Eine Taufe mit Überraschung
Am Freitag nachmittag, dem ersten Julitag, reisten mit dem Nachmittagszug Nan, Di, Jem, Jerry und Una aus allen Himmelsrichtungen an. Das gab ein lautes und freudiges Wiedersehen auf Ingleside und die kleine Anne- Maria wurde gebührend bestaunt. Diese nahm den Trubel, den ihre Geburt verursacht hatte, sehr gelassen hin und es schien, als lächele sie jeden an, der sich über ihr Körbchen beugte.
Am Samstag kamen dann die weiter gereisten Freunde der Blythes an. Anne kam es so vor, als wäre sie nur auf Glen´s Strassen unterwegs. Und so war es auch fast. Am Vormittag holte sie Diana und ihre Familie ab. Nach dem Mittagessen musste sie mit Gilbert zum zweiten Mal an den Bahnhof, um Gertrude und Robert in Empfang zu nehmen. Mit Kutsche und Automobil ging es dann nach dem Kaffeetrinken hinaus zum Traumhaus. Dort konnte Anne ihren Freunden aber nicht lange Gesellschaft leisten, weil mit dem Abendzug Leslie und Owen Ford ankamen. Diese wurden nach dem Abendessen auf Ingleside nach Lowbridge gebracht.
„Ich bin wie tod", sagte Anne, als sie sich nachts an ihren Mann gekuschelt hatte.
„Wir sind eben Großeltern und nicht mehr die jüngsten", neckte Gilbert sie.
„Wenn ich an den Trubel Ende des Monats denke, wenn Jem und Faith heiraten, wird mir ganz übel."
„Da wirst du nur halb soviel Arbeit haben, denn schließlich richten doch die Merediths die Feier aus."
„Darüber muss ich unbedingt noch mit Rosemary sprechen. Ich fände es eine gute Idee das Fest im Bailey- Haus auszurichten. Da wäre sehr viel mehr Platz als im Pfarrhaus."
„Dem kann ich nur zustimmen. Wir könnten ja die Möbel, die für die unteren Räume vorgesehen sind vorerst in den oberen Zimmern unterstellen."
„Zum Glück wollen Jerry und Nan nur eine kleine Feier. Die müssen immerhin wir als Brauteltern ausrichten!"
„Du meinst das Verhältnis zwischen den Merediths und Blythes ist dann ausgeglichen?"
„Ich finde auch, dann gibt es genug Verbindungen zwischen unseren Häusern!"
„Es blieben ja auch nur noch Carl und Una übrig. Und Carl ist zu jung für Diana und außerdem ganz in seine naturwissenschaftlichen Studien vertieft. Und Walther und Una kann ich mir nicht so recht zusammen vorstellen."
„Sie sind auch eher gute Freunde", meinte Anne, die in diesem Fall nicht Una´s Vertraute war.
Nur Rilla wusste genau, wie es um das Herz der jüngsten Pfarrerstochter stand.
Der Sonntag war ein strahlender Sommertag, wie er schöner nicht hätte sein können. Im Morgengrauen regten sich die ersten Glieder auf Ingleside, um die letzten Vorbereitungen für das Tauffest zu erledigen. Schließlich wollte an diesem besonderen Tag, wenn ein Mitglied der Familie in den christlichen Verband aufgenommen wurde, niemand Zuhause und in der Küche bleiben.
Vor der Kirche trafen sich die Blythes mit all ihren Gästen und belegten eine große Anzahl der Kirchenbänke. Nach dem Gottesdienst blieben viele der Kirchgänger, um sich die Taufe des ersten Enkelkindes ihres angesehenen Arztes nicht entgehen zu lassen.
Friedlich wie ein Engel ertrug Anne- Maria Susan Blythe die nasskalte Aufnahme in den Kreis der Gläubigen. Ohne zu schreien lag sie in den Armen ihrer Paten, Helena Maria Müller und Bertha Marilla Blythe, während Pfarrer John Meredith das Kreuz über ihr schlug.
„Nachdem wir nun dieses Kind in unseren Kreis aufgenommen haben, haben mich die Eltern unseres neuen Christenmenschen auch für ihre Verbindung um den geistlichen Segen erbeten. Shirley und Ruth Blythe, kommt bitte zu mir."
Alle sahen sich erstaunt an. Niemand hatte etwas davon geahnt.
„Ich denke die haben in Deutschland geheiratet", tuschelte Susan entsetzt.
Ruth hatte dies gehört und erklärte nun:
„Dort konnten wir aber nur zivilrechtlich, also von einem staatlichen Standesbeamten getraut werden."
Dann standen die beiden vor dem Reverend, der nun die gebräuchlichen Worte zur Einleitung einer Trauung sprach. Shirley strahlte seine Frau an, als würde er sie zum ersten Mal heiraten. „Und so frage ich dich, Shirley Blythe, möchtest du Ruth Maria zu deiner Frau nehmen, sie lieben und ehren bis das der Tod euch scheidet? So antworte mit Ja."
„Ja, ich will", antwortete Shirley mit fester Stimme.
„Und so frage ich dich, Ruth Maria Blythe, möchtest du Shirley zu deinem Mann nehmen, ihn lieben und ehren bis das der Tod euch scheidet? So antworte mit Ja."
„Ja", sagte Ruth mit zärtlichem Ton und sah ihren eben Angetrauten sehr liebevoll an.
Susan kullerte eine Träne der Rührung über die Wange und auch Anne musste verstohlen eine kleine Träne aus dem Augenwinkel wischen.
„Was Gott zusammengeführt hat, das soll der Mensch nicht scheiden", sprach nun John Meredith. Und als er die Verbindung der beiden gesegnet hatte, überreichte er ihnen feierlich ein Buch mit den Urkunden, die die Taufe der kleinen Anne- Maria und die kirchliche Trauung ihrer Eltern bezeugten.
Ein stolzer Shirley nahm seine Braut am Arm und führte sie aus der Kirche, während Helena mit dem Baby folgte. Die Festgäste schlossen sich ihnen an und nachdem man dem Pfarrer an der Kirchenpforte die Hand zum eher formellen Abschied gereicht hatte, mussten noch allerhand Glückwünsche der sonstigen Kirchgänger entgegengenommen werden. Nur Susan und Rilla eilten schon heim, um Tee und Kaffee für die Feier aufzubrühen.
Die zahlreiche Gästeschar wurde nun mit Müh und Not im umgestalteten Wartezimmer an der Tafel verteilt. Schließlich waren neben den Blythes auch die Merediths fast vollständig versammelt, dazu die Gäste von außerhalb. Rilla, Susan und Helena hatten alle Hände voll zu tun, um Kaffee und Tee auszuschenken. Literweise heiße und kalte Getränke mussten aus der Küche herbeigeschafft werden. Dazu gab es kleine Schnittchen, die in der Küche von den Großmüttern des Täuflings gerichtet wurden. Una hatte sich den beiden älteren Frauen dazu ganz selbstverständlich angeschlossen. Walther konnte die jüngste Pfarrerstochter kaum aus den Augen lassen, wenn sie eine neue Platte hereintrug.
Una sah an diesem Tag aber auch sehr liebreizend aus. Sie trug ein neues Kleid, das sie sich an der Hauswirtschaftsschule selbst geschneidert und genäht hatte. Es war aus einem leichten, cremefarbenen Stoff und mit wenigen, dezenten Blümchen bestickt. Unter den Augen ihres „Angebeteten" errötete Una immer wieder und sie war froh gleich wieder in die Küche flüchten zu können.
Nachdem man den ersten Hunger der Gäste gestillt hatte, begann man im Speisezimmer ein Büffet aufzubauen. Gewaltige Braten wurden aus dem Ofen gezogen und aufgeschnitten, große Töpfe Kartoffeln und Gemüse in Schüsseln abgefüllt, kaltes Hähnchen und Salat bereit gestellt und auch an leckerem Pudding als Nachtisch fehlte es nicht. Als alles hergerichtet war, gab Anne ihrem jüngsten Sohn ein Zeichen.
Shirley erhob sich nun und ergriff das Sektglas, das vor ihm stand. Sofort verstummten die Gespräche und alle Blicke wendeten sich dem Vater des Täuflings zu.
„Liebe Familie, liebe Gäste. Ich möchte euch ganz herzlich für euer Kommen und die Geschenke danken, die ihr heute unserem Kind gebracht habt."
Bei diesen Worten zog er Ruth an seine Seite.
„Wir danken euch für eure Glückwünsche und sind froh unser Kind von so lieben Paten und Freunden umgeben zu sehen. Liebe Susan, liebe Mütter, Una, Rilla und Helena, danke für euren fleißigen Einsatz in der Küche."
Dabei sah er die Angesprochenen ebenfalls an.
„Im Nebenzimmer steht das Mittagessen bereit. Lasst es euch schmecken. Vorher aber erhebt das Glas mit mir auf das Wohl von Anne- Maria Susan Blythe!"
Die Gläser klangen und alle riefen: „Zum Wohl!"
Dann tat man dem reichlich gedeckten Tisch im Nachbarzimmer alle Ehren an. Bei fröhlichen Gesprächen verzehrte man die Köstlichkeiten, die Susan und ihre Helferinnen aufgetafelt hatten.
Nach dem Essen zog sich Ruth mit dem Baby auf ihr Zimmer zurück, da Anne- Maria nun gestillt werden musste. Die Merediths, außer Una, verabschiedeten sich und die restlichen Gäste brachen zu einem Spaziergang auf. Susan, Anne und Maria wurde eine Pause verordnet, so dass nun die Zwillinge, Rilla, Helena und die jüngste Pfarrerstochter die Unmengen Geschirr spülten und Kuchenplatten für später herrichteten.
„Was für eine Arbeit" stöhnte Nan über einer Schüssel heißen Aufwaschwassers.
„Ich darf gar nicht daran denken, dass bald Jems Hochzeit ins Haus steht. Da wird es wieder so viel Arbeit geben" gab ihre Zwillingsschwester ihr Recht.
„Ich habe mich von der Schule eine Woche eher freistellen lassen, um Rosemary und Faith bei den Vorbereitungen zu helfen", erklärte Una.
„Und ich werde auch helfen. Carter Flagg muss dann eben ein paar Tage ohne mich auskommen, wenn Mary und Miller Douglas bis dahin nicht zurück sind", sagte Rilla.
„Wenn schönes Wetter wäre, könnte man im Garten feiern", überlegte Diana.
„Im Pfarrhaus wird es ganz schön eng werden. Hier im ehemaligen Wohnzimmer ist mehr Platz als in irgend einem unserer Räume", stimmte die Pfarrerstochter zu.
„Mutter hatte wegen der Räumlichkeiten schon eine Idee. Sie wollte aber erst mit Mrs. Meredith sprechen, bevor sie davon öffentlich redet", verkündete das Blyth´sche Nesthäkchen.
„Wolltet Jerry und du nicht diesen Sommer auch heiraten?" fragte Una die Verlobte ihres Bruders.
„Ja, eigentlich schon. Aber wir haben uns noch nicht wegen eines Termins geeinigt. Wir hatten auch noch nicht groß Gelegenheit darüber zu sprechen", antwortete Nan
„Dann geh doch jetzt zu ihm und nimm ihn auf einen Spaziergang mit. Wir schaffen den Rest auch ohne dich", sagte Di und schob ihre Schwester zur Tür hinaus.
Diese war froh der Küchenarbeit zu entkommen und verließ das Haus.
Gerald war mit seiner Familie nach Hause gegangen und freute sich seine Verlobte so schnell wieder zu sehen. Von ganz allein schlug er einen Spaziergang vor, um mit Nan allein zu sein.
Arm in Arm schlenderten Anne Blythe und Gerald Meredith wortlos dem Regenbogental zu. Dieses lag im warmen Sonnenschein in großer Blütentracht vor ihnen. In stillem Einverständnis ließen sie sich auf zwei moosbewachsenen Steinen nieder, die ihnen schon als Kindern als Sitzgelegenheit gedient hatten.
Jerry nahm Nan´s Hand und küsste sanft jede einzelne Fingerspitze. Ein Kribbeln ging durch ihren Körper und glücklich seufzte sie.
„Ich muss mit dir etwas besprechen", sagte der Pfarrerssohn nun sehr ernst.
Sie nickte ihm auffordernd zu.
„Ich weiß, wir wollten eigentlich dieses Jahr heiraten. Aber ich möchte dich noch um ein Jahr Geduld bitten."
„Aber warum?" fragte die junge Frau bestürzt.
„Ich werde zwar bald mein Examen ablegen, aber ohne ein wenig Erfahrung im Amt eines Pfarrers möchte ich keine Familie gründen, die ich vielleicht nicht ernähren kann."
„Ich bin doch nicht anspruchsvoll! Ich möchte nur mit dir zusammen sein. Außerdem habe ich einiges von meinem Lehrergehalt gespart."
„Von deinem Geld möchte ich aber nicht leben", erklärte er entschieden.
„Das ist doch Unsinn", rief Nan erregt und sprang auf.
„Ich habe meine Stelle als Lehrerin gekündigt und in vierzehn Tagen ist das Schuljahr zu ende."
„Vielleicht kannst du deine Kündigung ja rückgängig machen. Ich werde im August die Pfarrei in Avonlea mit Reverend Nox zusammen übernehmen bis er in den Ruhestand geht."
„Du kommst nach Avonlea?"
„Ja. Ich habe gedacht das Warten fällt dir dann nicht ganz so schwer."
Nan fiel ihm um den Hals.
„Entschuldige, dass ich so aufbrausend war. Wenn du es so beschlossen hast, werde ich mich damit begnügen und gleich am Montag bei der Schulverwaltung vorsprechen!"
Auf Ingleside kehrten inzwischen die Spaziergänger zurück und Anne nutzte die Gelegenheit Diana und Leslie für ein Gespräch unter Freundinnen ins Wohnzimmer zu locken.
„Deine Enkeltochter ist bildschön", sagte Leslie und nahm ein Glas kühle Limonade entgegen, die die Hausherrin ihr reichte.
„Sie ist wirklich hübsch", stimmte Diana zu.
„Ich bin sehr froh, dass sie keine roten Haare hat", antwortete die stolze Großmutter.
„Mit einem braunhaarigen Vater und einer blonden Mutter wohl auch kaum möglich", meinte Leslie.
„Sag das nicht! Gilbert meint, laut der Vererbungslehre wäre das aber möglich!"
„Du sprichst ja schon wie eine Studierte", lachte ihre Freundin aus Avonlea.
„Hast du den nun schon dein erstes Enkelkind?" fragte Diana dann Leslie, die sie nur flüchtig kannte. Aber die beiden verstanden sich sehr gut, auch wenn sie wenig Kontakt miteinander hatten.
„Nein. Ich muss mich mit den Taufen anderer Babys begnügen. Aber Kenneth wird ja nun zu Weihnachten Rilla heiraten. Und Persis hat einen sehr hartnäckigen Verehrer. Er ist ein sehr vermögender Bostoner Geschäftsmann und ich fürchte, wenn sie seinen zahlreichen Anträgen endlich nachgibt und ihn heiratet, werde ich von diesen Enkelkindern einmal genauso wenig haben wie von Kenneth´s Kindern, wo er sich mit Rilla doch hier in Four Winds niederlassen wird."
„Es ist wirklich traurig für eine Mutter, wenn die Kinder so weit weg gehen. Ich bin froh wenigstens meine Anne- Cordelia und ihre Kinder in der Nähe zu haben. Jack zieht durch die Weltgeschichte und kann sich nicht an ein sesshaftes Leben gewöhnen. Also müssen mir Anne´s drei Kinder wohl auch genügen."
„Wie alt sind deine Enkelkinder den?" erkundigte sich Leslie.
„Frederic ist zwölf, Bertha zehn und die jüngste, Josephine, fünf. Nan kennt die beiden Älteren ja durch die Schule. Sie hecken viel Unsinn aus und spielen manchen Streich. Jo ist dagegen der reinste Engel und oft bei mir."
„Dieses Vergnügen werde ich nicht haben", mischte sich Anne nun wieder in das Gespräch ein. „Shirley geht mit seiner Familie bald zurück nach Charlottetown und nachdem nun auch Ruths Mutter und Schwester dort einziehen, wird es für Besucher dort auch reichlich eng."
„Aber wenn du morgens mit dem Zug zu ihnen fährst und am Abend nach Hause lohnt sich das doch auch schon", gab Diana zu bedenken.
„Es ist trotzdem nicht das selbe! Deswegen bin ich froh, dass Jem und Rilla in der Nähe bleiben werden. Bei Nan weiß man nie, wohin es sie verschlägt, wenn Jerry von Pfarrei zu Pfarrei versetzt wird. Walther geht im Herbst aufs Queens und wird wohl sobald nicht heiraten und Di berichtet auch nichts von Verehrern!"
„Wo wird dein Sohn den wohnen?" fragte Leslie.
„Wir schenken ihm und Faith zur Hochzeit das alte Bailey- Haus beim Regenbogental. Deswegen komme ich auch bald einmal nach Avonlea", richtete sie ihre letzten Worte an Diana.
„Wir holen ein paar Möbel von Green Gables für das neue Haus."
„Dann komm unbedingt bei mir vorbei. Ich habe auf dem Dachboden noch eine schöne Kommode von Tante Josephine. Die könnt ihr ihnen auch mitnehmen! Sie würde sich herrlich in einer großen Diele ausmachen. Das wäre gleich mein Hochzeitsgeschenk für das junge Paar."
Rilla betrat nun den Raum und verkündete:"Wir können Kaffee trinken."
Die drei Frauen folgten ihr langsam nach unten.
„Ich kann wirklich zufrieden mit meiner zukünftigen Schwiegertochter sein. Nachdem ich gesehen habe, wie fleißig sie ist und wie ordentlich, muss ich Kenneth zu seiner Wahl wirklich beglückwünschen", lobte Leslie.
„Sie hatte aber auch eine gute Lehrerin", meinte Diana.
Da musste Anne lachen.
„Ich hoffe damit meinst du nicht mich, liebe Diana. Susan hat ihr alles gezeigt, was sie wissen muss. Die Zeiten, wo ich geduldige Lehrerin war, sind lange vorbei. Für Rillas Erziehung war dieser schreckliche Krieg am meisten verantwortlich. Er hat sie zur Frau werden lassen. Ich bin selbst stolz darauf, was aus meinem Nesthäkchen geworden ist."
Rilla hörte dieses Lob ihrer Mutter und errötete vor Freude darüber.
Im ehemaligen Wohnzimmer, das nun als Wartezimmer von Dr. Blythes Praxis fungierte, waren bereits die Gäste der Tauffeier und alle Blythes außer Nan versammelt. Susan schenkte schon wieder Kaffee und Tee aus. Auf der Tafel standen Kuchenplatten und Gebäckschalen. „Wo ist Nan?" fragte die Hausherrin, als sie sich nun neben ihrem Mann niederließ.
„Sie wird wohl mit Jerry spazieren gegangen sein. Wir haben sie jedenfalls zu ihm geschickt", antwortete Di.
In diesem Moment kamen die beiden ins Haus.
„Wir sind schon da", rief Nan und nahm Susan die schwere Kaffeekanne ab mit der diese soeben aus der Küche trat.
Ein gemütlicher Nachmittag bei Kaffee und Kuchen beendete die Tauffeierlichkeiten. Die Gäste, die im Traumhaus untergebracht waren, blieben noch zum Abendessen, die Fords ließen sich aber schon vorher von Gilbert nach Lowbridge fahren. Als dann auch die letzten Gäste gegangen waren, die Zwillinge sich mit Una zum Pfarrhaus begeben hatten und die Küche blitzblank geputzt war, saßen die Bewohner von Ingleside gemeinsam im neuen Wohnzimmer. Der Arzt füllte ein letztes Mal die Gläser mit Bowle, die er am Vortag zubereitet hatte und der man seit dem Abendessen schon fleißig zugesprochen hatte.
„Für mich nicht mehr, lieber Herr Doktor", winkte Susan ab.
„Ich gehe jetzt schlafen. Morgen muss in aller früh schließlich das Wartezimmer wieder hergerichtet werden. Gute Nacht."
Gähnend schlurfte die Haushaltsperle mit ihrem leeren Glas nach unten.
„Ich gehe dann auch schlafen", sagte Ruth. Shirley schloss sich ihr an, als sie nach einem „Gute Nacht"- Gruß den Raum verließ.
„Wenn ich daran denke, dass ich morgen wieder den ganzen Tag bei Carter Flagg im Laden stehe, tun mir jetzt schon die Füße weh!"
„Du warst ja heute auch unermüdlich." lobte der Arzt seine Jüngste.
„Vielleicht kann dich Mrs. Flagg wenigstens am Vormittag vertreten, damit du dich ein wenig ausruhen kannst. Am besten du rufst morgen früh gleich an", meinte Anne.
„Ein wenig frische Luft wird dir sicher gut tun. Ganz blass bist du schon, weil du die letzten Tage kaum aus dem Haus gekommen bist", stellte der Arzt fest.
„Ich werde Susan morgen früh beim Ausräumen des Wartezimmers helfen", sagte Walther. „Vielleicht können wir dann nach dem Frühstück einen Spaziergang machen. Dafür hatten wir die letzte Woche nicht einmal Gelegenheit, Rilla!"
Er wollte unbedingt wieder einmal ein ungestörtes und vor allem unbelauschtes Gespräch mit seiner Vertrauten führen.
„Ja, ich werde morgen anrufen, ob ich den Vormittag frei bekommen kann und dann gehe ich mit dir spazieren. Nun gehe ich aber schlafen."
Rillas letzte Worte gingen in einem lauten Gähnen fast unter. Auch Walther, Maria und Helena schlossen sich nun an, um sich zur Nachtruhe zu begeben.
„Und du bist gar nicht müde?" fragte Gilbert seine Frau, als sie allein zurück geblieben waren.
„Nein, irgendwie nicht, obwohl ich mich durchaus erschöpft fühle."
„Ihr habt auch ganz schön zu arbeiten gehabt. Hätten wir hier so ein schmuckes Hotel wie das in White Sands könnten wir dort solche Familienfeiern begehen und ihr Frauen hättet weniger zu tun!"
„So ein Luxus kostet aber auch sehr viel Geld. Das können wir so sparen und unseren Kindern dafür schöne Geschenke machen. Da fällt mir ein, dass wir Shirley und Ruth noch kein Geschenk zur Hochzeit gemacht haben."
Die kleine Anne- Maria hatte zur Taufe einen ganz modernen Kinderwagen bekommen, den Anne aus einem Katalog bestellt hatte, der in Carter Flaggs Laden auslag.
„Nachdem Jem und Faith das Bailey- Haus von uns bekommen, müssen wir uns schon was gutes einfallen lassen", meinte Anne.
„Für ein Haus hat unser Junge selbst Sorge getragen. Wie wäre es mit einem Automobil? Zufällig verkauft ein Patient aus Lowbridge gerade seinen fast neuen Wagen. Er hatte einen Schlaganfall und ist halbseitig gelähmt, so dass er ihn nicht mehr fahren kann. Und es ist ein recht großes Modell, für eine Familie gut geeignet."
„Das wäre sicher eine große Überraschung! Und das Fahren hat er ja bei der Armee auch gelernt. Wenn wir den Kauf noch diese Woche abwickeln, könnte er gleich damit nach Hause fahren!"
„Ich muss morgen Nachmittag sowieso Mr. Karsen. Da versuche ich mein Glück. Allerdings muss er mir im Preis noch etwa entgegenkommen. Unser finanzielles Polster ist recht angegriffen seit dem Kauf des Bailey- Hauses."
„Dabei brauchen wir auch für Nan und Rilla noch Geschenke!" gab Anne zu bedenken.
„Das ist wohl wahr. Aber Rillas Hochzeit ist ja zum Glück noch ein Stück hin. Ich hatte daran gedacht ihr und Kenneth eine Hochzeitsreise zu schenken. Er ist zwar schon viel herum gekommen, aber unser Nesthäkchen hat noch gar nichts von der Welt gesehen. Ich weiß bloß nicht mit welchem Ziel man ihr eine Freude machen könnte!"
„Da brauchen wir nur Walther zu fragen. Er kennt Rillas Wünsche sicherlich", schuf seine Frau Rat.
„Und für Nan wird es sehr schwer werden", meinte der Arzt.
„Die beiden haben noch nicht mal einen Termin festgelegt. Da können wir uns mit dieser Überlegung wohl noch etwas Zeit lassen", meinte Anne und gähnte verhalten.
„Ich glaube dein Arzt muss dir jetzt dringend Nachtruhe verordnen", scherzte Gilbert.
„Dann will ich dieser ärztlichen Anordnung wohl lieber Folge leisten."
Anne erhob sich, stellte ihr Glas beiseite und hielt ihrem Mann die Hand entgegen. Er nahm sie, stand auf und folgte seiner Angetrauten willig ins Schlafgemach.
Am anderen Morgen wurde noch vor dem Frühstück das Wartezimmer in seinen ursprünglichen Zustand versetzt, sollte doch um 9 Uhr die Praxis geöffnet werden. Rilla erhielt von Mr. Flagg den ganzen Tag frei und konnte so am Mittag mit Walther ihre Geschwister zum Bahnhof bringen. Die Zwillinge mussten noch zwei Wochen unterrichten und auch Jem hatte nur noch zwanzig Tage bis zum Erhalt des Examens. Die meisten Prüfungen hatte er bereits abgelegt, die Ergebnisse würden allerdings erst Mitte Juli bekannt gegeben werden. Auch Jerry und Una bestiegen den Zug, der sie nach Charlottetown beziehungsweise Kingsport bringen würde.
Nachdem der Zug um die letzte Kurve gebogen war und somit ihren Blicken entzogen, gingen Rilla und Walther schweigsam zum Regenbogental.
„Wie schön ruhig es hier ist nach dem Trubel der letzten Tage", sagte Walther.
„Es war aber doch auch schön alle hier versammelt zu haben. Mrs. Ford war sehr lieb zu mir. Wir werden uns sicher gut vertragen, wenn wir im Januar dann ein paar Tage zusammen wohnen. Es ist nur schade, dass Gertrude morgen wieder abreist. Ich konnte mich kaum mit ihr unterhalten. Deswegen werde ich nachher mit Mama hinaus zum Traumhaus gehen. Tante Diana fährt morgen auch nach Avonlea zurück."
„Dann wird es wieder wie vor Shirleys Ankunft sein. Er hat wirklich Leben ins Haus gebracht."
„Hat es dich sehr gestört?"
„Nun ja, an nächtliches Babygeschrei werde ich mich wohl gewöhnen müssen, ebenso an Ruths Familie, wenn ich ab Herbst bei ihnen wohne. Ansonsten hätte ich schon gern ab und zu eine ruhige Minute gehabt."
„Wolltest du deswegen mit mir sprechen?"
„Nein. Eigentlich wollte ich mit dir über Una reden."
Rilla sah ihren Bruder erwartungsvoll an, der nun überlegte, wie er sich am besten ausdrücken sollte.
„Findest du nicht auch sie hat sich dieses Wochenende, zumindest mir gegenüber, merkwürdig benommen?" fragte er schließlich.
„Oh Walther, was hast du erwartet nachdem du sie zu Neujahr so plump ausgefragt hast?"
„Aber muss sie mich deswegen noch Monate später meiden? Ich denke wir haben uns früher so gut verstanden?"
„Die Zeiten und die Menschen ändern sich eben!"
„Meinst du sie mag mich nicht mehr?" erkundigte sich Walther.
„Vielleicht fühlt sie ja, dass du ein anderer Mensch geworden bist und muss sich erst daran gewöhnen. Und auch wenn ihr euch früher so gut verstanden habt, deine engste Vertraute war sie nicht!"
„Aber wenigstens unterhalten könnte sie sich doch mit mir!"
„Dazu war ja nun gestern wenig Zeit, schließlich hat Una uns in der Küche geholfen..."
„Und sie sah bezaubernd dabei aus", unterbrach ihr Bruder sie.
„Das Kleid hat sie selbst geschneidert und genäht. Eine wirklich gute Arbeit", lobte Rilla die Pfarrerstochter.
„Frage sie doch, ob sie dir dein Hochzeitskleid näht", schlug Walther vor.
„Also zwischen einem einfachen Sommerkleid und dem Brautkleid, das ich mir vorgestellt habe, liegen Welten. Da lasse ich nur eine professionelle Schneiderin ran. Una wird schließlich alle Hände voll damit zu tun haben sich ein Brautjungfernkleid zu nähen."
„Bis zum Dezember ist doch noch viel Zeit!"
„Das sagst du jetzt, lieber Walther. Aber der Juni ist so gut wie um, der Sommer wird rasend schnell dahinziehen und wenn du im Herbst ans College gehst, werden die Tage im Flug vergehen."
„Vorher muss ich aber unbedingt die Sache mit Una regeln. Meinst du sie ist mir wieder gut, wenn ich mich entschuldige?"
„Da sie meine beste Freundin ist und ich sie gut kenne, würde ich sagen: Ja. So nachtragend ist sie nicht."
„Den Eindruck macht sie mir momentan aber gar nicht!"
„Ach Walther, du musst noch viel über die Frauen lernen."
„Erst einmal muss ich mich selbst wieder kennen lernen, Rilla- meine- Rilla."
„So hast du mich ja schon ewig nicht mehr genannt!"
„Wir hatten auch selten Zeit für vertrauliche Gespräche in den letzten Wochen", erinnerte sie Walther.
In geschwisterlicher Eintracht gingen sie nach Hause. Auf Ingleside angekommen, staunten sie sehr, als neben dem Automobil ihres Vaters ein zweites, größeres parkte. Ein älterer Mann stieg gerade aus und bekam von Gilbert zum Abschied die Hand gereicht.
„Vergrößern wir uns, Vater?" fragte Rilla, als der Fremde gegangen war.
„Nein, das Automobil ist eine Überraschung für Shirley. Deine Mutter und ich schenken es ihm nachträglich zur Hochzeit."
„Da wird er sich aber freuen! Er hat mir schon oft gesagt, dass er sich eins wünscht. Aber nach dem Hauskauf konnte er es sich nicht leisten", erklärte Walther.
„Walther, hilf mir bitte diese große Plane über das Fahrzeug zu legen. Rilla, du holst bitte deinen Bruder und seine Familie", bat Gilbert.
Rilla lief sofort ins Haus und fand Shirley samt Frau, Schwägerin und Schwiegermutter im Wohnzimmer. Anne wiegte gerade das Baby auf dem Arm.
„Kommt nach unten", rief das Blyth´sche Nesthäkchen, etwas atemlos vom schnellen Herauflaufen.
„Eine Überraschung für die frisch gebackene Familie Blythe", verkündete sie.
Alle schlossen sich ihr an. Susan hatte auf der Veranda einen Sektkühler und Gläser bereit gestellt.
„Shirley, Ruth, das ist euer Hochzeitsgeschenk von eurer Mutter und mir", erklärte Dr. Blythe und enthüllte die Familienkutsche.
„Wow", rief Shirley, als er das Automobil sah. „Das soll wirklich mir gehören?"
Anne legte ihrem Jüngsten den Arm um die Schulter.
„Das heißt wohl er gefällt dir?" fragte sie.
Shirley konnte nur nicken. Sprachlos rannte er die wenigen Stufen hinunter, um sich das Gefährt aus der Nähe anzusehen.
„Vielen Dank", sagte Ruth zu ihrer Schwiegermutter. Ihr Mann war seinem Vater bereits dankbar um den Hals gefallen.
Susan ließ nun den Sektkorken knallen und füllte die Kelche.
„Lasst uns diesen Anlass feiern", rief die Haushälterin und gleich darauf stießen alle an.
Am Abend genoss man die letzten Sonnenstrahlen auf der Veranda.
„Wir werden dann in den nächsten Tagen nach Hause fahren", verkündete Shirley seinen Eltern.
„Du musst sicher wieder an deine Arbeit", schlussfolgerte sein Vater.
„Ja, außerdem wird es doch langsam etwas eng hier und wir wollen euch nicht länger zur Last fallen."
„So ein Unsinn", schnaubte Susan empört über ihrem Strickzeug.
„Wir sehen uns ja dann zu Jems Hochzeit Ende Juli", meinte Anne.
„Da werde ich wohl allein kommen", sagte Shirley.
„Ich möchte dem Baby ungern so schnell wieder eine so weite Reise zumuten. Außerdem wird es dann noch enger im Haus werden. In zwei Wochen schließen die Schulen und das College. Dann kommen Jem und die Zwillinge heim!"
„Dann bleibt wenigstens bis Freitag", bat Anne.
„Dein Vater und ich haben für das Wochenende eine Lastkutsche gemietet, um die Möbel für Jems Haus aus Avonlea zu holen. Da könnten wir euch euer Gepäck nach Charlottetown bringen und ihr fahrt mit dem Automobil voraus. Und Samstagmorgen fahren wir dann weiter."
„Das ist eine gute Idee. Ich lass die Praxis Freitag zu und hole den Wagen früh ab. Dann können wir gleich nach dem Frühstück abreisen", stimmte Gilbert zu.
Shirley akzeptierte den Vorschlag gern, da es sehr unbequem gewesen wäre die Truhen, die Ruths Familie mitgebracht hatte, wieder im Zug zu verstauen. Für vier Erwachsene und ein Baby bot das Automobil für diese Strecke ausreichend Platz.
Wie beschlossen, wurde der Plan dann auch ausgeführt. Shirley war mit seinem Automobil natürlich viel schneller an seinem Haus angelangt. Ruth konnte aber so noch das Gästezimmer für ihre Schwiegereltern vorbereiten und ihre Familie sich bereits in den zugewiesenen Räumen einrichten.
In der Abenddämmerung erreichte das Doktorpaar das Haus ihres Sohnes, das sie nun zum ersten Mal sahen. Gleich nach dem bescheidenen Abendmahl, das aus kalten Resten aus Susans Küche und einem frischen Kuchen bestand, ging man schlafen.
Am nächsten Morgen fuhren Anne und Gilbert nach einem zeitigen Frühstück los. Die Fahrt nach Avonlea dauerte den ganzen Tag und wurde nur gegen Mittag unterbrochen, um das kleine Picknick zu genießen, das man mitgebracht hatte. Es war bereits dunkel, als die beiden Green Gables erreichten, das mit seinen hellen Fenstern einen verlockenden Eindruck bot. Nan erwartete ihre Eltern mit einem köstlichen warmen Essen und frischem Tee. Zu dritt verspeisten sie das späte Mahl. Davy und seine Frau waren schon zu Bett gegangen.
17. Eine Idee wird geboren
Am Sonntag morgen weckte ein Sonnenstrahl, der ihr in der Nase kitzelte, Anne. Sich streckend schaute sie zum Fenster ihres Ostgiebelzimmers und erblickte strahlend blauen Himmel. Sie drehte sich zu Gilbert um, der an den Rand des schmalen Bettes geschmiegt, noch immer tief schlief. Mit einigen zärtlichen Küssen und lauen Atemhauchen ins Ohr weckte Anne ihn unbarmherzig.
„Aufstehen, sonst kommen wir zu spät in die Kirche!"
Gilbert grummelte unwillig.
„Muss das sein?" fragte er in nörgeligem Ton.
„Was sollen den die Leute denken, wenn ich dort allein komme. Außerdem hat Diana uns zum Mittagessen eingeladen", erinnerte seine Frau ihn, bevor sie aus dem Bett sprang.
Sie holte die Kanne frischen Wassers, die vor der Tür stand, herein und begann mit der Morgentoilette.
Mit einem unleidlichen Gesichtsausdruck stand er schließlich auf und trat zur Rasur an die Waschschüssel. Anne kleidete sich derweilen an, machte das Bett und verließ nach einem stürmischen Kuss den Raum. Leichtfüßig wie ein junges Mädchen lief sie die Treppe nach unten. Bei diesem Gedanken musste der Arzt schmunzeln und hätte sich dabei fast geschnitten.
Nach dem Frühstück fuhr das Doktorpaar, kutschiert von Davy, mit ihrer Tochter und Millie Keith zum Gottesdienst. Alte Bekannte begrüßten sie erfreut vor der Kirche und verwickelten sie sogleich in ein Gespräch. Fast erleichtert vernahm Anne daher das Geläut der Glocken und sie nahm wie selbstverständlich ihren Platz im Cuthbert´schen Kirchenstuhl ein. Nach der Segnung verließ Anne als eine der ersten die Kirche, um die Blumen, die noch in der Kutsche lagen, zum Grab der Cuthberts zu bringen. Auch Gilbert suchte rasch die Grabstellen seiner Eltern auf.
Dann fuhren sie mit Diana nach Orchard Slope zum Mittagessen. Anne half der Freundin bei den letzten Vorbereitungen, während sich die Männer über Neuigkeiten der Weltpolitik austauschten.
„Habt ihr schon gehört, dass unser Festsaal abgerissen werden soll?" erkundigte sich Diana, während man dann bei Brathähnchen, Kartoffelbrei und Bohnen saß.
„Dabei hat sich die Jugend unseres Dorfverschönerungsvereins so um den alten Kasten bemüht", stimmte Fred zu.
„Der Festsaal hat aber auch schon viele Jahre auf dem Buckel", meinte Gilbert.
„Und wo sollen in Zukunft die diversen Veranstaltungen stattfinden?" fragte Anne, an diesem Thema sehr interessiert.
„Angeblich gäbe es zu wenig Veranstaltungen, die die Renovierung rechtfertigen" antwortete Mrs. Wright.
„So ein Festsaal wäre aber doch auch was für Hochzeiten", meinte Anne und sah ihren Mann bedeutungsvoll an.
„Ich möchte wissen, was dir nun jetzt wieder durch den Kopf spukt", sagte Dr. Blythe.
„Bei den großen Hochzeiten und Taufen, die in Glen in den letzten Monaten statt gefunden haben, hätte sich so ein Saal bei uns schon rentiert." fand seine Frau.
„Du hast doch gesehen wie eng es zu Anne- Marias Taufe bei uns war. Jems Hochzeit ist durch das Bailey- Haus abgeklärt, aber wenn Nan und Rilla noch in diesem Jahr heiraten! Kenneth hat schließlich auch noch eine große Familie. Da wird es eng auf Ingleside!"
„In sechs Monaten kann man so ein Projekt aber nicht aus dem Boden stampfen", wendete Gilbert ein.
„Warum nicht? Mit ein bisschen Elan könnte das was werden!"
„Dazu müsstest du erst einmal die nötigen Mittel haben und einen Bauunternehmer, sowie Architekten, die so kurzfristig Zeit haben."
„Ich werde am Dienstag gleich mit dem Projekt anfangen." verkündete Anne entschlossen.
„Und die Hochzeitsvorbereitungen?" fragte ihr Mann.
„Rosemary und Faith werden den Großteil sowieso allein machen wollen. Und ein wenig Zeit wird mir dafür auch noch bleiben!"
Diana und Fred lauschten wortlos dem Gespräch ihrer Freunde, das sie mit einer harmlosen Frage in Gang gebracht hatten. Die restliche Mahlzeit unterhielt man sich daher lieber über Belanglosigkeiten und nach dem Abwasch verabschiedete man sich.
Den Nachmittag verbrachte Anne damit auf dem Dachboden von Green Gables nach brauchbaren Stücken zu suchen, die Gilbert dann mit Davy in den Stall schleppte und schon auf dem Wagen verlud. Für den Ofen von Mrs. Lynde musste man sich die Hilfe des Nachbarn, Mr. Scott, und seines Sohnes holen, die seit einigen Jahren auf der ehemaligen Harrison- Farm lebten.
James A. Harrison war kurz nach Kriegsbeginn friedlich in seinem Bett eingeschlafen. Seine Witwe Emily war daraufhin nach New Brunswick zurück gekehrt. Sie hatte bis zu ihrem Tod noch einen regen Briefkontakt zu ihrer Freundin Mrs. Lynde unterhalten.
Am Montagmorgen brachen die Blythes in aller Frühe auf. Selbst das Frühstück nahmen sie in einem Korb mit, da es nach Glen eine sehr weite Strecke zu fahren war. Nan verabschiedete sich nun für eine letzte Woche, dann endete die Schule und sie käme nach Ingleside. Sie hatte ihren Eltern von den geänderten Hochzeitsplänen berichtet und würde ab September für ein weiteres Jahr die Schule in Avonlea übernehmen. Da Nan bei ihren Schülern sehr beliebt war und auch bei den Inspektionen der Schulbehörde regelmäßig gut abschnitt, hatte man ihre Kündigung gern zu den Akten gelegt.
Erst mitten in der Nacht erreichten Anne und Gilbert ihr dunkel daliegendes Ingleside. Sie brachten die Kutsche nur in den Stall, versorgten die Pferde und schlichen dann ins Haus. Todmüde fielen sie in die frisch bezogenen Betten, die nach Frühlingsblumen dufteten.
„Ich bin eindeutig zu alt für diese Art des Reisens", stöhnte Gilbert, dem sämtliche Knochen schmerzten.
„Du bist eben ein alter Großvater", neckte Anne ihn. Sie fühlte sich aber selbst wie erschlagen und dachte mit Schaudern an den nächsten Morgen.
Pünktlich acht Uhr weckte Susan ihre Hausherren, deren Rückkehr sie am Morgen bemerkt hatte. Stöhnend und mit steifen Gelenken erhob sich Gilbert. Anne bemühte sich wenigstens seinen Rücken mit einer Massage zu entspannen, aber es half sehr wenig. Erst als der Arzt beim Frühstück eine Tasse Kaffee genossen hatte, fühlte er sich etwas besser. Pflichtbewusst öffnete er auch 9 Uhr die Praxis und lud noch vor dem Mittagessen mit Walther die Kutsche am Bailey- Haus ab.
Anne plante dagegen gleich eine Initiative für den Festsaalbau und begab sich ohne Verzögerung nach dem Mittagsmahl zu Rosemary Meredith, geborene West.
„Anne, wie schön dich zu sehen", sagte die Pfarrersfrau, als sie der Arztfrau öffnete.
Sie führte ihre Besucherin in das Wohnzimmer und bot ihr gekühlte Limonade an, die sie frisch zubereitet hatte.
„Was führt dich an diesem heißen Tag zu mir?" erkundigte sich Rosemary, nachdem sie ebenfalls Platz genommen und einen Schluck getrunken hatte.
„Zwei Dinge. Erstens geht es um Faiths Hochzeit. Da hier im Pfarrhaus so wenig Platz ist, hatte ich nämlich die Idee wir könnten die Feier im Bailey- Haus ausrichten. Dort stehen noch keine Möbel im Weg und die Räume gehen zwanglos ineinander über. Einfach perfekt für eine Party, finde ich."
„Ich habe mir auch schon Gedanken deswegen gemacht und wollte schon Ellen bitten, ob wir nicht im Haus auf dem Hügel feiern können. Aber der Fußmarsch von der Kirche dorthin ist ganz schön beschwerlich, vor allem wenn es so warm wird wie heute."
„Ich bin froh, dass du meiner Meinung bist, Rosemary. Und ich denke es schadet der Freude über unser Hochzeitsgeschenk nicht, wenn wir das Geheimnis darüber schon vorher lüften."
„Die Kinder sind ja nun erwachsen! Und was wolltest du als Zweites besprechen?"
„Mein Wochenend- Besuch in Avonlea hat mich darauf gebracht, dass es Glen an einer Räumlichkeit für große Feiern, wie eben z.B. die Hochzeit unserer Kinder oder für Taufen fehlt. In Avonlea gibt es schon seit ewigen Zeiten einen Festsaal, der zwar weniger für solche eben genannten Anlässe, dafür aber für Versammlungen aller Art, Basare und so weiter, genutzt wird."
„Und du meinst Glen bräuchte so einen Festsaal, Anne?" fragte die Pfarrersfrau zweifelnd.
„Aber natürlich! Die Kirche ist für viele Versammlungen einfach nicht der geeignete Rahmen. Und denk nur an die Veranstaltungen des Roten Kreuzes, wo wir jedes Mal nach Lowbridge oder Upper- Glen mussten!"
„Und wie hast du dir das vorgestellt?"
„Ich möchte einen Festsaalverein gründen, der Geld für den Bau sammelt. Am Ende der Hauptstrasse, wo es nach Lowbridge geht, liegt ein schönes Stück Bauland brach. Das wäre sehr gut geeignet und Mr. Miners hat sich beim Bau der Trennwand auf Ingleside und bei den Renovierungen im Traum- und Bailey- Haus bestens bewährt!"
„Gut, du hast mich überzeugt. Vielleicht könnte man dann auch die Veranstaltungen rund um die kirchlichen Feiertage dort begehen und John müsste sich nicht jedes Mal das Kreuz beim Verschieben der Kirchenbänke verrenken. Ich bin dabei, aber erst nach der Hochzeit!"
„Aber dann ist ja bereits August! Ich wollte den Festsaal zu Winterbeginn stehen sehen."
„Aber Anne, ich bin zur Zeit mit dem Zuschnitt und Nähen von Faiths Brautkleid völlig ausgelastet. Der Haushalt macht sich schließlich nicht allein und Faith kann mir durch die Arbeit in der Praxis deines Mannes weniger helfen."
„Dann unterstütz mich wenigstens bei der Mundpropaganda", bat Anne.
„Selbstverständlich. Ich werde John bitten am Sonntag im Anschluss an den Gottesdienst das Thema zur Sprache zu bringen."
Mehr konnte Rosemary erst einmal nicht für ihre Freundin tun. Anne ging ein wenig bedrückt nach Hause, hatten ihre Pläne doch einen kleinen Dämpfer bekommen. Die nächsten Tage konnte sie an deren Verwirklichung aber auch nicht mehr arbeiten. Gilbert kam abends mit der Nachricht nach Hause, dass Miss Cornelia am Freitag aus dem Krankenhaus entlassen würde. Deswegen begann Susan gleich am Mittwoch das Haus der Elliots zu putzen und vorzukochen, wie sie es Marshall versprochen hatte. Anne musste sich deshalb allein um ihren Haushalt kümmern.
Am Sonntag bat der Pfarrer nach dem Gottesdienst wirklich noch um einen Moment Aufmerksamkeit und berichtete von Anne´s Idee. Der Gedanke beschäftigte auch sogleich die Gemüter und vor der Kirche wurde die Initiatorin mit Fragen bestürmt. Anne fühlte sich ein wenig überrannt, bemerkte aber ein großes Interesse und verkündete deshalb:
„Alle, die sich für den Bau eines Festsaales einsetzen möchten, lade ich für Mittwoch 15 Uhr nach Ingleside ein."
Susan, die im Hintergrund den Trubel verfolgt hatte, schnaubte bei diesem Gedanken. Das bedeutete wieder eine Menge Arbeit, schließlich würden die Gäste mit Kaffee und Kuchen bewirtet werden wollen. Dabei hatte sie gerade erst einige Tage anstrengenden Hausputz hinter sich, damit Mrs. Elliot ein blitzblankes Haus vorfand.
„Liebe Frau Doktor", wagte die Haushälterin deswegen auf dem Heimweg zu bemerken,
„diese zusätzliche Arbeit jetzt im heißesten Juliwetter und das keine 14 Tage vor Jems Hochzeit! Muss den das wirklich sein?"
„Nan wird mir dabei helfen. Sie kommt morgen für die Ferien nach Hause."
„Und ich bin auch noch da!" schaltete sich Rilla ein, die an Walthers Seite vor ihnen herging.
„Bist du nicht im Laden?" fragte Gilbert.
„Doch, aber ich kann mir ja nachmittags mal frei nehmen", antwortete das Blyth´sche Nesthäkchen.
Am Montagmittag kam Nan in Glen an und wurde von ihrer Mutter mit der Kutsche am Bahnhof erwartet.
„Schön, dass du mich abholst. Der Koffer ist ganz schön schwer geworden!" sagte Nan, nachdem sie Anne begrüßt hatte.
„Das habe ich doch gern gemacht. Alles in Ordnung in Avonlea?"
„Natürlich! Das Schulhaus habe ich für das nächste Schuljahr frisch streichen lassen, deswegen konnte ich erst heute kommen. Ich wollte aufpassen, dass Frederic Wright, Anthony Scott und Mark Sloane, die sich zu der Arbeit bereit erklärt haben, es auch ordentlich machen."
„Und welche Farbe habt ihr gewählt?"
„Ein schönes waldgrün. Das ewige weiß war kaum noch zu ertragen und nun fügt sich das Gebäude sehr harmonisch in den kleinen Hain ein."
Der kleine Hain bestand in Wirklichkeit aus fünfzig schon recht großen Baumsprösslingen die Anne und Gilbert vor vielen Jahren mit dem Dorfverschönerungsverein angepflanzt hatten. Nachdem die ersten Bäume durch den unvergessenen Sturm, den sie in Onkel Abe´s Namen vorhergesagt hatten, zerstört worden waren, hatte der Verein im Folgejahr einen zweiten Versuch gestartet. Nun spendeten dieser Hain den Kindern in ihrer Mittagspause wohltuenden Schatten und verhinderte ein zu starkes Aufheizen des Schulraumes.
Als Mutter und Tochter Ingleside erreichten, waren alle Neuigkeiten besprochen und Nan hatte ihre Unterstützung für die allererste Sitzung des Festsaalvereins zugesagt.
Beim gemeinsamen Kaffeetrinken wunderte sich Nan:
„Ist Di den nicht da?"
„Nein. Sie hat auch seit einer Woche nichts von sich hören lassen und in der Summerside- Highschool geht niemand ans Telefon", erklärte Anne.
„Hast du den nichts von ihr gehört?" fragte Gilbert.
Der Zwilling schüttelte den Kopf.
„Sie hat sich seit der Taufe nicht bei mir gemeldet", sagte Nan und schaute besorgt drein. Wenigstens bei ihr hatte sich die Zwillingsschwester regelmäßig gemeldet.
Am Mittwochnachmittag fühlte sich der Wartesaal von Gilberts Praxis mit Interessierten für den Festsaal. Nan und Rilla reichten Erfrischungen und brachten auch noch die Stühle aus dem Speisesaal und der Küche, damit alle Platz fanden. Als der Zustrom von Gästen endete, ergriff Anne das Wort:
„Ich freue mich, dass soviel Zuspruch für meine Idee besteht", fing sie an, nachdem sie alle Besucher nochmals begrüßt hatte.
„Als erstes möchte ich kurz erläutern, wie ich auf diesen Gedanken gekommen bin. In Avonlea, wo ich aufgewachsen bin, gibt es schon seit vielen Jahren einen Festsaal."
Das dieser nun abgerissen werden sollte, verschwieg sie lieber.
„Dort fanden regelmäßig Lesungen, Debattierclubs und Basare statt. Ich hatte aber für Glen auch noch eine weitergehende Nutzung für Feiern anlässlich Taufen, Hochzeiten oder Todesfällen im Sinn. Die Gästeschar zu solchen Ereignissen wird immer größer und oft muss man Verwandten, die zu solchen Festen anreisen möchten, einen Korb geben, weil im Haus einfach nicht genug Platz ist. Die Errichtung eines Festsaales, der von allen Bürgern genutzt werden könnte, würde dieses Platzproblem lösen. Deswegen möchte ich einen Verein gründen, der sich mit dem Bau und der Verwaltung eines solchen Festsaals beschäftigt."
Zustimmendes Gemurmel machte sich im Zimmer breit, während die Rednerin tief Luft holte und einen Schluck Wasser nahm.
„An der Hauptstrasse nach Lowbridge liegt ein Baugrundstück brach. Es wäre in idealer Entfernung zur Kirche und zentral für Glen´s Einwohner gelegen. Es gäbe ausreichend Platz für ein Gebäude und Abstellmöglichkeiten für Kutschen und Automobile."
„Und wer soll das ganze finanzieren?" fragte nun jemand.
„Ich schlage eine Sammlung vor. Jeder, der eine gewisse Summe zum Bau beiträgt, erhält das Recht den Saal auch zu mieten. Und wer sich jetzt nicht dazu entschließen kann, könnte später gegen einen Opulus ebenfalls das Recht dazu erwerben."
Carter Flagg erhob sich nun, der seinen Laden für den Nachmittag zugesperrt hatte, da seine Aushilfe nicht abkömmlich gewesen war, weil sie die Gäste der Sitzung bewirtete.
„Ich wäre dafür wir gründen jetzt auf der Stelle diesen Verein und tragen uns als Mitglieder ein und dann packen wir es an."
Anne, mit so einer Aufgabe bereits vertraut, brachte ein vorbereitetes Pamphlet zum Vorschein, in den sich ein Großteil der Anwesenden einschrieb und somit den Beitrag von zehn Dollar, den Mrs. Blythe angesetzt hatte, akzeptierte. Sie wurde zur Vorsitzenden gewählt, John Meredith zum Kassenwart und seine Frau zur Schriftführerin. Als nächstes beschloss man einen öffentlichen Aushang, der allen Einwohnern die Gründung des Vereins bekannt gab, es wurden Komitees zur Geldsammlung gegründet und Dr. Blythe mit der Aufgabe betraut Angebote von Architekten einzuholen. Die nächste Sitzung wurde für den zweiten Mittwoch im August beschlossen.
Sehr zufrieden mit dem Ergebnis des Nachmittags lag Anne an diesem Abend neben Gilbert im Bett.
„Zwanzig Mitglieder für den Anfang ist doch gar nicht schlecht, oder?" fragte sie.
„Ich staune wirklich wie du die altmodischen Glener von deiner Idee überzeugt hast", gab er zu und küsste sie liebevoll auf die Nase.
„Ich bin mal gespannt, was Miss Cornelia dazu meint", setzte er fort.
„Morgen Nachmittag fahre ich zu ihr. Nächste Woche werde ich dazu keine Zeit mehr haben, schließlich muss das Bailey- Haus für die Hochzeit vorbereitet werden."
„Faith kommt mir ganz schön aufgeregt vor. Sie kann sich kaum auf ihre Arbeit in der Sprechstunde konzentrieren."
„Sie wird dir ganz schön fehlen in der Praxis, nicht wahr?
„Ja, aber vielleicht lässt sich Jem ja überzeugen sie noch ein wenig für mich arbeiten zu lassen."
„Übermorgen kommt unser Junge heim", sagte Anne glücklich.
„Dr. James Matthew Blythe! Er hat wirklich ein erstklassiges Examen hingelegt. Ich bin sehr stolz auf ihn. Ein Grund mehr, warum er das Bailey- Haus verdient hat!"
„Bei so einem Vater musste er doch ein erstklassiger Arzt werden! Schade, dass wir nicht dabei sein können, wenn er morgen sein Diplom und die Auszeichnung als Jahresbester erhält."
„Seine Intelligenz hat er aber nicht von mir allein. Ich kann mich da an eine junge Studentin erinnern, die sich am Queens- College und in ihrem ersten Redmond- Jahr Stipendien errang!"
Anne errötete bei diesen lobenden Worten, aber in der Dunkelheit konnte Gilbert das nicht sehen, sonst hätte er sie deswegen sicher geneckt.
„Morgen fahre ich nach Lowbridge und suche die zwei Architekten auf. Sie sollen mal ein paar Pläne für den Festsaal erstellen", wechselte er dann das Thema.
„Mmh", murmelte Anne, nun schon etwas schläfrig.
„Vielleicht können wir uns im August schon für einen Entwurf entschließen. Ich werde auf alle Fälle Mr. Miners vorwarnen, dass er sich nicht zu viele Aufträge für den Herbst einplant!"
„Vielleicht solltest du dich noch nach einem anderen Bauunternehmen umsehen", schlug der Arzt vor.
„Nein, die Einheimischen sollen auch daran verdienen. Vielleicht schließt sich Mr. Miners dem Verein an und kommt uns mit den Kosten entgegen", meinte Anne, bevor sie ihrem Mann endgültig „Gute Nacht" wünschte.
Am nächsten Nachmittag besuchte Anne zu Fuß ihre alte Freundin Miss Cornelia, die in eine Decke gehüllt auf einer Chaiselongue auf der Veranda ruhte.
„Liebe Anne, wie schön dich zu sehen. Es ist so furchtbar langweilig und einsam heute."
„Ist Mr. Elliot nicht zu Hause?"
„Ich habe ihn vorhin zum Angeln geschickt. Er hat mich schrecklich genervt, wie er ständig um mich herum scharwenzelte. Ich wünschte Mary wäre da!"
„Du hast also auch noch nichts von ihr gehört?"
„Nein, kein Sterbenswörtchen. Aber jetzt bist du ja hier. Würdest du uns eine Tasse Tee machen?"
Anne tat ihrer Freundin, die noch viel liegen musste, gern diesen Gefallen. In der etwas unordentlichen Küche brühte sie Tee und während das Wasser im Kessel zum Kochen gebracht wurde, erledigte sie wenigstens den Abwasch.
Mit einem Tablett, auf dem sich auch Kekse aus Susan´s Vorrat befanden, gesellte sie sich wenig später wieder zu Mrs. Elliot.
„Ich hoffe Marshall hat die Küche nicht in allzu schlimmem Zustand hinterlassen, liebe Anne."
„Keine Sorge, dein Mann kümmert sich schon ganz gut um den Haushalt."
„Ich möchte nicht wissen wie es vor Susans Hausputz letzte Woche hier ausgesehen hat. Aber ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass eine Fremde in meinen Schränken wühlt. Wäre Mary da, sie würde sich schon um alles kümmern."
„Früher oder später kommt sie zurück. Der Tod des Babys war ein schrecklicher Schlag für sie."
„Liebe Anne, das entschuldigt ihr Verhalten keinesfalls. Aber erzähle, was gibt es sonst?"
Mrs. Blythe berichtete nun von den Neuigkeiten aus Glen und erwähnte zuletzt den eben gegründeten Festsaalverein, in Erwartung verheerender Kritik seitens der Älteren. Zu ihrer Überraschung sagte Miss Cornelia:
„Das nenne ich aber mal einen positiven Fortschritt! So etwas hat Glen wirklich gefehlt. Wenn ich an diese Enge bei so mancher Taufe oder Trauerfeier denke. Vergesst bloß nicht an eine Küche zu denken, damit man nicht all die Köstlichkeiten, die man aufzutischen gedenkt, durch die Weltgeschichte kutschieren muss."
„Daran habe ich noch gar nicht gedacht, Miss Cornelia. Das ist ein ganz wunderbarer Vorschlag!"
„Ich möchte auf alle Fälle dem Verein beitreten, wenn ich auch im Moment nicht viel dafür tun kann. Setzte Marshall und mich ruhig mit je zehn Dollar auf die Mitgliedsliste, liebe Anne."
„Ihr Vorbild wird viele Glener überzeugen", sagte Anne sehr glücklich.
„Ob die Meinung einer alten, gebrechlichen Frau in Glen noch viele interessiert, wage ich zwar zu bezweifeln, aber sei es drum."
„Miss Cornelia, man ist nur so alt wie man sich fühlt", konterte die Besucherin fröhlich.
„Du musst dich heute wie dreißig fühlen, jedenfalls siehst du so aus!"
„Ja, heute ist wieder so ein Tag wo ich fast vergesse, dass ich schon Großmutter bin!"
„Liebe Anne, es gibt auch junge Omas. Ich bedauere es sehr, dass ich zur Taufe deiner Enkeltochter kommen konnte."
„Es war ein sehr schönes Fest. Leider wird Shirley nächste Woche allein zu Jems Hochzeit kommen, sonst wäre ich mit Anne- Maria einmal zu dir heraus gekommen."
„Das ist ein schöner Gedanke. Aber ich werde dein Enkel sicher noch zu Gesicht bekommen."
„Versprochen", sagte Anne, bevor sie sich erhob um das Teetablett in die Küche zu tragen.
Sie hatte sich gerade von Miss Cornelia verabschiedet, als deren Mann mit reichem Fang heimkehrte.
„Ich fahre sie nach Hause", bot er an und Anne akzeptierte das freundliche Angebot an. So stand sie schon kurze Zeit später im Hof von Ingleside und hatte obendrein noch einige Forellen als Bereicherung der Abendtafel in der Hand.
