13. Minnie May´s Geschichte
Erst am Abend, als man zu Abend gegessen hatte und ein kleines Feuer im Ofen brannte, kamen Anne und Diana dazu über vertrauliche Dinge zu reden. Alle anderen hatten sich auf ihre Zimmer zurück gezogen und so konnten die Freundinnen nun über all die Dinge sprechen, die ihr Herz bewegten.
„Minnie May ist sehr still geworden. So kenne ich sie von früher gar nicht", sagte Anne.
„Sie hatte es nicht leicht in den letzten Jahren. Nachdem sie mit der Schule fertig wahr, hat Mutter sie im Haushalt recht hart angepackt. Meiner Schwester gingen die häuslichen Tätigkeiten nie leicht von der Hand und sie musste hart daran arbeiten meine Mutter zufrieden zu stellen. Minnie May wäre viel lieber aufs College gegangen und hätte studiert."
„Ich erinnere mich, dass sie eine gute Schülerin war", erwiderte Anne, die Dianas kleine Schwester zwei Jahre unterrichtet hatte.
„Kaum 21 hat sie dann den Erstbesten geheiratet, um von zu Hause weg zu kommen. Francis Gromby war gerade erst in die Gegend gezogen und kannte Minnie May eigentlich nur von den Sonntagen, wenn er sie in der Kirche sah. Warum er sie heiraten wollte, weiß bis heute keiner."
„Ich habe ihn ein oder zwei Mal gesehen, als ich in Avonlea war. Er machte einen eher unscheinbaren Eindruck auf mich."
„Er entpuppte sich auch erst, nach dem Minnie May den Fehler
gemacht hatte ihn zu heiraten. Es trank nämlich vom Aufstehen
bis zum Schlafen gehen und hatte keine Ahnung von der Landwirtschaft.
Deswegen musste er den Hof bald verkaufen und zog mit Minnie May nach
Carmody."
„Ja, davon wusste ich." sagte Anne.
„Der Hof bestand aus einem Feld, einem Gemüsegarten und einem Haus, in das es durchs Dach regnete. Natürlich versuchte Minnie May ihr bestes, um ihn auf Vordermann zu bringen, aber jeden Cent, den sie mit selbst angebautem Gemüse verdiente, versoff er. Und als sich auch keine Kinder anmeldeten, begann er sie obendrein noch zu schlagen."
Erschrocken schlug sich Anne die Hand vor den Mund. Natürlich hatte sie von solchen Sachen gehört, aber unter ihr nahe stehenden Personen hatte war so etwas noch nie vorgekommen. Auch wenn sie aus ihrer Kindheit genau wusste, wie schnell alkoholisierte Männer aggressiv wurde, hatte sie doch lange bei einem Säufer und seiner Familie gelebt.
„Minnie May hat uns nie etwas davon gesagt", setzte Diana ihre Erzählung fort. „Aber eines Tages brachte ein Nachbar sie in seinem Wagen vorbei. Sie war grausam zusammengeschlagen worden und hatte dabei eine Fehlgeburt erlitten. Meine Eltern nahmen sie Zuhause auf und erwirkten eine Anullierung der Ehe. Das hat meiner Schwester das Leben gerettet. Wäre sie zu diesem Gromby zurück, er hätte sie beim nächsten Mal vielleicht tot geprügelt."
„Und ich dachte immer sie wäre dann mit ihrem Mann nach Newbridge gezogen."
„Mit ihrem zweiten Mann ist sie das auch. William Hurt war zu der Zeit nach Avonlea gekommen, als Minnie May gerade nach Carmody gegangen war. Er war ein wirklich anständiger Mann und gut angesehen in Avonlea. Er machte meiner kleinen Schwester ordentlich den Hof, als sie sich von ihrem Martyrium erholt hatte. Er musste auch sehr lang und hartnäckig um sie werben, da sie verständlicher Weise Angst vor einer neuen Ehe hatte. Wahrscheinlich hat sie es aber irgendwann mit Mutter nicht mehr unter einem Dach ausgehalten und hat seinen Antrag deswegen angenommen. Sie hat sich zuletzt dann doch in ihn verliebt und sie lebten eine zeit lang sehr glücklich. Kinder konnte Minnie May aber keine mehr bekommen."
„Und warum sind sie dann nach Newbridge gezogen?" fragte Anne.
„Eines nachts ist der Stall in Flammen aufgegangen und das Feuer griff aufs Haus über. Sie konnten nichts als ihr nacktes Leben retten. Es ging eine Zeit lang das Gerücht um man hätte Gromby in jener Nacht bei Avonlea gesehen. Meiner Schwester und ihrem Mann lieb also nichts anderes über als den Hof in Newbridge zu übernehmen, den William geerbt hatte. Vor einem halben Jahr ist er plötzlich verstorben- eine Herzattacke, meinte der Arzt. Seit dem versucht sie den Hof allein zu bewirtschaften, ohne Erfolg. Ich konnte sie überreden ihn zu verkaufen und zu mir zu ziehen. Nun will ich sie auf andere Gedanken bringen. Eine Woche habe ich jetzt auf sie eingeredet, dass sie ihre schwarzen Kleider ablegt, wenigstens für den Besuch bei dir."
„Die Arme hat es wirklich nicht leicht gehabt. Gut, dass sie wenigstens eine Schwester wie dich hat", sagte Anne.
Anne lag noch wach, als Gilbert in dieser Nacht heimkehrte. Er war zum Schluss seiner Hausbesuchsrunde bei Miss Cornelia im Krankenhaus gewesen und dort gebeten worden bei einer Notoperation zu assistieren, da außer dem Chefarzt gerade kein anderer Mediziner abkömmlich gewesen war.
„Warum schläfst du nicht längst?" fragte Dr. Blythe, als er zu seiner Frau unter die Decke schlüpfte.
„Ich habe darüber nach gedacht, wie gut ich es mit dir als Mann und mit unseren Kindern getroffen habe."
„Und wie kamst du darauf ausgerechnet heute darüber nachzudenken?"
„Diana hat mir vorhin erzählt wie schlecht es Minnie May ergangen ist."
Dann erzählte sie ihm kurz, was diese in ihrem Leben schon durchmachen musste.
„Leider greifen zur Zeit immer mehr Männer zur Flasche. Viele sind darunter, die die Nachwirkungen des Krieges, in dem sie gekämpft haben, erst jetzt spüren. Um so trauriger, dass ihr zweiter Mann so früh verstarb."
„Ich hoffe wir können sie ein wenig von ihrem Leid ablenken, während sie hier ist. Diana hat aber gebeten, dass wir uns nicht anmerken lassen, dass wir wissen, was ihr widerfahren ist."
„Wir werden darüber schweigen. Etwas, worüber ich aber mit dir sprechen möchte, hat sich vorhin in der Klinik ereignet."
„Ist Miss Cornelia aufgewacht?" fragte Anne hoffnungsvoll.
„Leider nicht. Ihr Zustand ist unverändert. Ich habe mich nach der Operation mit dem Chefarzt Dr. Moore unterhalten. Er hat sich daran erinnert, dass unser Jem im Sommer sein Examen ablegt. Darum hat er nun gemeint für unseren Sohn wäre jederzeit eine Assistenz- Arztstelle frei, damit er ein wenig praktische Erfahrung sammeln kann."
„Das wäre doch großartig. Da wäre Jem wieder in unserer Nähe!"
„Ja, das habe ich mir auch gedacht. Gleich morgen schreibe ich ihm und frage, ob ich Dr. Moore in seinem Namen zusagen soll."
So begann sich Jems Schicksal weiter zu entwickeln.
Anne genoss die nächsten Tage mit Diana in vollen Zügen. Minnie May schloss sich den Freundinnen stillschweigend an. Einen Tag verbrachten sie auf Streifzügen durch Glen´s Umgebung, an einem anderen Tag wanderten sie hinaus zum Traumhaus, an dem der Bauunternehmer kräftig arbeitete, und zum Leuchtturm. Sie fuhren gemeinsam zum Stadtbummel nach Charlottetown, wo sie sich in einem Café riesige Eisbecher munden ließen.
Kurz und gut, die Woche verging wie im Flug und wehmütig sah Anne dem Zug nach, der ihre Freundin wieder entführte.
14. Das Schicksal nimmt seinen Lauf
Den Erinnerungen an die schöne Zeit mit Diana nachhängend, saß Anne am Kaffeetisch. So öffnete Gilbert den Brief, der an diesem Tag von Jem gekommen war.
„Soll ich vorlesen oder träumst du lieber noch ein Weilchen vor dich hin?" fragte Dr. Blythe seine Frau schmunzelnd.
„Nun lies schon vor, ich will wissen, was er auf Dr. Moore´s Vorschlag antwortet!"
Also las Gilbert vor:
Liebe Eltern, liebe Susan und liebe Geschwister!
Danke für eure Zeilen, die mich in den mühsamen Stunden der Studiererei aufgemuntert haben. Meine Antwort wird allerdings kurz ausfallen, da ich für morgen noch einiges zu lernen habe.
Gesundheitlich geht es mir gut, auch wenn ein wenig frische Luft mir zur Zeit nicht schaden könnte. Und mit dem Examen geht es gut voran. Die Vorprüfungen sind zur Zufriedenheit meiner Professoren ausgefallen, so dass begründete Hoffnung besteht, dass ich mein Studium im Juli erfolgreich beenden kann. Ich drücke mich absichtlich ein wenig vorsichtig aus, schließlich kann es immer noch passieren, dass mich während der Abschlussprüfungen der totale Black- out heimsucht.
Zu Dr. Moore´s Angebot möchte ich bemerken, dass es mich sehr freut, dass in Glen St. Mary nicht nur in Ingleside an mich gedacht wird. Lieber Vater, richte deinem verehrten Kollegen bitte aus, das ich dieses Angebot gerne annehme. So kann ich meiner Faith ohne Bedenken die Hand zum Bunde reichen, da ich vorerst ein gesichertes Einkommen haben werde.
Nun muss ich aber schließen. Meine Gedanken weilen bei euch, so oft es geht.
Euer Sohn Jem
„Das sind ja sehr gute Neuigkeiten", sagte Anne befriedigend.
„Wird Jem dann mit Faith bei uns wohnen?" wollte Rilla wissen.
„Ich glaube sie hätten lieber ihr eigenes kleines Nest", meinte ihre Mutter.
„Es wäre auch viel zu eng hier für ein Ehepaar, liebe Frau Doktor."
„Platz ist in der kleinsten Hütte", antwortete Dr. Blythe. „Aber wir sehen uns da nach einer anderen Möglichkeit um, schlage ich vor. Das wäre vielleicht ein gutes Geschenk zur Vermählung. Was meinst du, Anne- Mädchen?"
„Eine gute Idee. Ich werde darüber nachdenken."
Nachdem der Doktor zu seiner Hausbesuchsrunde aufgebrochen war, unternahm Anne einen kleinen Spaziergang um frische Luft zu schnappen. Sie konnte viel besser nachdenken, wenn ihr eine kühle Brise um die Nase wehte. Ihr Weg führte sie durchs Regenbogental und bald kam sie an das alte Bailey- Haus. Es stand seit vielen Jahren leer und wirkte daher sehr vernachlässigt. Anne´s Phantasie ließ es in neuem Glanz erstrahlen, als ihr der Gedanke kam, wie passend es für Jem und Faith wäre. Beide hätten es von hier aus nicht weit zu ihren Elternhäusern.
Am Abend erwartete Mrs. Blythe ihren Mann im Wohnzimmer.
„Wartest du schon wieder auf mich?" fragte er.
„Du warst wieder zum Abendessen nicht da", tadelte sie in liebevoll.
„Ich habe bei den Milgraves ein gutes Abendessen bekommen, als ich nach John Gilberts Husten sah. Deswegen wurde es heute sehr spät, als ich zum Krankenhaus kam. Dort habe ich Dr. Moore gleich mitgeteilt, was unser Jem zu der Stelle meinte."
„Und ich habe ein Haus für ihn und Faith gefunden", verkündete Anne strahlend.
„Das ging aber schnell. Und welches Anwesen ist dir ins Auge gefallen?"
„Das Bailey- Haus!"
„Meinst du nicht die beiden würde es darin gruseln?"
Gilbert erinnerte damit an eine Geschichte aus Kindertagen, wo die Pfarrerskinder eines Tages, durch ein weißes Bettlaken im Garten erschreckt, zu den Blythes geflohen waren.
„Aus dem Alter sind sie ja nun wirklich raus! Wenn Mr. Miners sich gleich an die Arbeit macht, kann es zur Hochzeit ein beziehbares Anwesen darstellen. Ich organisiere unter den Hochzeitsgästen noch ein paar Möbel und vielleicht ist auch noch ein brauchbares Stück im Haus. Und auf Green Gables stehen von Mrs. Lynd noch ein schöner alter Kleiderschrank, zwei Kommoden und der Ofen. Ihre Kinder wollten die Sachen nicht. Mit einer Lastkutsche könnten wir die Dinge leicht hier her bringen."
„Es ist schön, wie du wieder Pläne schmiedest", sagte Gilbert und küsste sie.
Der Mai zeigte sich weiter von seiner strahlendsten Seite und in der letzten Woche fuhr Walther nach Charlottetown, um die Aufnahmeprüfung für das „Queens" zu machen.
Rilla arbeitete immer noch in Carter Flaggs Laden, da Miller Douglas zwar dem Alkohol abgeschworen hatte, aber mit seiner Frau spurlos verschwunden war. Bei Nacht und Nebel war das Ehepaar mit dem einzigen wöchentlichen Nachtzug aus Glen St. Mary abgereist.
So war Anne um die Standpauke herum gekommen, die sie den beiden im Familienkreis angedroht hatte.
Den letzten Tag des Wonnemonats fasste sich Anne ein Herz und fuhr mit Gilbert ins Krankenhaus. Seit Miss Cornelias Operation, aus der sie nicht wieder erwacht war, hatte Anne sie nicht besucht. Gilbert hatte seine Frau auch nicht dazu gedrängt, da sie sich ohnehin schon ausreichend Schuld am Zustand der Freundin gab.
Zusammen traten die Blythes an das Krankenbett der regungslos daliegenden Mrs. Elliot.
Dr. Blythe nahm die Patientenakte zur Hand, um nach den Ergebnissen der morgendlichen Visite zu sehen.
„Alles unverändert", sagte er.
„Sie sieht so dünn aus, als könnte ein Windhauch sie zerbrechen."
„Die künstliche Ernährung, die sie am Leben erhält, zeigt leider nicht viel Wirkung. Wenn die Atmung noch aussetzen würde, könnte man gar nichts mehr für sie tun."
Der Brustkorb der Kranken hob und senkte sich kaum wahrnehmbar.
„Ich gehe mal kurz zu Dr. Moore. Möchtest du nicht unten im Café auf mich warten?"
„Nein, ich bleibe noch ein wenig hier."
Mit einem zweifelnden Blick verließ Gilbert den Raum. Anne setzte sich auf den Stuhl, der am Bett stand und nahm die dünne, kraftlose Hand ihrer Freundin. Die Verzweiflung überkam Mrs. Blythe und sie ließ den Kopf auf die umklammerte Hand sinken.
„Hätte ich sie nur nicht dazu überredet. Dann lägen sie zwar auch im Bett, aber könnten wenigstens mit uns reden", sagte Anne mit tränenerstickter Stimme.
Plötzlich ging ein Zucken durch Miss Cornelias Hand. Es war kaum zu spüren, doch dann bewegte sich einer der Finger. Anne schaute auf und in das Gesicht der Patientin. Die Augenlider flatterten kurz und kaum wahrnehmbar.
„Miss Cornelia?" fragte Anne leise und zögerlich.
Ein erneutes Zwinkern der Augen antwortete. Dann, es schienen Stunden vergangen, öffnete Mrs. Marshall Elliot die Augen.
„Miss Cornelia", rief Anne voller Freude und stürzte dann hinaus auf den Gang.
Einer Krankenschwester, die gerade aus einem entfernten Zimmer heraustrat, schrie sie entgegen:
„Holen sie schnell Dr. Moore, Mrs. Elliot ist aufgewacht."
Dann rannte sie zum Bett ihrer Freundin zurück, die sich etwas orientierungslos umschaute.
„Wo bin ich?" fragte diese mit krächzender, kaum hörbarer Stimme.
„Im Krankenhaus. Sie haben sich doch wegen ihres Sturzes operieren lassen."
Noch immer erstaunt sah sich die Aufgewachte um. Da betraten auch schon Gilbert und sein Kollege, der Chefarzt, den Raum, die so schnell sie konnten herbei geeilt waren.
„Was für ein Wunder", sprach Dr. Moore, als er die um sich blickende Miss Cornelia ansah.
Dann wurde Anne gnadenlos hinausgeschickt, um die Patientin zu untersuchen.
Nach einer halben Stunde durfte die Arztfrau wieder in das Zimmer.
„Und?" fragte sie ihren Mann mit erwartungsvollem Blick.
„Es ist alles in Ordnung", antwortete er mit Staunen in der Stimme. Wie ernst die Lage gewesen war, wollte er vor Miss Cornelia noch nicht preisgeben.
„Noch ein paar Wochen Erholung und gutes Essen und Mrs. Elliot kann nach Hause gehen", stimmte Dr. Moore zu.
„Alles schön und gut", ließ sich da die Patientin, nun schon mit geübterer Stimme vernehmen, „aber ich habe Durst!"
„Ich hole ihnen gleich etwas, liebe Miss Cornelia", sagte Anne und verließ das Zimmer.
Auch Dr. Moore verabschiedete sich vorerst von seiner Patientin und ging mit Gilbert hinaus, der Marshall Elliot telefonisch vom Erwachen seiner Frau informieren wollte.
Anne half Miss Cornelia eine Tasse abgekühlten Tees in kleinen Schlucken zu trinken.
„So, liebe Anne, jetzt bin ich zufrieden, aber müde. Ich werde jetzt noch ein bisschen ruhen bis Marshall kommt."
„Ich komme morgen wieder", versprach Anne und drückte zum Abschied die Hand ihrer Freundin.
Auf dem Gang traf sie ihren Mann, der Mr. Elliot für seinen Besuch die nötigen Anweisungen gegeben hatte. Zunächst wollte man der Genesenden vorenthalten, wie lang sie bewusstlos gelegen hatte, wie nah sie dem Tod gewesen war und wie es um Mary Vance stand.
Eine überglückliche Anne fuhr nach Hause, wo sie von Walther schon sehnsüchtig erwartet wurde. Er war nach einer harten Prüfungswoche mit dem Nachmittagszug heimgekommen und wollte nun mit seiner Mutter über das Erlebte sprechen.
Zunächst aber wurde Miss Cornelias Erwachen mit einem Glas Sherry gefeiert, den man zu Kaffee, Tee und Gebäck genoss.
Der Juni begann kühl und regnerisch. Nichts desto trotz ging es in Ingleside recht fröhlich zu. Anne konnte wieder lachen und besuchte täglich die rasch genesende Miss Cornelia.
Marshall Elliot kam mit einem riesigen Blumenstrauß vorbei, um bei Susan um Abbitte für sein mürrisches Verhalten zu bitten. Die gute Seele konnte dabei dem treuherzigen Blick seiner Augen nicht widerstehen und verzieh ihm. Obendrein versprach sie für die Heimkehr der Hausfrau das Haus zu putzen und etwas vorzukochen.
Walther wartete jeden Tag gespannt auf das Eintreffen der Zeitung, in der die Prüfungsergebnisse veröffentlicht wurden und Rilla ging weiterhin ihrer Beschäftigung in Carter Flaggs Laden nach.
Mitte Juni wurde es endlich wieder sonnig und Walther erhielt die heiß ersehnte Nachricht über die „Queens"- Aufnahmeprüfung. Er hatte diese mit sehr guten Ergebnissen bestanden und konnte nun im Herbst dort sein Lehrerexamen ablegen. Wie seine Eltern vor nahezu 40 Jahren entschied er sich für das anspruchsvollere Erste- Klasse- Examen in der einjährigen statt zweijährigen Form. Da er die Ausbildung vor dem Krieg ja bereits gemacht hatte und er elementare Erinnerungen behalten hatte, hoffte er, auf die erlernten Gebiete zurück greifen zu können.
Am gleichen Abend ertönte überraschend die Türglocke, als die Familie Blythe beim Nachtmahl saß. Susan ging die Tür zu öffnen.
„Shirley, was für eine Überraschung", hörte man die Haushälterin rufen.
Der jüngste Sohn der Blythes und seine hochschwangere Frau standen bald darauf im Speisezimmer. Man begrüßte einander und ohne große Fragerei holte Susan zwei weitere Gedecke.
Erst als man die Mahlzeit beendet hatte, fragte Anne:
„Was verschlägt euch so unangemeldet nach Glen?"
„Ich muss für ein paar Tage nach Halifax und wollte Ruth ungern allein lassen in ihrem Zustand. Das hat sich erst heute morgen ergeben, so dass ich keine Zeit hatte euch zu
informieren", erklärte Shirley.
„Das war klug von dir gedacht, dass du deine Frau zu uns gebracht hast", lobte Susan ihren geliebten Jungen.
„Dann werde ich mal gleich das Gästebett richten, liebe Frau Doktor."
„Es tut mir leid euch solche Umstände zu machen. Ich wäre auch allein Zuhause geblieben, schließlich ist ja noch etwas Zeit", sagte Ruth verlegen.
„Aber wozu ist den eine Familie da? Shirley hat Recht getan dich hierher zu bringen", widersprach Rilla.
„Und man weiß nie wozu es gut ist einen Arzt im Haus zu haben", scherzte Gilbert.
„Ich kann mich erinnern, dass dieser gewisse Arzt meist nicht daheim war, wenn die eigenen Kinder krank waren", neckte Anne ihn.
Susan begann nun abzuräumen und Ruth wollte sich schon erheben, um zu helfen, da hielt Rilla sie zurück.
„Ruh dich nach der Fahrt lieber etwas aus. Susan und ich schaffen das schon."
„Genau", ergänzte Anne. „Wir setzen uns jetzt ins Wohnzimmer, trinken einen Tee und du erzählst mir, wie es dir in Charlottetown gefällt."
Shirley führte seine Frau liebevoll nach oben und half ihr es sich in einem Sessel bequem zu machen. Anne brachte den Tee und setzte sich zu Magog.
„Hast du dich gut eingelebt in eurem Haus?" fragte Mrs. Blythe.
„Ja, es ist ja alles sehr gemütlich geworden. Ein wenig einsam ist es manchmal. So viele leere Räume!"
„Bald ist dein Haus von Leben erfüllt und du wirst dir die Ruhe vielleicht zurück wünschen."
Ruth schüttelte den Kopf.
„Ich freue mich so sehr auf das Baby. Shirley ist viel unterwegs. Zum Glück musste er die letzten Wochen nicht allzu weite Strecken fliegen und konnte abends wieder Zuhause sein."
„Und da wolltest du nicht zu uns kommen, wo er nun auf ein paar Tage weg muss?"
„Ich wollte euch nicht zur Last fallen", antwortete Ruth.
„Glaub mir, niemand könnte weniger eine Last sein wie du und Shirley. Es ist schließlich zur Zeit genug Platz im Haus. Und falls das Baby sich keine Zeit mehr lassen möchte, ist es viel besser du bist hier bei uns."
Susan, die sonst innerlich schon ein wenig murrte, wenn sich Besuch ankündigte, schüttelte heute ohne Zaudern das Gästebett auf. „Ihr brauner Junge" konnte kommen, wann er wollte, auch ohne es anzumelden und, wenn es sein musste, auch mitten in der Nacht.
Am nächsten Tag reiste Shirley bereits mit dem Frühzug wieder ab. Warum er nach Halifax musste, hatte er niemanden verraten.
Ruth, die sich im Haushalt nützlich machen wollte, wurde unnachgiebig davon abgehalten. Wann immer sie bei der Arbeit helfen wollte, drückte man sie auf einen Stuhl und so holte sie bald resigniert ihre Handarbeiten heraus und strickte das zehnte Paar Schühchen für ihr Baby.
15. Das erste Enkelkind
Die Tage bis zu Shirley´s Rückkehr verliefen ereignislos. Rilla ging ihrer Arbeit im Laden nach und verdiente so viel Geld, dass sie beschloss davon eine Schneiderin zu arrangieren, die ihr Hochzeitskleid nähen sollte. Den Stoff dafür würde sie im Juli mit ihrer Mutter in Charlottetown aussuchen und seit einiger Zeit blätterte die erwartungsvolle Braut durch die Modekataloge, die in Flaggs Laden herumlagen. Sie hatte auch schon ein Modell ausgesucht und überlegte nun, welche der ortsansässigen Damen mit diesem Projekt betraut werden könnte. Rilla hatte sich für einen sehr raffinierten Entwurf entschieden und musste mit der Schneiderin den benötigten Stoff errechnen.
Walther füllte derweilen Seite um Seite mit Schreibmaschinenlettern. Er wollte seinen Entwurf bis zum Herbst fertig haben, um sich dann ganz auf das College konzentrieren zu können. Da Ruth die meiste Zeit ruhig vor sich hin strickte, hatte er seine Arbeitsmaterialien im Wohnzimmer ausgestellt, um ihr Gesellschaft zu leisten.
Anne werkelte den ganzen Vormittag in ihrem Garten und besuchte jeden Nachmittag Miss Cornelia, die sich erstaunlich schnell von der Operation erholte und es kaum erwarten konnte nach Hause zu dürfen.
Am fünften Tag nach Shirley´s Abreise saßen die Inglesider gerade beim Abendessen, als das Telefon läutete. Susan ging an den Apparat, innerlich darüber aufgebracht schon wieder bei einer Mahlzeit gestört zu werden.
„Nie kann der Herr Doktor in Ruhe speisen", dachte sie, in der Annahme, dass der Hausherr zu einem Hausbesuch bestellt würde.
„Ingleside, Familie Doktor Blythe", meldete sich die Haushälterin daher in mürrischem Ton.
Ihr Gesicht hellte sich aber gleich darauf auf, als sie den Anrufer erkannte.
„Natürlich mein Junge, ich sage sofort Bescheid. Was? Ja, geht in Ordnung. Komm nur erst einmal nach Hause, Mutter Susan wird es schon richten."
Erwartungsvoll sah man Susan entgegen, als sie nun das Speisezimmer betrat.
„Lieber Herr Doktor, Shirley war am Telefon. Er bat darum vom Bahnhof abgeholt zu werden, da er Besucher und Gepäck dabei hat, die er ungern den weiten Weg heraus laufen lassen möchte. Und sie möchten bitte schön mit Automobil und Kutsche kommen, da das Gepäck sehr umfangreich sei. Ich werde das Essen warm halten, dann können wir gleich mit den Gästen weiter speisen, wenn es recht ist."
„Wen bringt Shirley den mit?" fragte der Hausherr, bereits im Aufstehen begriffen.
„Das darf ich noch nicht verraten", antwortete die Haushälterin und ging in die Küche.
„Walther, kommst du mit mir", bat Gilbert und die beiden Männer gingen hinaus.
Anne folgte in der Zwischenzeit ihrer Angestellten in die Küche, die nun Kartoffeln und Gemüse zum Warmhalten in den Ofen gab, wo schon ein köstlicher Braten vor sich hin brutzelte.
„Es wird ein wenig eng werden, liebe Frau Doktor. Shirley bringt zwei Damen mit."
„Die müssen wir dann eben im Zimmer der Zwillinge unterbringen. Die beiden werden ja nicht ausgerechnet heute oder morgen nach Hause kommen."
„Zum Glück habe ich den Raum heute früh auch gelüftet. Shirley hätte mich ruhig vorwarnen können, bevor er nach Halifax abgereist ist. Als hätte ich Ruth etwas verraten! Wo ich doch schweigen kann wie ein Grab. Nicht wahr, liebe Frau Doktor?"
„Wen bringt er den nun mit?" erkundigte sich Anne neugierig.
Susan senkte ihre Stimme zu einem Flüstern:
„Ruths Mutter und ihre Schwester sind vorgestern mit dem Schiff aus Deutschland gekommen. Er hat sie eingeladen bei ihnen zu wohnen!"
„Und wie lange?"
„Wenn ich richtig verstanden habe, für immer. Obwohl ich ja für diese kriegstreiberischen Hunnen nichts übrig habe, muss ich meinen Shirley doch für diese feinsinnige Idee loben. Ruth wird außer sich sein, ich habe sie nämlich zu Rilla sagen hören, dass ihre Familie ihr sehr fehlt."
„Ach Susan, die Frauen können auch in Deutschland nichts dafür, dass es diesen schrecklichen Krieg gegeben hat und es freut mich auch für Ruth. Es ist furchtbar so weit von seiner Familie entfernt zu sein. Mir war schon von Kingsport aus die Entfernung nach Green Gables unendlich erschienen, wie weit ist es dann von unserer schönen Prince Edward Island nach Deutschland. Dann kümmere du dich mal um das Essen und ich husche nach oben, um die Betten zu beziehen. Aber vorher hole ich noch schnell ein paar Blumen aus dem Garten. Ein hübscher Strauß wird dem Zimmer gut tun."
Rilla und Ruth, die allein am Tisch zurückgeblieben waren, sahen sich verwundert an.
„Ich frage mich, wenn Shirley dabei hat", sagte das Blyth´sche Nesthäkchen.
„Ich weiß es nicht", antwortete ihre Schwägerin und atmete geräuschvoll aus.
„Was ist? Geht es dir nicht gut?" erkundigte sich Rilla besorgt.
„Ach, ich fühle mich schon den ganzen Tag nicht so wohl. Mir tut der Rücken weh."
„Dann lass uns doch nach oben ins Wohnzimmer gehen und du legst dich etwas auf das Sofa bis die Gäste da sind und das Essen auf den Tisch kommt."
Ruth stimmte dem Vorschlag zu und die beiden jungen Frauen gingen nach oben. Rilla half der etwas ungelenken Schwägerin die Beine auf die Couch zu legen und schob ihr ein Kissen in den Rücken.
„Bequem so?" fragte sie fürsorglich.
„Ja, danke, du bist ein Schatz. Argh", rief die Schwangere.
Erschrocken schaute Rilla sie an.
„Vielleicht sind es schon die Wehen!"
„Nein Rilla, das kann nicht sein. Ich habe noch gut und gerne vier Wochen Zeit laut Dr. Kirby."
„Und wenn sich dieser Dr. Kirby nun irrt! Ausgerechnet jetzt, wo Vater fortgefahren ist! Das ist so typisch sage ich dir!"
„Weshalb den das?" wollte Ruth, ein wenig über die entrüstete Miene der Schwägerin schmunzelnd, wissen.
„Weil es schon immer so war, dass Vater auf Krankenbesuchen war, wenn eins von uns Kindern ihn als Arzt gebraucht hätte. Und am schlimmsten war es, als mein kleiner Jims diesen schrecklichen Krupp- Anfall hatte. Wäre Mary Vance nicht gewesen, wäre er gestorben!"
„Jims ist das Kriegsbaby, das du aufgezogen hast, nicht wahr?"
„Ja, ein süßer kleiner Kerl, sage ich dir. Manchmal bin ich fast traurig, dass er nun wieder bei seinem Vater ist."
„Bald wirst du dein eigenes Kind haben", tröstete Ruth. „Du heiratest doch Weihnachten?"
„Ja, aber beinah wäre es anders gekommen! Kenneth muss sein Studium um ein Jahr verlängern und deshalb hatte ich schon befürchtet, er würde die Hochzeit verschieben wollen. Aber wir haben nun beschlossen Heilig Abend zu heiraten, dann ziehen wir für ein paar Tage ins Traumhaus und Anfang des nächsten Jahres gehe ich mit ihm nach Toronto. Dort werden wir bis zu seinem Examen im Haus seiner Eltern leben, die im Januar auf Europareise gehen."
„Deine Zukunft ist also schon voll geplant."
„Natürlich, lange genug Zeit dazu hatte ich ja schon. Aber so eilig ist es mir mit einem Baby gar nicht. Ich möchte erst einmal ein wenig Zeit mit Kenneth allein genießen."
„Da hast du auch nicht ganz unrecht. Und du hast ja nun bald eine Nichte oder einen Neffen. Du kannst uns jederzeit besuchen kommen, wenn du Sehnsucht nach einem Baby hast", bot Ruth an, die nun wieder wegen eines Ziehen im Rücken aufschrie.
„Hoffentlich kommt diese Nichte oder dieser Neffe nicht gleich in der nächsten Viertelstunde", äußerte sich Rilla besorgt.
„Ich schau mal wo Mama ist. Die kennt sich mit dem Kinder kriegen aus."
Damit war Rilla auch schon zur Tür hinaus und Ruth blieb allein zurück. Behutsam strich sie über ihren runden Leib, als die nächste Schmerzwelle durch ihren Körper zog. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien und flüsterte:
„Bitte lasse dir doch noch etwas Zeit."
Anne kam nun gefolgt von ihrer Tochter in den Raum.
„Was machst du denn für Sachen?" fragte sie die Schwiegertochter.
Von der letzten Attacke noch etwas atemlos, antwortete Ruth:
„Es sind vielleicht nur Senkwehen. Mein Arzt hat mir gesagt, dass die schon in der nächsten Zeit einsetzen können."
„Hoffentlich hat er damit recht. Ich denke Gilbert wird jeden Moment da sein, der wird sich das mal anschauen. Ich habe zwar selbst selbst sieben Kinder auf die Welt gebracht, aber ich kann mich nicht daran erinnern, wie es damals bei mir los ging und wie es sich anfühlte."
„Wie kann man den so etwas vergessen?" fragte ihre Tochter erstaunt.
„Ein natürlicher Schutzmechanismus, sagt dein Vater. Würden Frauen den Schmerz nicht über die Freude des Babys vergessen, würden sie nie weitere gebären wollen." erklärte Anne.
„Aber das kann man doch gar nicht verhindern, oder?" erkundigte sich Rilla naiv.
„Mein liebes Kind, es gab schon immer Mittel und Wege für eine Frau eine Empfängnis zu verhüten. Die Kirche sieht es aber nicht gern und es ist ein unchristlicher Gedanke, die Zeugung eines gottgewollten Geschöpfes verhindern zu wollen."
Ruth, die nun erneut Aufkeuchte, lenkte die Aufmerksamkeit damit wieder auf sich.
„Auch wenn ich keine Ärztin, Hebamme oder Krankenschwester bin, finde ich den Abstand des Ziehens langsam bedenklich. Wie Senkwehen erscheint mir das nicht gerade. Vielleicht sollte ich lieber euer Bett für eine Geburt vorbereiten", meinte Anne nun auch leicht besorgt.
„Ich glaube ich höre den Wagen kommen", rief in diesem Augenblick Rilla.
Sie lief zum Fenster und sah hinunter auf den Hof.
„Ja, es sind Vater und Walther. Ich laufe schnell hinunter und hole Papa."
Anne blieb bei ihrer Schwiegertochter und nahm deren Hand.
„Es wird schon alles gut werden", sagte sie beruhigend.
Ruth schien das nicht zu glauben. Das konnte man ihrem Gesicht deutlich ansehen.
Rilla stürzte unterdessen aus dem Haus, wo Shirley und Walther zwei gewaltige Kisten aus der Kutsche luden und Gilbert zwei Damen aus dem Automobil half. Alle sahen sie dem Blythschen Nesthäkchen erstaunt entgegen, das die Türe schwungvoll aufgerissen hatte. Ohne den Besucherinnen eines Blickes zu würdigen, lief Rilla zu ihrem Vater:
„Du musst schnell kommen. Ruth und Schmerzen und es wird immer schlimmer. Mutter meinten es könnten schon die Wehen sein!"
Shirley, der bei der Erwähnung von Ruths Namen sofort aufgemerkt hatte, fragte erregt:
„Wo ist sie?"
Kaum hatte Rilla geantwortet, lief er auch schon ins Haus.
„Führst du bitte die Damen ins Haus. Ich komme sofort", sagte Gilbert.
Nun erst sah sich Rilla die Gäste genauer an. Den beiden Frauen, im Alter etwa zwanzig Jahre auseinander, war deutlich anzusehen, dass es sich um Mutter und Tochter handelte. „Kommen sie herein", bat Rilla, aber die beiden blickten sie nur verständnislos an.
„Sie sprechen nur deutsch", rief Walther ihr entgegen.
„Ruth?" fragte die Ältere nun besorgt.
Rilla begriff nun, wenn sie vor sich hatte: die Mutter und die Schwester ihrer Schwägerin.
Mit einer einladenden Handgeste bedeutete sie den beiden nun ihr ins Haus zu folgen. An der Garderobe nahm sie ihnen die Mäntel und Hüte ab. Dann führte sie die weit Gereisten nach oben.
„Mama", rief Ruth voller Freude, als unverhofft ihre Mutter in der Wohnzimmertür stand. Hätte ihr rundlicher Leib sie nicht daran gehindert, wäre sie aufgesprungen. Shirley, zu besorgt wegen ihres Zustandes, hatte seine Schwiegermutter und Schwägerin für einen Augenblick total vergessen gehabt.
Mit Tränen in den Augen begrüßten sich Ruth und ihre Familie. Die Blythes standen gerührt und etwas verlegen dabei. Gilbert, der nun mit der Arzttasche erschien, riss alle aus dem Gefühlstaumel.
„Wie geht es dir, Ruth?" erkundigte er sich in ernstem Ton.
„Es zieht ganz furchtbar im Rücken, aber für einen Moment habe ich alle Schmerzen vergessen", antwortete sie.
Der Arzt lächelte gütig und scheuchte dann alle hinaus, die der folgenden Untersuchung nicht beizuwohnen hatten.
Ruths Mutter und ihre Schwester durften natürlich bleiben und auch Anne und Rilla mussten auf Ruths Wunsch hin im Zimmer verweilen.
Gilbert überprüfte nun mit einem Hörrohr die Herztöne des Kindes, tastete die Lage des Ungeborenen ab und schaute nach der Öffnung des Muttermundes.
„Ich fürchte du wirst nicht länger auf dein Baby warten müssen. Deine Mutter ist gerade rechtzeitig zur Geburt ihres ersten Enkels angereist."
Ruth übersetzte für ihre Mutter, was der Arzt gesagt hatte.
„Es kann allerdings noch ein paar Stunden dauern. Der Muttermund ist erst 4 cm geöffnet. Vielleicht möchtest du also noch etwas mit uns essen?" fragte der werdende Großvater.
Ruth nickt nur zustimmend, da gerade eine neue Wehe ihr den Atem nahm.
Als der Schmerz vorbei war, bat Anne sie ihrer Mutter zu sagen sie solle ihr folgen, weil sie ihnen das Gästezimmer zeigen wolle. Susan, die eben die Treppe herauf gekommen war, wurde angewiesen in fünf Minuten das Essen aufzutragen.
Anne führte nun ihre Gäste in das ehemalige Kinderzimmer ihrer Zwillinge, wo ein frischer Blumenstrauß einen angenehmen Duft verbreitete. Die beiden Frauen nickten dankbar und begaben sich zu ihrem Gepäck, das Walther heraufgebracht hatte. Sie zogen sich rasch um, während Anne mit ihrem jüngsten Sohn Ruth nach unten führte. Rilla wartete derweilen auf deren Mutter und Schwester und führte sie dann in das Speisezimmer.
Als man bei Tisch saß, stellte Ruth ihrer Mutter und Schwester die Familie Blythe und Susan vor.
„Meine Mutter heißt Maria, meine Schwester Helena", sagte sie dann, bevor eine weitere Wehe sie überkam.
„Ich freue mich so, dass ich mich von deinem Mann zum Kommen überreden lassen habe", sagte Maria Müller zu ihrer Tochter.
„Es ist schön euch hier zu haben", sagte Ruth und ein äußerst dankbarer Blick streifte Shirley.
„Du bist ein guter Junge", wendete sich Maria nun an ihren Schwiegersohn, der leicht errötete, als seine Frau ihm die Worte auf englisch wiederholte.
„Ich dachte, das wäre das schönste Geschenk, das ich meiner geliebten Frau zur Geburt unseres ersten Kindes machen könnte", erklärte er seine Beweggründe.
„Außerdem ist das Haus dann nicht ganz so leer bis Walther im Herbst zu uns kommt."
„Ich darf also trotzdem bei euch wohnen während ich aufs Queens gehe?" erkundigte sich Walther, der seine bequeme Familienunterkunft schon gefährdet gesehen hatte.
„Aber natürlich. Wir haben doch genug Platz", sagte Ruth und erklärte ihrer Mutter, das im September der Schwager zu ihnen ziehen würde.
„Bis dahin werden Mutter und ich fleißig die Sprache lernen. Nicht wahr, Mama?" mischte sich nun auch Helena ein.
„Ja, das werden wir. Schließlich müssen wir uns in unserer neuen Heimat verständigen können."
„Aber unsere Kinder sollen auch deutsch lernen", wendete Shirley ein, nachdem Ruth übersetzt hatte.
Diese unmelodische Hunnensprache, dachte Susan bei sich und begann abzudecken. Als aber auch Helena ganz selbstverständlich bei der Arbeit mit anpackte, stieg diese in der Wertung der Hausperle etwas.
Anne übernahm es nun im Gästezimmer, wo Shirley und Ruth schliefen, die Matratze mit einer Schutzhülle und einigen frischen Bettlaken zu beziehen. Sie heizte den Ofen an, stellte ein Körbchen, das Walther vom Dachboden holte, mit neuen Decken bereit und sorgte für einige Sitzgelegenheiten.
Ruth kam nun auch an Shirleys Arm nach oben und ließ sich von ihrer Mutter in ein bequemes Nachthemd helfen. Dann kam Gilbert herauf und untersuchte die Gebärende erneut.
„Es gibt schon leichte Fortschritte. Wenn du nicht zu müde bist, laufe lieber noch ein wenig herum. Das bringt die Geburt noch ein wenig in Gang. Ich lege mich eine Stunde hin. Anne, weckst du mich dann bitte." Mit diesen Worten hatte er das Zimmer auch schon verlassen.
Abwechselnd von den anwesenden Frauen am Arm geführt, ging Ruth nun mit langsamen Schritten auf und ab, immer wieder von neuen Wehen gequält, die nun in immer kürzeren Abständen kamen.
Susan brachte derweilen Tee und erfrischendes kaltes Wasser, sowie eimerweises heißes Wasser, das man ihrer Meinung nach zu jeder Geburt benötigte. Shirley, völlig aufgeregt wegen des bevorstehenden Ereignisses, wurde von Walther im Wohnzimmer festgehalten, wo sein Bruder ihn mit Whisky und einer Unterhaltung von den Schmerzensschreien seiner Frau abzulenken gedachte.
Kurz vor Mitternacht platzte die Fruchtblase und nun wurden die Wehen für Ruth fast unausstehlich schmerzhaft. Anne weckte schnell ihren Mann, der feststellen konnte, dass der Muttermund nun fast vollständig eröffnet war. Er empfahl Ruth sich trotzdem noch nicht hinzulegen, sondern noch ein wenig im Hocken und Vierfüßlerstand zu verweilen, um die Geburt nicht zum Stocken zu bringen. Dann sah er nach seinem jüngsten Sohn, der mit leicht vernebelten Blick im Wohnzimmer vor sich hin döste. Walther saß Schreibmaschine klappernd bei ihm.
Mit müden Augen leisteten Anne, Rilla, Maria und Helena der werdenden Mutter Gesellschaft. Gilbert, der nun hereinkam, schickte die zwei jungen Frauen ins Bett. Natürlich weigerten sich die beiden erst, da sie der Schwester beziehungsweise Schwägerin Beistand leisten wollten.
„So eine Geburt ist nichts für unerfahrene Mädchen. Euch vergeht höchstens die Lust auf das Kinderkriegen. Außerdem müsst ihr in wenigen Stunden die Mütter bei der Betreuung am Wochenbett ablösen", erklärte der Arzt autoritär und die jungen Frauen schlichen drauf hinaus.
Eine weitere Untersuchung ergab, dass Ruth nun fast so weit war und unter den Wehen verspürte sie auch den heftigen Drang das neue Leben an die Welt zu schubsen. Von den stundenlangen Wehen sehr erschöpft, legte sie sich nun auf das vorbereitete Bett und krümmte sich dort unter den raschen und qualvollen Schmerzen, die nun fast nicht mehr zu enden schienen.
„Oh Mutter", jammerte sie auf deutsch. „Es tut so weh. Hört das den gar nicht mehr auf?"
Maria wischte mit einem kühlen Tuch die Stirn ihrer Tochter und benetzte ihre trockenen Lippen.
„Es wird bald vorbei sein. Der große Schmerz wird belohnt, glaube es mir", sagte die erfahrene Frau, die neben ihren zwei Töchtern auch einem kleinen Jungen das Leben geschenkt hatte, der nur wenige Tage nach seiner Geburt aber gestorben war.
