Vater gehört: Diese Komplikation war nicht vorher zu sehen. Du machst dich nur krank, in dem du dir Schuldgefühle einredest. Das einzige was nun hilft, ist beten. Damit hilfst du vielleicht mehr als mit Selbstvorwürfen."

„Ja, du hast Recht, Walther. Ich danke dir für deine guten Worte. Geh nun schlafen, ich geh auch zu Bett. Wer weiß wie lang dein Vater noch über seinen Büchern eine Lösung ergrübelt."

Leider änderte sich an Miss Cornelias Zustand auch in den nächsten Tagen nichts. Marshall Elliot war verzweifelt und mochte keinen um sich dulden. Er schickte Susan nach Ingleside zurück, was diese natürlich kränkte.

„Keine zehn Pferde bringen mich wieder in dieses Haus. Undank ist der Welten los", sagte sie beleidigt zu Anne, als sie mit ihrer Reisetasche ins Haus kam.

Walther hatte sie mit der Kutsche abgeholt, da Gilbert mit dem Automobil zum Krankenhaus gefahren war.

„Wo ist den Rilla? Immer noch bei den Douglases?" erkundigte sich die Haushaltsperle.

„Ja, sie ist jeden Tag von früh bis abends dort", antwortete Anne und nahm ihrer Angestellten die Tasche ab.

„Die bringe ich für dich in dein Zimmer. Trink erst einmal eine Tasse Tee zur Beruhigung. Ich habe gerade frischen aufgebrüht."

Mit diesen Worten nahm die Frau Doktor das Reisegepäck und brachte sie in Susans Kammer.

Dann gönnte auch sie sich eine kleine Erfrischung in der Küche.

Das Telefon klingelte und Anne sprang auf, um den Anruf entgegenzunehmen.

„Anschluss von Dr. Blythe, Mrs. Blythe am Apparat", meldete sie sich.

„Mutti, ist Vati da?" hörte sie Rilla am anderen Ende entsetzt fragen.

„Nein, der ist in der Klinik. Was ist los."

„Das Baby, das Baby", rief die junge Frau verstört. „Es keucht nur noch und läuft blau an."

„Ich komme", sagte Anne, warf den Hörer auf die Gabel und stürmte ohne Mantel und Hut davon.

Es war zum Glück warm geworden und in ihrer Eile wäre Anne auch gar nicht kalt geworden. Verwundert schauten die Passanten der grußlos vorbei stürmenden Arztgattin nach.

Völlig außer Atem erreichte Mrs. Blythe das Haus, aus dem der Notruf gekommen war. Rilla stand in der Eingangstür und hielt das Baby im Arm. Anne sah sofort wie schlimm es stand. Das Keuschen war in ein flaches, kaum wahrnehmbares Atmen abgewandelt, der kleine Kopf ganz bläulich.

„Wo ist Mary?" fragte sie, während sie Rilla ins Haus führte.

„Ich habe sie einkaufen geschickt. Aber ich habe schon in Flaggs Laden, beim Metzger und auf dem Postamt angerufen, nirgend war sie anzutreffen. Sie hatte sich auch noch in keinem der Geschäfte blicken lassen."

Das Babys japste und erregte so die Aufmerksamkeit der beiden Frauen. Sie sahen auf das arme Geschöpf hinunter, das nun die Augen einmal verdrehte und dann für immer schloss. Ein letzter gequälter Atemzug und Cordelia- Mary trat ihrem Schöpfer entgegen. Mutter und Tochter liefen die Tränen über die Wangen. Anne musste an ihre kleine Joyce denken, die nach nur einem Tag des Lebens so in ihrem Armen verschieden war.

Es dämmerte bereits, als Mary Vance Douglas heimkehrte. Verwundert betrat sie das stille Haus. Nur im Wohnzimmer brannte Licht. Als sie den Raum betrat, sah sie Rilla und die Arztgattin schweigend beieinander sitzen. Die beiden Blickten auf und Anne erhob sich. Schnell trat sie auf die Eintretende zu.

„Wo warst du nur?" fragte sie vorwurfsvoll. Dann legte sie ihren Arm um die junge Frau.

„Dein Baby ist tod. Vor drei Stunden hat es seinen letzten Atemzug getan und du warst nirgends aufzutreiben."

„Ich war im Krankenhaus. Ich dachte, Cornelia- Mary ist in guter Obhut." antwortete Mary, die die Nachricht noch gar nicht aufgenommen hatte.

„Wo ist mein Baby?"

Rilla brachte das Körbchen, bei dem sie mit ihrer Mutter gewacht hatte. Die Kleine lag friedlich darin und sah aus, als schliefe es nur. Ein seliger Gesichtsausdruck, wie ihn nur die Erlösung von großer Qual bringt, lag auf dem Kindergesicht.

„Ich habe sie noch nie so ruhig schlafen sehen. Wie hast du das nur gemacht?" fragte Mary.

„Sie ist tod", schrie Rilla nun, die das Verhalten von Mrs. Douglas nicht begreifen konnte.

Mary Vance erbleichte und blickte nun genauer auf das Kind. Nun sah sie, dass kein Atemzug die Brust des Babys mehr hob und senkte. Mit zornigem Blick sah sie nun auf Rilla.

„Du hast es getötet", stieß sie hasserfüllt hervor.

„Mary, beruhige dich. Du weißt nicht, was du sprichst. Rilla hat sich ganz lieb um das Baby gekümmert und es war voraus zu sehen, dass es stirbt", versuchte Anne zu besänftigen.

„Das müssen sie ja wohl sagen, wo diese Mörderin ihre Tochter ist", schrie die verzweifelte Mutter.

„Ich gehe jetzt mit Rilla nach Hause. Sollen wir Miller anrufen, dass er herkommt und dir beisteht?"

„Ruf lieber die Polizei, damit diese Kindsmörderin ins Gefängnis kommt", erhielt Anne als Antwort.

Mrs. Blythe nahm ohne ein weiteres Wort ihre Tochter bei der Hand und führte sie hinaus. Die hysterische Mutter blieb mit ihrem Kind allein zurück.

Als Mutter und Tochter vor der Tür standen, löste sich das Entsetzen über Mrs. Douglases Verhalten, das ihnen die Zungen gelähmt hatte.

„Du darfst Mary jetzt nicht für ihre Worte verurteilen. Sie ist von Sinnen. Geh bitte zu Flaggs Laden und gebe Miller Bescheid. Ich weiß es ist hart so eine schlechte Nachricht zu überbringen. Aber ich will nach Hause und schauen, ob dein Vater da ist. Vielleicht kann er auch noch einmal nach ihr sehen und ihr etwas zur Beruhigung geben.

So trennten sich die Frauen und eilten in entgegengesetzte Richtungen davon.

Carter Flaggs Laden war leer, als Rilla eintrat. Miller saß hinter der Theke und las den „Charlottetown- Kurier". Mit langsamen Schritten ging Rilla auf ihn zu, überlegend, wie sie ihm schonend von dem Ereignis berichten sollte. Der junge Mann, der ein Bein im Krieg verloren hatte, sah auf:

„Guten Abend Rilla. Hast du Mary gefunden? Sie war heute den ganzen Nachmittag nicht hier."

Rilla räusperte sich. Ihr Herz lag ihr wie ein Bleiklumpen in der Brust.

„Ja, sie war im Krankenhaus, ist gerade vor einer halben Stunde heimgekommen."

„Dann machst du wohl noch einige Besorgungen für Ingleside. Dabei hast du schon bei uns so viel zu tun. Ich wüsste nicht, was wir die letzten Wochen ohne dich getan hätten. Du kannst so gut mit unserem Baby umgehen."

„Deswegen bin ich hier", sagte Rilla hastig, die nun endlich ihre Botschaft los werden wollte.

„Was ist mit dem Baby?"

„Es ist tot. Es starb heute Nachmittag kurz nachdem ich anrief. Darum suchte ich so dringend nach Mary. Sie sollte dabei sein, wenn das Schlimmste eintritt. Nun ist sie völlig verzweifelt und gibt mir die Schuld! Deswegen ist sie jetzt auch allein zu Hause. Du solltest dringend zu ihr gehen."

„Tod?" fragte Miller erbleichend und sank auf den Stuhl zurück, von dem er sich erhoben hatte, als Rilla an die Theke getreten war.

„Das Herz war zu schwach", erklärte Rilla. „Mehr weiß ich nicht. Papa wird dann gleich bei euch vorbei schauen und kann es dir erklären. Aber nun geh bitte Heim. Deine Frau braucht dich jetzt. Ich sage Mr. Flagg Bescheid, dass du gehen musstest."

„Ja, danke", murmelte Miller, nahm seine Krücken und verließ den Laden.

Rilla ging derweilen hinter die Theke und durch die Tür, die zum Lager führte. Aus diesem führte eine Treppe ins Obergeschoss, wo die Eheleute Flagg ihre Wohnung hatten. Sie klopfte an und wurde von Mrs. Flagg hereingerufen.

„Rilla, wie schön dich wieder mal zu sehen", begrüßte Mrs. Flagg sie freundlich.

„Guten Tag. Ich wollte nur Bescheid geben, dass Miller nach Hause gehen musste. Seine Frau braucht ihn jetzt. Das Baby ist heute Nachmittag gestorben", erklärte Rilla.

„Der arme Miller. Wo er so stolz und verliebt war in das kleine Wesen. Aber einen sehr gesunden Eindruck hat es auf mich noch nie gemacht. Na gut, dann sperre ich eben den Laden zu."

Mrs. Flagg ging mit Rilla nach unten und schloss hinter ihr die Tür ab.

Die kleine Cornelia- Mary Douglas wurde an einem strahlenden Maitag beerdigt. Ihre Eltern standen gebrochen am blumenübersäten Grab und empfingen teilnahmslos die Beileidsbezeugungen von Glen´s Einwohnern. Als Rilla dem „verwaisten" Paar ihr Bedauern über den erlittenen Verlust ausdrücken wollte, erntete sie von Mary Vance nur einen giftigen Blick. Für sie blieb das Blyth´sche Nesthäkchen die Mörderin ihres Kindes, auch wenn Dr. Blythe die Polizei vom Gegenteil überzeugt hatte. Miller dankte der jungen Frau dagegen nochmals für die Hilfe der letzten Wochen.

Da es im Anschluss an die Beisetzung keine Trauerfeier gab, zerstreuten sich die Anwesenden bald wieder und gingen zum Tagesgeschäft über.

„Zum Glück musste Miss Cornelia dies nicht erleben", sagte Rilla gedankenlos.

Der schmerzliche Ausdruck, der daraufhin ins Gesicht ihrer Mutter trat, ließ sie den Faux- pas bemerken.

Mrs. Marshall Elliot lag seit drei Wochen bewusstlos im Krankenhaus und die Hoffnung auf ein Erwachen schwand mit jedem Tag. Ihr Mann besuchte sie täglich, vergrub sich aber ansonsten in seinem Haus und wollte niemanden sehen.

12. Besuch wird erwartet

Als die Blythes von dem traurigen Anlass zurück kehrten, erwartete sie bereits Susan mit frischem Tee und Kaffee, sowie Gebäck. Sie hatte die Post und die Zeitung bereitgelegt, so dass einer gemütlichen Kaffeestunde nichts mehr im Wege stand. Gilbert genoss seinen Kaffee, während er die Nachrichten las. Die anderen fanden keinen Geschmack an dem bitteren, schwarzen Getränk und blieben dem Tee treu. Rilla musste Susan von der Beerdigung berichten und Walther studierte den Sportteil der Zeitung. Anne nahm deswegen die Post zur Hand. Oben auf lag ein Brief ihrer besten Freundin Diana, den sie sofort öffnete und las:

Liebste Anne,

da du mir nicht verraten wolltest, welche Überraschung dein Mann dir im letzten Monat bereitet hat und ich meine Neugier nicht länger zügeln kann, kündige ich dir hiermit meinen Besuch für den 20. Mai mit.

Ich werde Minnie May mitbringen, ich denke du hast nichts dagegen. Du wirst sicherlich einen kleinen Schlafplatz für uns finden, da wir gedenken deine Gastfreundschaft auf eine Woche zu strapazieren.

Wir hoffen euch also am 20. Mai am Nachmittagszug zu treffen.

Alle anderen Neuigkeiten besprechen wir dann persönlich.

In ewiger Freundschaft

Deine Diana

Anne freute sich sehr über diese Nachricht und teilte ihrer Familie den angekündigten Besuch gleich mit.

„Liebe Frau Doktor, da wird es aber eng werden, wo bloß noch ein Gästezimmer da ist."

„Diana ist nicht anspruchsvoll. Das wird sie sich sicher gern mit ihrer Schwester teilen."

„Minnie May habe ich ja seit Jahren nicht gesehen", sagte Gilbert.

„Sie ist doch mit ihrem Mann damals erst nach Carmody gezogen und später dann nach

Newbridge", erinnerte sich Anne.

„Dann werde ich nachher gleich mal das Gästebett lüften, liebe Frau Doktor. Es wurde ja seit Weihnachten nicht mehr benutzt."

„Ich hole es dir vom Dachboden", erbot Walther.

Es dauerte allerdings etwas bis die Kissen und Decken an der frischen Luft hingen. Walther hatte beim Stöbern auf dem Dachboden ein paar Kisten mit seinen persönlichen Sachen gefunden, die nach seinem angeblichen Tod dort aufbewahrt worden waren. Darunter befanden sich seine Tagebücher, die er mit Gedichten gefüllt und denen er seine Gedanken anvertraut hatte. Nun konnte er sich in sein altes „Ich" hineinlesen. Susan musste also selbst auf den Dachboden steigen und ihren Helfer aus seinen geschriebenen Erinnerungen reißen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können.

Die Tage bis zu Diana´s Besuch vergingen wie im Flug. Annes Vorfreude wurde nur durch die Sorge um Miss Cornelias Gesundheitszustand geschmälert. Mit Susan putzte sie das Haus und bereitete sie Leckereien vor. Rilla konnte nicht helfen, da sie in Carter Flaggs Laden arbeitete. Miller hatte sich dort seit dem Tod des Babys nicht mehr sehen lassen und so hatte Mr. Flagg Rilla als Aushilfe eingestellt, da sie sich seit dem Krieg im Laden auskannte. Der jungen Frau machte das Verkaufen auch Spaß und seit sie hinter der Theke stand, kauften auch immer öfter Männer jeden Alters dort ein.

Mary Vance und Miller Douglas verschanzten sich in ihrer Trauer in ihrem ruhigen Haus, ließen niemanden zu sich und gingen auch nicht hinaus. Doch statt sich gegenseitig Trost zu spenden, blieb jeder für sich. Miller suchte Vergessen in den vielen Flaschen Wein, die der Keller hergab, und als diese leer waren, griff er zu Whisky und Cognac. Bald sah man ihn in Carter Flaggs Laden wieder, aber nur, um dort Spirituosen zu kaufen.

Mary dagegen saß Tag für Tag im leeren Kinderzimmer, starrte auf die Wiege, die das einzige Püppchen des Babys beherbergte und nahm keinen Anteil an ihrer Umgebung.

Gang Glen redete über die Douglases und Rilla hörte natürlich sämtlichen Klatsch im Laden. Am Abend berichtete sie zu Hause davon.

„So kann es nicht weiter gehen", meinte Anne schließlich entschlossen.

„Wenn keine Miss Cornelia da ist, die die beiden zur Räson bringt, dann müssen wir das eben in die Hand nehmen. Morgen früh gehe ich zu den Douglases und versuche sie zur Vernunft zu bringen."

„Anne, vielleicht solltest du dich da lieber nicht einmischen. Einen solchen Verlust zu verarbeiten, dauert seine Zeit. Denke daran, wie sehr du es nach dem Tod von Joyce gehasst hast, wenn dich jemand von deinem Schmerz wegholen wollte", erwiderte Gilbert sanft.

„Ich habe aber nicht tagelang ungewaschen, in ein und dem selben Kleid an einer leeren Wiege vor mich hin gestarrt oder literweise Alkohol getrunken", betonte sie die Unterschiede.

„Das ist wahr. Aber vielleicht schaffen es die beiden auch ohne unsere Hilfe. Vom psychologischen Standpunkt aus wäre es für diese Ehe günstiger sie helfen sich gegenseitig und werden nicht von außen beeinflusst", belehrte der Arzt.

„Also gut, ich lasse die beiden bis nach Dianas Geburtstag gewähren. Haben die beiden sich dann immer noch nicht zusammen gerauft, greife ich ein", verkündete Anne.

Gilbert akzeptierte diesen Vorschlag und hoffte, die Douglases kämen bis dahin zur Vernunft.

Der 20. Mai war ein strahlender Frühlingstag und schon im Morgengrauen erhob sich Anne voller Vorfreude auf ihre Besucher. Nach dem Frühstück pflückte sie in ihrem Garten die schönsten Blumen, um damit das Gästezimmer und den Tisch im Speisezimmer zu schmücken. Dann backte sie höchstpersönlich ihre berühmte Schichttorte, die sie seit ihrer Jugendzeit immer weiter verbessert hatte. Susan wischte derweilen nochmals in allen Räumen Staub, obwohl sich seit dem Vortag nicht viel davon auf den Möbeln abzulegen getraut hatte. Nach der Sprechstunde und dem Mittagessen wurde im Vorraum, der durch den Patientenstrom angeblich verunreinigte Boden geschrubbt und so erglänzte Ingleside wie ein frisch geputzter Penny, als Anne mit Gilbert zum Bahnhof aufbrach.

Susan bereitete den Kaffeetisch vor und Walther nutzte die Zeit bis zur Teestunde um im Regenbogental Frischluft zu schnappen.

Pünktlich um 15 Uhr traf der Zug aus Charlottetown im Bahnhof von Glen St. Mary ein. Diana und ihre Schwester waren nahezu die einzigen Fahrgäste, die hier ausstiegen. Gilbert nahm ihnen ihre kleinen Koffer ab, während sich die Frauen begrüßten. Nach dem man auch Dr. Blythe einen „Guten Tag" gewünscht hatte, ging man zum Automobil. Minnie May war neben dem Fahrer platziert worden, da sich Anne und Diana schon auf der Fahrt viel zu erzählen hatte. Im Fond des Wagens blieb es derweilen still.

Bald erreichte man Ingleside. Gilbert half den Damen beim Aussteigen und brachte das Gepäck ins Haus.

„Ich staune immer wieder, wenn ich euer Heim sehe", sagte Diana. „Es kommt mir jedes Mal größer vor, wenn ich euch besuche."

„Früher hatten wir den Platz auch dringend nötig", erwiderte Anne.

„Ihr hattet sechs Kinder, nicht wahr?" fragte Minnie May schüchtern.

„Ja, und zum Glück haben wir sie auch noch. Aber sie sind fast alle flügge geworden. Jem studiert Medizin, Nan und Di unterrichten und Shirley lebt mit seiner Frau in Charlottetown. Nur Walther und Rilla sind momentan noch Zuhause. Unser Junge will aber im Herbst aufs Queens und das Lehrerexamen wiederholen und unsere Jüngste wird zu Weihnachten heiraten", erklärte Anne.

Dann führte sie die Besucherinnen in den Garten.

„Ich will dir nur gleich Gilberts Geschenk zeigen", sagte die Hausherrin zu ihrer Freundin.

Diana bestaunte das Gewächshaus, in dem bereits Tomaten-, Gurken- und verschiedene Gemüsepflanzen wuchsen, gebührend.

Als man zum Vordereingang zurück kehrte, trat Rilla durch das Gartentor.

„Schön das du heute im Laden eher weg konntest", sagte Mrs. Blythe.

Rilla begrüßte die Gäste artig und wurde Minnie May vorgestellt, dann ging man ins Haus.

Zum Kaffeetrinken ging es recht gesellig zu und man tat den aufgetischten Genüssen alle Ehre an.

„Ich habe wieder viel zu viel gegessen", stöhnte Diana und klopfte auf ihren runden Bauch.

„Deine Schichttorte war wieder ein Gedicht", lobte sie die Backkunst der Hausfrau.

„Ich hatte kein Rheumamittel griffbereit", scherzte Anne und die Freundinnen mussten lachen. Sie erinnerten sich noch gut, wie Anne als junges Mädchen statt Vanillearoma ein Mittel gegen Rheuma, das Marilla in ein Vanillefläschchen gegeben hatte, in einen Kuchen getan hatte. Zu Anne´s Leidwesen, die mit ihrer Schichttorte die Pfarrersfrau erfreuen hatte wollen. Mrs. Allen, die sich als verwandte Seele entpuppte, hatte sich aber auch über die Geste gefreut und die missratene Torte nie wieder erwähnt.

Da die Freundinnen nun noch weitere lustige Erinnerungen ausgruben, begab sich Gilbert nur schweren Herzens auf eine kleine Hausbesuchsrunde. Walther dagegen lauschte aufmerksam, um vielleicht die eine oder andere neue Geschichte für seine Aufzeichnungen zu erfahren.

Rilla half derweilen beim Abräumen und Aufwaschen.