Fortsetzung Kapitel 15

Die Sonne stieg eben hinter dem Horizont empor, als das kleine Köpfchen endlich durch die Geburtsöffnung trat.

„Bei der nächsten Wehe noch einmal kräftig pressen, dann ist das Schlimmste überstanden", feuerte Gilbert seine Patientin an.

Anne und Maria standen rechts und links der Gebärenden und stützten nun deren Rücken, als sie sich während der nächsten Wehe aufrichtete. Mit zusammengebissenen Zähnen presste Ruth mit aller Kraft und fühlte den Kopf ihres Babys austreten.

„Ja, sehr gut", lobte ihr Schwiegervater und sie ließ sich zurück sinken.

„Bei der nächsten Wehe noch einmal kräftig pressen und dann kommen die Schultern" erklärte er, während er mit geübtem Blick das Gesicht des Babys betrachtete. Das kleine, kaum blutverschmierte Köpfchen lag ruhig in seiner Hand. Er spürte die nächste Wehe bei seiner Patientin und als diese nun kräftig presste, half er mit einem kleinen Ruck das restliche Kind aus hier herausziehen. Schnell legte er es auf ein Handtuch und hielt es nun mit den Beinen nach oben in die Luft, nachdem er die Nabelschnur abgebunden und durchtrennt hatte. Das löste den erhofften Schrei des Babys aus. Nun erst schauten die frisch gebackenen Großmütter zum Kopfende, wo Gilbert sein erstes Enkelkind rasch in das Tuch einwickelte.

Mit stolzem Blick legte er das kleine Bündel in den Arm der völlig erschöpften Mutter.

„Es ist ein süßes, gesundes Mädchen", erklärte er und umarmte glücklich und erleichtert seine Frau.

„Shirley wird begeistert sein", flüsterte Ruth kraftlos, die zart über die Wange des Neugeborenen strich.

„Ruth, du musst jetzt noch einmal pressen, wenn die nächste Wehe kommt, wegen der Nachgeburt. Dann wäscht deine Mutter dich und Anne holt den Papa dieses kleinen Wesens" sagte Gilbert.

Ruth hielt sich an die ärztliche Anweisung und Gilbert untersuchte gründlich die Plazenta, bevor er sie in ein Tuch einwickelte.

Maria wusch nun ihre Tochter, während Anne die Laken wechselten und Ruth ihre Tochter im Arm hielt.

Als alle Spuren der Geburt soweit beseitigt waren, ging Anne ins Wohnzimmer und weckte Shirley, der unter dem Alkoholeinfluss auf dem Sofa eingeschlafen war. Als er mit benommenem Blick hinaus gewankt war, holte sie auch die Mädchen und Susan aus dem Schlaf. Sie alle besuchten nun Ruth und bestaunten das Baby, das ganz ruhig und mit großen blauen Augen die vielen Gesichter, die sich über es beugten, bestaunten.

„Susan, machst du bitte Wasser warm, damit Rilla das Mädchen baden kann", bat Gilbert schließlich, als einige Zeit vergangen war.

„Aber sicher, lieber Herr Doktor. Ich koche auch gleich einen Kaffee", sagte diese und stolzierte im Morgenmantel hinaus.

„Und die Großmütter gehen jetzt schlafen", ordnete der Arzt weiter an und duldete weder englische noch deutsche Widerworte.

So gingen Anne und Maria also zu Bett, während Rilla ihre Nichte baden durfte, da sie durch Jims Erfahrung im Umgang mit Babys hatte. Helena sah der Schwägerin dabei aufmerksam zu und brachte dann das Körbchen herbei, als die Kleine gebadet und angekleidet war.

„Gebt sie erst Ruth, sie soll sie gleich zum Stillen anlegen", widersprach aber der Doktor. Und nachdem dieser gesehen hatte, das man seiner Anweisung folge leistete, nahm er seinen jüngsten Sohn mit nach draußen.

„Wir wollen jetzt erst einmal auf dein Töchterchen anstoßen."

Außer einem Tröpfchen Cognac in den Kaffee genehmigte sich Gilbert allerdings keinen Alkohol, da er gedachte pünktlich seine Praxis zu öffnen.

Im Geburtszimmer saugte derweilen die Neugeborene zufrieden an der mütterlichen Brust. Rilla und Helena schafften derweilen Ordnung und legten dann das Baby, das über dem Trinken eingeschlafen war, vorsichtig ins Körbchen.

„Willst du auch schlafen?" fragte Rilla flüsternd.

Ruth schüttelte verneinend den Kopf.

„Ich fühle mich nicht müde. Aber ein Bad wäre sehr schön und ein Frühstück!"

„Gut, wir kümmern uns darum."

Rilla nahm Ruths Schwester mit nach unten und richtete ein Tablett mit belegten Broten und Tee für die junge Mutter. Dann begann sie Wasser für ein Bad zu erwärmen. Helena half ihr dann das heiße Wasser nach oben zu tragen und führte dann mit ihr Ruth, die sehr schwach auf den Beinen war, ins Badezimmer.

Mit einem wohligen Seufzer ließ sich die junge Frau ins Wasser gleiten und blieb mit geschlossenen Augen darin sitzen bis es fast kalt war.

Helena rubbelte ihre Schwester dann trocken und zog ihr ein frisches Nachthemd über. Rilla hatte derweilen das Bett frisch bezogen und nun wirklich müde legte sich Ruth dankbar hinein. Kaum hatte ihre Schwägerin sie zugedeckt, war sie auch schon eingeschlafen.

Nach kurzer, wortloser Verständigung trugen die jungen Frauen ihre Nichte hinaus und ins Wohnzimmer, damit sie beim Aufwachen ihre Mutter nicht auch weckte. Stumm saßen die Mädchen bei einander bis Susan nach oben kam.

„Habt ihr das Badezimmer schon aufgeräumt?" fragte diese streng, da sie ihre Eimer in der Küche vermisst hatte.

„Nein" sagte Rilla und sprang schuldbewusst auf.

„Ich passe auf das Baby auf und ihr schafft Ordnung."

„Komm", sagte das Blyth´sche Nesthäkchen und da die Aufforderung dem deutschen etwas verwandt klang, folgte Helena ihr.

Beim Frühstück bekam dann auch Walther seine Nichte zum ersten Mal zu sehen, die immer noch schlafend in ihrem Körbchen mit nach unten gebracht worden war.

„Das hast du gut hinbekommen", lobte Walther seinen jüngeren Bruder.

Das kleine Mädchen mit seinen langen, dunklen Wimpern und den braunen Löckchen, die sich vorwitzig unter der gehäkelten Mütze hervor stahlen, sah aber auch wirklich zu goldig aus. Auch Gilbert war ganz bezaubert vom Anblick seiner Enkeltochter.

„Welchen Namen werdet ihr ihr den geben?" wollte Susan wissen, die die Ohren den Babys etwas zu abstehend für ihren Geschmack fand und heimlich schon die Mütze darüber gezogen hatte.

„Anne- Maria, nach ihren beiden Großmüttern und Susan." verkündete Shirley.

„Anne- Maria Susan Blythe" ließ sich die Haushälterin genussvoll den Namen über die Zunge gehen.

„Eine sehr gute Wahl", lobte sie ihren „braunen Jungen". Aber ihr wäre so jeder Name angenehm gewesen, den ihr Shirley ausgewählt hatte.

Gilbert öffnete pflichtbewusst um 9 Uhr seine Praxis. Seine Patienten, die ihn ebenso gut kannten, wie er sie und ihre Zipperlein, fragten ihn, weshalb er so strahlend aussehe und jedem verkündete er stolz, dass er Großvater geworden war. Die Nachricht verbreitete sich alsbald in ganz Glen und so klingelte den restlichen Tag ununterbrochen das Telefon vor Glückwunschanrufen. Auch Anne verkündete am Nachmittag per Telefon ihren anderen Kindern die Nachricht von der ersten Nichte und alle wurden zur Taufe eingeladen, die am nächsten Wochenende in Glen stattfinden sollte.

Die nächste Woche verging in Ingleside voller Aufregung. Nur Ruth und das Baby durften behaglich im Bett liegen oder bei strahlendem Sonnenschein und angenehmen Temperaturen auf der Veranda faulenzen.

Susan putzte, unterstützt von Rilla, das ganze Haus für die Tauffeier, die in Parterre stattfinden sollte. Aber mit halber Arbeit gab sich die Haushälterin nicht zufrieden. Schließlich könnte ja ohne weiteres ein Gast nach oben verschwinden, um sich dort umzusehen. Anne gönnte sich den Montag für die Gartenpflege und einen Besuch bei Miss Cornelia, der es immer besser ging und die man bald nach Hause entlassen wollte. Walther zeigte an diesem Tag Maria und ihrer Tochter Glen St. Mary und Umgebung. Die nächsten Tage packten die beiden Frauen aber in der Küche mit an, wo nun gebacken und gebrutzelt wurde was das Zeug hielt.

Da Ingleside keinen Platz für weitere Übernachtungsgäste bot, wurden die Zwillinge ins Pfarrhaus umquartiert. Dort sollten sie in der kleinen Kammer schlafen, in der Tante Mary genächtigt hatte. Diese hatte bis zur Heirat der Pfarrers mit Rosemary West den Haushalt mehr schlecht als recht geführt.

Auch Gertrude hatte sich mit ihrem Mann zur Feier angekündigt und sollte draußen im Traumhaus untergebracht werden, das Kenneth gern zur Verfügung gestellt hatte. Es war vom Bauunternehmer inzwischen wieder bewohnbar gemacht worden. Rillas Verlobter bedauerte sehr nicht selbst kommen zu können, dafür würden aber seine Eltern ihn vertreten.

Anne hatte sich wie eine Schneekönigin gefreut als Leslie Ford ihr mitgeteilt habe, dass sie zur Taufe anwesend sein würde. Schließlich war das erste Enkelkind ihrer Freundin ein besonderer Anlass. Sie würde mit ihrem Mann für wenige Tage bei den Verwandten in Lowbridge unterkommen. Im Traumhaus war leider kein Platz mehr für sie gewesen, weil dort auch Diana Wright mit ihrem Mann und Minnie May wohnen sollten.