Jems Hochzeit
Am Freitagmittag standen sämtliche Inglesider und Merediths am
Bahnhof von Glen St. Mary, um die Absolventen des Redmond- Colleges
und Una zu empfangen. Pünktlich bog der Zwölf- Uhr- Zug um
die Ecke und hielt quitschend am Bahnsteig. Zwei fröhliche
Männer und ein schüchternes Mädchen wurden von ihren
Familien liebevoll und stolz begrüßt. Auch die jüngste
Pfarrerstochter hatte eine Woche vor dem offiziellen Kursende das
Examen an der Hauswirtschaftsschule in Charlottetown bestanden.
Walther brachte mit dem Automobil das Gepäck der Angekommenen
zum Pfarrhaus und nach Ingleside, während die anderen den Weg
nach Hause zu Fuß gingen. Das baldige Brautpaar, sowie Nan und
Jerry gingen Hand in Hand, während sich Rilla bei Una eingehakt
hatte.
„Vielleicht kannst du mir jetzt noch bisschen was beibringen",
sagte Marilla zu ihrer Freundin.
„Ich glaube, ich eigne mich nicht gut als Lehrerin", sagte diese
schüchtern.
„Aber ich glaube daran", munterte Rilla sie fröhlich auf.
„Walther möchte übrigens gern mit dir wegen seiner dummen
Anspielung zu Jahresbeginn mit dir reden", flüsterte sie dann.
„Ach, ich habe mich doch wie eine dumme Gans benommen und traue
mich deswegen kaum noch ihn anzuschauen."
„Dieses Missverständnis solltet ihr schleunigst bereinigen",
riet das jüngere der Mädchen.
Jem wurde an diesem Abend auf Ingleside gefeiert wie ein frisch gekrönter König. Nur Diana fehlte im fröhlichen Kreis der Familie Blythe und wurde schmerzlich vermisst. Vor allem weil niemand wußte, wo die junge Frau steckte, da die Summerside- Highschool seit einer Woche geschlossen war.
Am nächsten Morgen standen Susan und Anne schon sehr früh in der Küche. Noch vorm Frühstück begann man mit den Vorbereitungen für das Mittagessen, da man die Familie Meredith dazu eingeladen hatte. Diese würde vollzählig mit neun Personen vertreten sein, da am Morgen auch Carl von der Universität zurück erwartet wurde, der seine Ferien im Elternhaus verbringen wollte.
Ein zusätzlicher Tisch und einige Stühle schafften an der Mittagstafel Platz für die Pfarrersfamilie, die mehrere Flaschen Wein zur Begleitung des Festmahls beisteuerte. Marilla half der Haushälterin, die es an diesem Tag vorzog in der Küche zu speisen, beim Servieren. Nach Annes berühmter Zwiebelcremesuppe gab es einen frischen Salat, der im Inglesider Garten herangewachsen war. Der Hauptgang bestand aus einem riesigen Roastbeef, für das Susan den Metzger wochenlang vorher instruiert hatte. Dazu reichte man Kartoffelklöße und gedünstete Möhren, die ebenfalls von Anne gezogen worden waren. Als Nachtisch reichte man schließlich eine beschwipste Torte, wobei Susan gleich zwei Exemplare hatte backen müssen, damit jeder ein ausreichendes Stück abbekam.
Der Wein, den man dazu trank, ergänzte das delikate Mahl. Nur der zwölfjährige Bruce musste sich mit Limonade begnügen. Die Gespräche bei Tisch waren sehr rege. Nan interessierte sich sehr für Carls Studium und dessen Bruder sah fast ein wenig neidisch zu wie konzentriert seine Verlobte dem Jüngeren lauschte. Faith und Jem dagegen hatten nur Augen für einander.
„In einer Woche werden wir Mann und Frau", flüsterte Jem ihr
gerade zu.
„Ich kann es kaum glauben, dass es nun endlich soweit ist",
antwortete sie ebenso leise.
Susan, die mit Rilla den Tisch abgedeckt hatte, brachte nun ein Tablett mit Gläsern. Das Blyth´sche Nesthäkchen folgte mit zwei gut gekühlten Sektflaschen, die Gilbert mit knallenden Korken öffnete. Nachdem alle einen Kelch erhalten hatten, auch Bruce bekam einen kleinen Schluck des prickelnden Getränkes eingeschenkt, ergriff der Hausherr das Wort:
„Als erstes möchte ich mit euch auf das Wohl unserer Redmond-
Absolventen, Reverend Gerald Meredith und Dr. James Matthew Blythe
anstoßen."
Alle stimmten in das „Zum Wohl" ein und ließen die Gläser
klingen. Auch Nan sah nun wieder zu ihrem Jerry und ihr liebevoller
Blick ließ ihn alle Eifersucht vergessen.
„Zum zweiten möchten Anne und ich unserem Brautpaar, das in
einer Woche heiratet, bereits heute unser Hochzeitsgeschenk
überreichen."
Bei dieser Ankündigung sahen sich Faith und Jem erstaunt an und blickten dann gespannt auf das Blyth´sche Ehepaar. Anne überreichte ihnen ein kleines, bunt eingewickeltes Päckchen, das die Braut gespannt öffnete. Unter dem Papier kam eine kleine Schatulle zum Vorschein, deren Deckel nun Jem aufklappte. Ein rustikaler, blank polierter Hausschlüssel kam zum Vorschein und die Beschenkten sahen nun fragend die Geber an.
„Dies ist der Schlüssel zu eurem ersten Heim", klärte
Gilbert sie auf.
„Wir haben das Bailey- Haus für euch gekauft und renovieren
lassen. Es stehen sogar schon ein paar Möbel darin", erzählte
Anne.
„Aber... aber... so ein Riesengeschenk hätte es nun wirklich
nicht gebraucht", stammelte Jem. „Für eine eigene Familie
braucht man Platz und Faith möchte sich ihren Herd sicher nicht
gern mit deiner oder ihrer Mutter teilen", widersprach sein Vater.
„Außerdem hast du es mehr als verdient nach diesem sehr guten
Examen", ergänzte Anne.
„Vielen Dank", sagte Faith ganz ergriffen.
„Aber damit ihr auch wisst, warum ihr das Haus heute schon von uns
bekommt, möchte ich bemerken, dass wir es nächsten Samstag
gleich zur Feier eurer Hochzeit nutzen wollen", sagte Mrs. Blythe.
„Dort haben wir sehr viel mehr Platz als im Pfarrhaus", fügte
Rosemary hinzu.
Natürlich stimmte das Brautpaar dieser Verfügung gern zu und nachdem in der Küche von Susan, Rilla und Nan der riesige Abwaschberg bewältigt worden war, brach man zu einem gemeinsamen Spaziergang zum Bailey- Haus auf.
Voller Vorfreude schloss Faith die Tür zu ihrem neuen Heim auf, das sie bisher nur von außen gekannt hatte. Das Haus hatte einen neuen, zartgrünen Anstrich erhalten, die Fensterläden waren repariert und in einem dunkleren grün lackiert worden, zerbrochene Scheiben hatte man ersetzt. Auch die Räume waren alle vorerst in einem neutralen eierschalenfarbenen Ton gestrichen worden. Mr. Miners hatte im Untergeschoss einige kleine Räume durch Herausnehmen von Wänden in einen großen Speiseraum, einen kleinen Salon, ein Wohnzimmer und die Küche verwandelt. Während die Küche einen seperaten Zugang vom Flur aus hatte, konnte man die anderen Zimmer durch verbindende Türen an einem Stück durchlaufen.
„Anne und ich haben gedacht, wir stellen das Büffet im
Speisezimmer auf und hier im Wohnraum die Tafel", erklärte
Rosemary.
„Aber wäre das Speisezimmer, das etwas größer ist
nicht besser für die Tische geeignet", widersprach Jem.
Mit einem spitzbübischen Lächeln trat seine Mutter
daraufhin in Richtung des Salon, griff in einen kleine Mulde und zog
die Hälfte der Wand einfach zur Seite.
„Eine spanische Wand", sagte Faith ganz erstaunt.
„Mr. Miners hat sich in seinem Ideenreichtum selbst übertroffen",
musste Gilbert zugeben.
„Damit wäre hier genug Platz für die Festtafel, oder?"
bemerkte Anne und zwinkerte der Brautmutter zu.
„Und wenn es sehr heiß wird, können wir diese Türen
öffnen", sagte nun Rosemary und ging zu der Richtung Garten
führende Doppeltür.
Mr. Miners hatte aus einem großen Fenster diese geschaffen und
einen Platz gepflastert, der die Veranda ersetzte. Ein Tisch und zwei
Stühle aus Weidengeflecht luden bereits zum Verweilen in der
Sonne ein.
Man setzte nun den Rundgang fort. Die geräumige Küche
verfügte schon über Schränke und einen Herd. Eine
schmale Tür führte zur Speisekammer, von der man weiter in
einen kühlen Keller gelangte.
„In der Speisekammer steht schon ein Teil unseres
Hochzeitsgeschenkes", verkündete der Pfarrer. Da dort nicht
alle Platz hatten, führte er nur das Brautpaar hinein, um ihnen
den Eisschrank zu zeigen, den er und seine Frau über Katalog
bestellt hatten und der zwei Tage vorher erst geliefert worden war.
„Das ist auch ein schönes Geschenk", freute sich Faith, die
solchen Luxus nur aus dem Arzthaus kannte.
Im Obergeschoss besah man sich nun noch die als Schlafraum, Gäste-
und Kinderzimmer vorgesehenen Örtlichkeiten. Hier standen die
Möbel, die die Blythes aus Avonlea geholt hatten und die von
Einwohnern von Glen fürs Brautpaar gebracht worden waren.
Dann ließ man Jem und Faith taktvoll allein und kehrte nach
Ingleside zurück. Susan kochte Kaffee und Rilla deckte den Tisch
fürs Kaffeetrinken. Nan holte dazu als Tischschmuck ein paar
Blumen aus dem Garten.
Nachdem man sich an dem köstlichen Kuchen und Gebäck, die die Haushälterin mit Rilla gebacken hatte, gestärkt hatte, vertieften sich die Frauen in die Hochzeitsvorbereitungen. Jerry und Nan nutzten die Gelegenheit, um sich abzusetzen und einen zweisamen Spaziergang zu unternehmen. Carl und Walther unterhielten sich angeregt über die naturwissenschaftlichen Studien, die der Jüngere gerade betrieb und Rilla nahm ihr Stickzeug zur Hand. Una ging mit Bruce zum Ballspielen in den Garten. Gilbert und John sprachen derweilen über Politik und Wirtschaft, mit medizinischen Dingen konnte sich der Arzt mit dem Pfarrer nun einmal nicht unterhalten. Dabei gehörte die Medizin einfach zu Gilberts Lieblingsthemen und er freute sich schon darauf bald mit seinem Sohn fachsimpeln zu können.
Als Faith mit ihrem Verlobten auf Ingleside eintraf, wurde sie sofort in die Beratungen der Frauen einbezogen. Aber obwohl es ihre eigene Hochzeit war, interessierte sie das Drumherum recht wenig. Für sie war die Hauptsache, dass sie nun endlich ihren Jem zum Mann bekam. Dieser wurde gleich von seinem Vater für ein ernstes Gespräch unter Männern herbeizitiert.
„Ich hätte eine Bitte an dich, mein Sohn, und hoffe du
überlegst dir, angesichts des großzügigen Geschenkes,
deine Antwort wohlwollend", hub Gilbert an, der bei den letzten
Worten mit seinem Schmunzeln das Scherzhafte an diesen betonte.
„Ich bin ganz Ohr", antworte Jem lächelnd.
„Es wäre schön, wenn du mir deine zukünftige Gattin
nach eurer Hochzeit noch ein wenig zur Verfügung stellen
könntest. Beraubtest du mich so schnell um meine rechte Hand,
befürchte ich ein regelrechtes Chaos in meiner Praxis."
„Wenn sie es gern möchte, darf sie gern weiter bei dir
arbeiten. Ich möchte nur nach der Hochzeit für eine Woche
mit ihr nach Avonlea fahren, um ihr Green Gables zu zeigen, wo ich
bei Tante Marilla so viele schöne Tage verlebte."
„Das ist eine sehr gute Idee. Ihr könnt auch gern länger
fahren, der Urlaub steht Faith schließlich zu."
„Das geht leider nicht. Dr. Moore möchte mich so bald wie
möglich in der Klinik haben. Ich konnte ihm gerade so die eine
Woche abringen."
„Dann nehmt ihr euch eben später im Jahr für eine
ausgedehnte Reise Zeit", meinte Gilbert.
„Ich fürchte das wird nicht gehen. Ich muss mich nun erst
einmal richtig einarbeiten. Praxis und Theorie sind zwei ganz
verschiedene Paar Schuhe, habe ich bei meinen Praktika im Kingsport-
Hospital festgestellt."
„Wenn du möchtest, kannst du mich nächste Woche in der
Praxis und zu den Hausbesuchen begleiten."
„Da die Frauen sowieso mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt
sein werden, nehme ich dein Angebot sehr gern an, Vater."
Bald darauf verabschiedeten sich die Merediths und die Blythes aßen im Familienkreis zu Abend. Man unterhielt sich sehr angeregt und Susan genoss es die Mahlzeit nicht einsam in der Küche essen zu müssen. Allerdings hatte sie sich zum Mittagessen von allein ausgegrenzt. Die Merediths hätten keinen Anstoß daran genommen, wenn die Haushälterin, die schon mehr eine Familienangehörige war, mit ihnen gespeist hätte. Schließlich gehörte Susan seit 28 Jahren zum Haushalt des Arztpaares und versorgte den Haushalt trotz ihres reifen Alters noch zur vollsten Zufriedenheit ihrer „Arbeitgeber".
Am nächsten Tag, dem Sonntag, saß Faith bereits neben ihrem Verlobten in der Kirchenbank der Blythes und als der Pfarrer offiziell das Aufgebot der beiden bekannt gab, strahlten sie sich glücklich an. Vor der Hochzeit stand aber die Arbeit, die in der Folgewoche Ingleside und Pfarrhaus in Atem hielten. Susan, Rosemary und Anne standen in der Küche, um zu backen und zu braten, was in und auf den Herd ging. In der Speisekammer und dem Keller des Bailey- Hauses stapelten sich die unverderblichen Leckereien. Frisch geräucherte Schinken und Würste hingen neben geräuchertem Fisch. Auf dem Boden standen Fässer mit eingelegtem Hering und sauren Gurken. Auf den Regalen lagen dicht an dicht Aschkuchen und Kekse.
Una, Rilla und Nan arbeiteten im Garten des Bailey- Hauses. Dieser war sehr verwildert und die Mädchen hatte alle Hände voll zu tun. Sie mähten das Gras, das getrocknet ein gutes Heu für die Inglesider Pferde und stutzten die Hecke, die das Grundstück umgab. Aus einem riesigen Heckenrosenstrauch wurde ein kunstvolles Blumentor, unter dem die Vermählung der Hausbesitzer stattfinden sollte. Das Anlegen von Beeten überließ man Faith für die Zukunft. Nur einige blühende Senker aus den Gärten des Pfarrhauses und von Ingleside wurden zur Zierde eingepflanzt.
Aus sämtlichen Häusern von Bekannten wurden nicht benötigte Tische und Stühle herbei gebracht, um eine Tafel im Wohnzimmer zu errichten. Gleich nach Praxisende am Freitag brachte man die Stühle des Wartezimmers zum Bailey- Haus. Nachdem am Mittwoch starker Regen eingesetzt hatte, der unaufhörlich auf die Glener herab gegossen war, strahlte am Freitagnachmittag wieder die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Das verhieß auch schönes Wetter für den Hochzeitstag und so arrangierte man im Garten vorm Rosenspalier einige Stuhlreihen.
Am Freitag herrschte auch in der Küche des neuen Doktorhauses Hochbetrieb. Die Hochzeitstorte wurde gebacken, die dann bis zum nächsten Tag im Eisschrank frisch gehalten wurde. Desserts und Dressings für den Salat entstanden. Im Keller lagerten Obst und Gemüse, sowie viele Kisten Salat. Daneben fanden sich zahlreiche Fässer Bier, dutzende Wein- und Sektflaschen und einige Flaschen Cognac. Carter Flagg hatte am Morgen eine ganze Kutschenladung abgeliefert.
Im oberen Stockwerk richtete die Braut das Schlafzimmer für die Hochzeitsnacht her. Die Aussteuerkiste, aus der bereits die Tafeltücher aufgelegt waren, stand mit dem Kleid bereit. Die Bettwäsche, die Faith auf das neue Bettzeug des Himmelbettes zog, hatte sie selbst gesäumt und genäht. Am Fenster hing das erste paar Gardinen des ganzen Hauses. Im Schrank hingen die ersten Kleidungsstücke und ein großer Ankleidespiegel in einem antiken, vergoldeten Rahmen lud zum Posieren ein. Der Kosmetiktisch mit Schminkspiegel stammte aus ihrem Jugendzimmer im Pfarrhaus und war am Vortag herbei geschafft worden. Auf diesem lagen ihre Toilettenartikel, den sie wollte sich für die Hochzeit in ihrem neuen Schlafzimmer zurecht machen.
Am Abend saßen alle Blythes und Merediths sehr erschöpft im Garten des Bailey- Hauses. Im zukünftigen Wohnzimmer waren die Tische für die Hochzeitsgesellschaft gedeckt. Ein feines Rosenporzellan, das Rosemarys Geschenk für das Brautpaar war, kleidete das weiße Leinen. Die Wein- und Sektgläser aus hauchdünnem Material verdankten Jem und Faith einer Sammlung unter Glens Einwohnern, die gern Geld für die Hochzeit des Arztsohnes und der Pfarrerstochter gegeben hatten. Sie waren als Zaungäste für den nächsten Tag auch herzlich willkommen.
Man ging früh nach Hause, da eine kurze Nacht und ein aufregender Tag bevorstand. Rilla und ihre Eltern erwartete eine besondere Überraschung als sie Ingleside erreichten.
Auf der Veranda von Ingleside erwarteten drei Besucher die Rückkehr der Hausbewohner. Im Schaukelstuhl hatte es sich Kenneth Ford gemütlich gemacht, der sich angeregt mit Di unterhielt. Neben dem verloren geglaubten Zwilling saß ein dunkelhaariger, vereinzelt mit grauen Strähnen, recht gut aussehender Mann Anfang dreißig. Man sah seinem Gesicht, das eine blasse Narbe an der Stirn zierte, an, das er schon viel erlebt hatte, aber nichts desto trotz hatte es auch humorvolle Züge.
„Di" rief deren Mutter erstaunt und erfreut.
„Wo hast du nur gesteckt? Wir haben uns Sorgen gemacht", tadelte
Gilbert seine Lieblingstochter.
Diese blickte wirklich betroffen und auch ein wenig verlegen drein.
Der unbekannte Besucher erhob sich nun und sagte:
„Das ist alles meine Schuld. Ich habe ihre Tochter in letzter Zeit
etwas abgelenkt, sonst hätte sie sich schon längst bei
ihnen gemeldet."
„Wer sind sie überhaupt?" erkundigte sich der Arzt
ärgerlich, etwas aufgebracht über die Unhöflichkeit
seines Gastes, der sich noch nicht einmal vorgestellt hatte.
„Jack Wright", erklärte der Angesprochene mit knapper
Verbeugung, die Gilbert fast noch mehr in Rage brachte. Fand er diese
Geste doch eher frech als respektvoll, wie sie eigentlich gedacht
war. Seine Frau lenkte ihn indessen mit ihrem Ausruf „Diana Sohn"
ab.
„Das ich dich nicht gleich erkannt habe", sagte Anne und schloss
den Jüngsten ihrer Busenfreundin herzlich in die Arme.
„Du hast mich lange nicht gesehen, Tante Anne", antwortete er.
Jack kannte Di´s Mutter schon von Kindesbeinen an, Gilbert
hatte er eher weniger gesehen, da er in der Vergangenheit nicht so
oft in Avonlea gewesen war.
„Liebe Frau Doktor, wollen wir nicht erst einmal hineingehen",
ergriff Susan das Wort, die die Tür aufgeschlossen hatte. Den
Eingang versperrten allerdings Kenneth, den man ganz vergessen hatte,
und Rilla, die in inniger Umarmung bei einander standen.
„Wenn uns das junge Paar den Weg freigibt gern" sagte Gilbert,
schon wieder etwas ruhiger. Verlegen trennten sich die Verlobten, um
die herum die Welt für einige Minuten versunken war. Hand in
Hand gingen sie voraus ins Haus.
„Ich trage dir deine Tasche schon nach", rief Walther seinem zukünftigen Schwager nach, der immer noch nicht ganz in die Wirklichkeit zurück gekehrt war. Jack und Di folgten mit ihren Reisetaschen dem Arztehepaar, ganz zuletzt gingen Susan und Nan hinein, die sich mit schmunzelndem Blick ansahen. Die Haushälterin schloss die Tür wieder hinter sich ab und ging in die Küche um Getränke vorzubereiten. Ihrer Meinung nach wurden diese für die bevorstehende Aussprache mit Di benötigt.
Als erstes klärte Anne aber, wo die Angekommenen schlafen sollten. Da das Zimmer der Zwillinge inzwischen Wohnzimmer war, mussten die beiden sich Shirleys Bett teilen. Jack und Kenneth bekamen das Gästezimmer. Für Shirley, der am nächsten Morgen anreiste, stand dann für die Nacht Jems Bett zur Verfügung.
Um der zu erwartenden Aussprache zu entgehen, verschwanden Rilla und Kenneth nach einem Glas Limonade zu einem Spaziergang in den Garten. Walther und Jem zogen sich mit einer Karaffe Whisky auf die Veranda zurück um Junggesellenabschied zu feiern. Jems Studienkollegen würde ebenfalls erst mit dem Samstag- Frühzug eintreffen. Susan ging gleich schlafen und so blieben nur die Zwillinge mit ihren Eltern, sowie Jack Wright im Wohnzimmer zurück.
„Also, wo hast du gesteckt? Seit vierzehn Tagen warten wir auf dich
oder zumindest eine Nachricht von dir", begann Gilbert sehr ernst
das Gespräch.
Seine Tochter errötete, aus Verlegenheit oder Scham, konnte man
nicht sagen. Trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre fühlte sie
sich angesichts ihres verärgerten Vaters sehr kleinlaut.
„Wie ich bereits bemerkte, war das alles meine Schuld", mischte
sich Jack ein.
„Ich möchte bitte meine Tochter zu diesem Thema hören",
tadelte der Hausherr den Gast. „Wir waren auf Hochzeitsreise",
flüsterte die Befragte mit gesenktem Blick.
„WAS!" explodierte Anne. „Ich habe mich wohl verhört!"
Ihre Worte verrieten deutlich das Temperament, das noch immer in ihr
steckte.
„Diana und ich haben am 16. Juli in Summerside geheiratet und dann
sind wir an die Niagara- Fälle gefahren. Da sie gern bei der
Hochzeit ihres Bruders dabei sein wollte, kehrten wir heute von der
Reise zurück." erklärte Jack.
„Ich fasse es ja nicht", rief Anne und lief erregt auf und ab.
„Wir sind doch hier nicht bei Romeo und Julia, das meine Tochter
heimlich heiraten muss!"
„Wir mussten schnell und unproblematisch heiraten", antwortete
Di. „Ich bekomme ein Kind!"
Damit schockte sie nun beide Elternteile gleichermaßen und Nan
holte zur Beruhigung der Gemüter schnell zwei Gläser Cognac
für das erblasste Ehepaar.
„Wie lange kennt ihr euch?" fragte Anne mit tonloser Stimme.
„Wir haben uns zu Weihnachten kennen gelernt. Der alte Hausmeister der Summerside- Highschool brachte Jack zu unserer Weihnachtsfeier mit, da er ihn als seinen Nachfolger vorstellen wollte. Ab Januar sahen wir uns dann täglich, gingen miteinander aus." erzählte Di. „Und verliebten uns ineinander", ergänzte Jack und nahm bekräftigend die Hand seiner Frau. „Wer weiß sonst noch von diesen Ereignissen?" fragte Gilbert.
„Niemand, nicht einmal meine Mutter", antwortete der
Schwiegersohn, der sich von Di´s Familie keineswegs
einschüchtern ließ. Er hatte schließlich einen Krieg
überlebt, da ängstigte ihn ein verärgertes Elternpaar
nicht sehr.
„Und wie willst du deine Familie ernähren?" erkundigte sich
Anne, die von ihrer Busenfreundin ja wußte, dass es Jack in der
Vergangenheit von Ort zu Ort gezogen hatte. „Ich habe vorerst die
Festanstellung als Hausmeister an der Highschool, werde mir aber
einen Posten bei einem Bauunternehmen suchen, wo es mehr Geld gibt",
erläuterte Jack seine Zukunftspläne.
„Und ich werde noch ein Vierteljahr Rektorin bleiben bis man eine
Nachfolgerin gefunden hat. Außerdem können wir vielleicht
bei Rebecca Dew wohnen bleiben. Bei ihr könnten wir günstig
ein weiteres Zimmer dazu mieten." ergänzte Di mit neuem Mut.
„Haben wir dir Anlass gegeben zu denken du müsstest wegen so
einer Verfehlung heimlich heiraten?" fragte Gilbert, der schweigend
und nachdenklich zugehört hatte. „Glaubst du, wir hätten
dich nicht unterstützt, wenn eine Heirat eben unumgänglich
gewesen wäre? Wir hätten das auch hier schnell und
unkompliziert organisieren können! Nein, du hast uns nicht
vertraut, sondern heimlich wie eine Verbrecherin so einen wichtigen
Schritt gewagt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr du deine
Mutter und mich verletzt hast." Mit traurigem Blick ging er hinaus
und die Zurückbleibenden sahen ihm nach.
Di kullerte eine Träne über die Wange. „Das wollte ich
nicht", schluchzte sie. „Aber ich dachte euer Ansehen würde
geschont, wenn ich verheiratet zurückkomme, wo ich doch schon
schwanger bin. Den Termin hätte man dann für die
Öffentlichkeit leicht vorverlegen können." „Wir hätten
Glen trotzdem hoch erhobenen Hauptes entgegengeblickt", widersprach
Anne und wischte ihrer Tochter die Tränen ab.
„Lasst uns aber nun schlafen gehen", schlug die Hausherrin dann
vor. „Morgen müssen wir mit dem ersten Hahnenschrei aus den
Federn. Ich besänftige Vater schon und morgen ist ein neuer Tag,
frei von Fehlern, wie ich immer gern bemerke."
Di erhob sich und umarmte ihre Mutter dankbar.
„Dann, willkommen in der Familie, Jack", sagte Anne und reichte
ihrem Schwiegersohn die Hand.
„Es tut mir leid solche Scherereien verursacht zu haben",
antwortete er etwas zerknirscht.
„Di hätte es ja schlimmer treffen können", scherzte
seine Schwiegermutter, die nun auch durch familiäre Bande an
ihre Busenfreundin geknüpft war.
Man verließ gemeinsam das Wohnzimmer und auf dem Flur bemerkte Anne: „Da müssen wir natürlich die Verteilung der Schlafplätze nun etwas ändern. Nan, du schläfst mit bei Rilla im Bett, morgen holen wir dir die Klappliege vom Speicher. Und ihr nehmt das Gästezimmer, Mr. und Mrs. Wright."
Man sagte sich gute Nacht und Anne lief nach unten. Ihre beiden ältesten Söhne saßen noch immer auf der Veranda und hatten dem Whisky zur Genüge zugesprochen. Anne nahm ihnen die Flasche weg und schickte sie zu Bett. Dann wartete sie noch auf Rilla und Kenneth, die bald darauf im Mondschein anspaziert kamen. Sie teilte Kenneth mit, dass er in Shirleys Zimmer schlafen sollte und ging dann ins Arbeitszimmer, wo sie, ganz richtig, ihren Ehemann vermutete.
Der hatte sich auf seiner Behandlungsliege ausgestreckt, die Anne ihm als Geburtstags-geschenk gekauft hatte. Er starrte zur Decke und hielt noch immer das Glas in der Hand, welches Nan ihm eingeschenkt hatte. Anne zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Sie strich ihm sacht über die Wange, um seine Blicke auf sich zu lenken.
„Nimm es nicht so schwer. Sie hat es nur gut gemeint", beruhigte
sie ihn und wiederholte ihm Di´s Begründung für die
heimliche Hochzeit in der Fremde.
„Aber es wäre mir doch egal gewesen! Die Leute hätten
sich eine Weile die Mäuler zerrissen, aber dann hätten sie
es vergessen. Die Gelegenheit Di vor den Altar zu führen,
bekomme ich dagegen nie wieder", sagte Gilbert verbittert.
„Du hast aber noch bei zwei anderen Töchtern die Chance dazu.
Diana und Fred konnten die Hochzeit ihres Jüngsten auch nicht
miterleben! Und sie haben außer ihm nur noch Ann- Cordelia. Wir
haben noch vier Hochzeiten vor uns, wenn auch Walther sich irgendwann
dazu entschließt. Gräm dich also nicht und verzeihe den
beiden, damit wir morgen als glückliche Familie Jem heiraten
sehen können."
Anne´s Überredungskunst scheiterte natürlich auch
nicht an ihrem Mann und so glätteten sich seine in Zornsfalten
gelegten Gesichtszüge.
„Also gut" grummelte er besänftigt und stand auf. „Dann
lass uns jetzt schlafen gehen, damit wir für morgen ausgeruht
sind.
Der Samstagmorgen war so strahlend schön und heiß wie erwartet. Im Morgengrauen standen Anne und Susan auf um noch die letzten Vorbereitungen zu treffen. Am Frühstückstisch versöhnte sich Gilbert mit seiner Tochter und hieß seinen Schwiegersohn in der Familie Blythe willkommen. Der Hausherr fuhr nach der Mahlzeit zum Bahnhof, um Gertrude und ihren Mann abzuholen, die natürlich gern der Hochzeitseinladung gefolgt waren. Shirley traf, wie angekündigt, allein im Automobil ein und überbrachte herzliche Grüße von Ruth und deren Familie.
„Wie fühlt man sich so allein unter vier Frauen?" neckte Susan ihren braunen Jungen. Natürlich hatte sie ihn ausgiebig gemustert, um zu sehen, ob er unter der deutschen Hausmannskost auch nicht abgenommen hatte. Ihrem kritischen Blick fiel dabei nicht auf, dass er, im Gegenteil, ein wenig Fett am Bauch angesetzt hatte. Ansonsten bot er einen makellosen Anblick, da Ruth eine hervorragende Hausfrau war. Sie hatte ihrem Gatten für den feierlichen Anlass sogar eigenhändig einen grauen Anzug geschneidert und genäht.
Gegen Mittag zog die Familie Blythe festlich gekleidet gen Bailey- Haus. Nan und Susan waren schon voraus gegangen, um Rosemary und Una bei den Büffetvorbereitungen zu helfen. Gertrude und ihr Mann befanden sich unter ihnen. Sie würden mit dem Abendzug, mit dem auch das Brautpaar nach Charlottetown und von dort weiter nach Avonlea reiste, wieder nach Hause fahren. Im Garten des Bailey- Hauses trafen sie auf einige geladene Gäste, die schon eingetroffen waren. Darunter befanden sich Ellen und Norman Douglas, Schwester und Schwager von Rosemary, Miss Cornelia und ihr Mann Marshall, die Studienkollegen von Jem, die sich zur Hochzeit angekündigt hatten, und – Mary Vance und Miller Douglas.
Das Paar war am Vortag ebenso überraschend zurückgekehrt wie es abgereist war. Die beiden sahen sehr entspannt aus und Mary schüttelte der Arztgattin, sowie deren Jüngsten sehr freundlich die Hand. Dann ging Anne in die Küche um den grünen Salat zuzubereiten und Rilla folgte ihr, um einer spitzen Bemerkung von Mrs. Douglas, die diese vielleicht doch noch machen wollte, zu entgehen.
Im Obergeschoss stand Faith bereits in ihrem Brautkleid vor dem Ankleidespiegel. Una hatte ihr die Haare hochgesteckt und statt eines Schleiers weiße Satinbänder hineingeflochten, die sich nun in der Brise, die durchs geöffnete Fenster drang, leicht bewegten. Ein fast unsichtbarer Hauch Rouge überdeckte die vor Aufregung erbleichten Wangen der ältesten Pfarrerstochter, die sonst durch nichts zu erschüttern war. Ein verstohlener Blick auf ihren Bräutigam im Garten beruhigte ihre Nerven etwas.
Als um ein Uhr die Kirchenglocken weithin zu hören waren, hatte die Hochzeitsgesellschaft auf den Stühlen im Garten Platz genommen. Der Kirchenchor hatte sich aufgestellt, um in Ermangelung von Orgelmusik, zum Einzug der Braut und zum Abgang des frisch getrauten Paares zu singen. Da der Brautvater als Pfarrer das Paar traute und deswegen bereits im Spalier stehen musste, führte Jerry seine Schwester an den „Altar". Mit strahlendem Blick erwartete Jem seine Braut.
Es verschlug ihm den Atem, als sie in blendender Schönheit in dem weißen Kleid fast majestätisch auf ihn zuschritt. Ein Bukette aus lila Orchideen unterstrich ihre engelsgleiche Erscheinung. Die Blumen passten in ihrer Exotik ganz wunderbar zu ihrem Kleid, das Rosemary meisterhaft genäht und bestickt hatte. Endlich reichten sich die beiden die Hand und wanden sich John Meredith zu, der sich tief bewegt räuspern musste, bevor er seine Traurede beginnen konnte.
Wie im Flug zogen die Worte des Pfarrers an Jem und Faith vorbei, die sich immer wieder überglücklich ansahen und mit fester Stimme ihr Ja- Wort gaben. Der Kuss, den sie sich nach ihrer offiziellen Segnung als Eheleute gaben, war zärtlich und süß wie keiner zuvor. Liebevoll streifte ihr Jem den Ring, der ihren Bund besiegelte, über den Finger der linken Hand. Dann wendete sich das frisch getraute Paar den Gästen zu, die sie stürmisch bejubelten und Bruce ließ in diesem Moment zwei weiße Tauben fliegen, die, in einem Korb hinter einer Hecke versteckt, auf ihren großen Einsatz gewartet hatten.
Eine unendliche Reihe von Glückwünschen erreichte die Eheleute James Blythe in der folgenden halben Stunde. Nicht nur die geladenen Gäste, auch die Einwohner, die am Zaun der Trauung beigewohnt hatten, wollten gratulieren.
Eine weitere Überraschung fürs Brautpaar stellte der Fotograf dar, den Gilbert organisiert hatte. Dieser hatte vor kurzem ein Atelier in Lowbridge eröffnet und war froh über jeden Auftrag. Deshalb war er gern nach Glen gekommen, um das Brautpaar mit Eltern und Gästen abzulichten. Während dann noch ein paar Fotos vom Paar allein geschossen wurden, vollendete man im Haus das Büffet. Die Gläser füllten die Zwillinge mit Wein und Sekt. Als alles bereit war und der Fotograf seine Arbeit beendet hatte, gab Rosemary ihrem Schwiegersohn das Zeichen die Gäste herein zu bitten. Faith hatte Tischkarten geschrieben, so dass bald alle Geladenen an der Tafel Platz gefunden hatten. Der Brautvater und Gilbert sagten kurz ein paar Worte, wie das auf solchen Feiern üblich war, das eröffnete Jem das Büffet.
Beschwingt von einem Schluck Sekt sprach man den Köstlichkeiten zu. Es gab kalte und warme Speisen, die dekorativ mit Gemüse angerichtet waren. Ein Blumenbukette verströmte fast einen exquisiteren Duft wie der Toskanische Braten, den Rosemary nach einem neuen Rezept zubereitet hatte. Auch Susans Roastbeef wurde Scheibe um Scheibe kleiner. Die Köchinnen bekamen von allen Seiten Komplimente. Gilbert fühlte dagegen für die Herren frisch gezapftes Bier aus einem der herauf gebrachten Fässer. Die wenigen, jüngeren Gäste wie Bruce tranken frische Limonade. Auch Di und, erstaunlicherweise, Gertrude hielten sich, nach einem halben Glas Sekt zum Anstoßen, an das alkoholfreie Getränk.
Nach dem ersten Ansturm aufs Büffet verteilten die Pfarrersfrau und Anne noch die restlichen Köstlichkeiten, hauptsächlich Desserts, darauf und bedienten sich dann selbst. Trotz der hohen Temperaturen aßen alle reichlich und trotzdem blieb am Ende noch einiges übrig, da, wie so oft, viel zu viel eingeplant war. Nach der Mahlzeit stand die Bekämpfung der Abwaschberge an. Susan und Nan schrubbten an zwei Trögen Teller und Platten, Una spülte Gläser und Rilla, Di und Rosemary trockneten ab. Was nicht mehr benötigt wurde, kam in die Schränke. Für die Kaffeetafel gab es ein Rosenknospen- Service, passend zu den Tellern, die auf der Mittagstafel gestanden hatten. Aber zunächst durften die „Küchenfeen" verschnaufen, den Jem und Faith packten nun unter den Augen ihrer Gäste die Geschenke aus. Es waren zumeist kleine nützliche Dinge für den Haushalt. Viele der Geladenen hatten schon im Voraus zur Ausstattung des Hauses beigetragen.
Miss Cornelia saß als einzige etwas abseits und Anne ging zu
ihrer alten Freundin.
„Willst du dich oben etwas ausruhen? In einem der Zimmer steht eine
sehr bequeme Couch, auf der du dich ausstrecken kannst", bot sie
an. Sonst kein wehleidiger Mensch nahm diese den Vorschlag an. Das Fest
mit dem langen Sitzen hatte Mrs. Elliot sehr angestrengt und nachdem
man Marshall Bescheid gegeben hatte, führte Anne Miss Cornelia
nach oben. Sie machte es ihr so bequem wie möglich und
entschuldigte sich dann, nachdem sie den Auftrag bekommen hatte Mary
herauf zu schicken.
Anne fand diese im Garten. Im Schatten der Hecke stand Mary neben Rilla und mit unheilvollem Gefühl näherte sich Anne den beiden. Ihre Sorge war unbegründet. Mary hatte nämlich die Gelegenheit genutzt, als Rilla zum Abkühlen aus dem Haus gekommen war, und hatte sie um eine Unterredung gebeten.
„Du weißt ich bin nicht auf den Mund gefallen und deswegen
wirst du schwerlich verstehen, wie sehr ich jetzt nach Worten ringe",
begann Mrs. Douglas das Gespräch.
Rilla schaute auch sehr zweifelnd drein, hatte sie doch Mary´s
Beschuldigung und deren kühles Verhalten noch in allzu guter
Erinnerung.
„Ich möchte dich bei dir entschuldigen. Inzwischen ist mir
aufgegangen, wie dumm ich mich dir gegenüber verhalten habe. Ich
hoffe du akzeptierst meine Entschuldigung und verzeihst mir meine
Undankbarkeit. Miller hat mir die Augen darüber geöffnet,
was für ein Dummkopf ich war. Es geschah nur aus Schmerz über
den Verlust meiner Cornelia- Mary."
Wortlos ergriff das Blyth´sche Nesthäkchen die dargebotene
Hand. Nachgiebigkeit war eben eine ihr angeborene
Charaktereigenschaft.
„Lass uns Freundinnen sein", schlug Mary erleichtert vor.
In diesem Moment trat Anne hinzu. Da sie die friedliche Stimmung zwischen den beiden fühlte und den kurzen Händedruck gesehen hatte, war ihre Besorgnis gewichen.
„Auch bei ihnen, Mrs. Blythe, muss ich mich für mein Verhalten
entschuldigen", sagte Miss Cornelia´s Ziehtochter.
„Ich kann dich schon verstehen, aber ein wenig überreagiert
hast du", winkte die Angesprochene ab. „Wo wart ihr nu? Miss
Cornelia hätte deine Hilfe sehr gut gebrauchen können."
„Ich weiß. Aber Miller bestand darauf von jetzt auf gleich
fort zu gehen. Er meinte eine Ortsveränderung täte uns gut
und würde helfen über den Schmerz hinweg zu kommen."
„Es scheint euch gut bekommen zu sein", meinte die Arztgattin.
„Wir waren alle um euch besorgt."
„Wir haben auf dieser Reise wieder zueinander gefunden und die
Trauer verarbeitet. Darum hoffen wir bald auf ein neues Baby. Aber
erst einmal möchte ich mich um Miss Cornelia und ihr Haus
kümmern."
„Das ist löblich von dir. Sie verlangt jetzt übrigens
nach dir. Sie ruht im obersten Stock, zweite Tür auf der linken
Seite", fiel Anne da ein.
Mary verabschiedete sich und ging davon. Auf der Terrasse nahm nun ein kleines Ensemble Aufstellung. Eine Geiger, ein Akkordeon- spieler und ein Gitarrist sorgten für Musik und das Brautpaar eröffnete umringt von seinen Gästen den Tanz. Auch Kenneth näherte sich jetzt seiner Verlobten und Anne. Mit einer leichten Verbeugung bat er Rilla um den Tanz. Diese sah erst fragend ihre Mutter an und als diese kopfnickend die Zustimmung erteilte, eilte sie leichtfüßig gen Tanzfläche.
Ein lustiger Tanznachmittag schaffte bei den Anwesenden Platz für ein Stück Hochzeitstorte und anderes Gebäck. Natürlich gab es literweise Kaffee und Tee, ganz nach Geschmack, für die Damen einen kleinen Likör und die Herren probierten den Cognac, den der Pfarrer geordert hatte. Die Kosten der Hochzeit hatten so ziemlich seine gesamten Ersparnisse aufgebraucht, aber das Leuchten in Faiths Augen, die in Jems Armen über die Tanzfläche wirbelte, entschädigte ihn reichlich dafür.
Als es den Abendstunden zuging, hieß Faith die anwesenden unverheirateten Damen Aufstellung zu nehmen. Auch Di sollte in die Reihe dessen geschoben werden, erst da gab man ihre Verheiratung mit Jack, der als Freund der Familie vorgestellt worden war, bekannt. So fing also Una den Brautstrauß ihrer Schwester, und als Walther ihr daraufhin einen langen Blick zuwarf, errötete sie und flüchtete in die Küche.
„Da gerade ein Tag der Offenbarungen zu sein scheint, möchte
ich dir ein Geheimnis anvertrauen. Ich wollte es nur nicht eher
sagen, um Jem und Faith nicht die Schau zu stehlen", sagte Gertrude
leise zu Rilla, als sie am Treppenabsatz auf Faith, die sie
umkleidete, warteten. „Ich bekomme ein Baby."
„Wie schön für euch. Ich freue mich so", antwortete
Rilla und schloss die Freundin, die so spät noch ihr Glück
gefunden hatte, in die Arme.
„Nachdem du dich so liebevoll um den kleinen Jims gekümmert
hast, kann ich mir das Mutterdasein auch endlich vorstellen."
Rilla fühlte sich sehr geschmeichelt, dass sie eine solch
positive Wirkung ausgeübt hatte. Mehr konnten die beiden aber
nicht besprechen, denn nun kam Faith die Stufen herab und in einem
langen Zug gab man dem Brautpaar das Geleit zum Bahnhof. Dort stand
schon die Eisenbahn zur Abfahrt bereit und nun musste hastig Abschied
genommen werden.
„Komm mich doch im Herbst einmal besuchen", bat Gertrude noch aus
dem Abteilfenster und dann ruckte der Zug an und brachte sie gen
Heimat.
Nachdem der Zug ihren Blicken entschwunden war, verabschiedet sich die Gäste von den Eltern des Brautpaares und gingen nach Hause. Die Frauen von Ingleside und aus dem Pfarrhaus kehrten ins Bailey- Haus zurück, um Ordnung zu schaffen. Alle verderblichen Lebensmittel wurden verpackt und aufgeteilt. Das Geschirr vom Kaffeetrinken und alle Gläser mussten gespült werden. Kenneth, der Rilla begleitet hatte, trug die Stühle aus dem Garten herein und verschloss die Terrassentüren. Gilbert kam mit dem Automobil, Walther und Bruce mit den Kutschen, um die Frauen und deren „Gepäck" abzuholen.
Im Laufe der Woche würden die Tische und Stühle ihren Besitzern zurück gegeben werden, das Haus musste gewischt werden nach den vielen staubigen Füssen, die es durchmessen hatten. Und Anne wollte die Räume bewohnbar machen, in dem sie schon ein paar Möbel arrangierte. Sie schloss auch die Haustür ab, als man gemeinsam das ruhig daliegende Haus verließ. Erschöpft verabschiedeten sich die Blythes von den Merediths und fuhren nach Hause. Dort mussten die mitgebrachten Köstlichkeiten noch in der Speisekammer untergebracht werden.
„Liebe Frau Doktor, von dem Schinken essen wir noch wochenlang",
bemerkte Susan.
„Wir geben Shirley morgen einen mit und vielleicht auch noch einen
Kuchen und von den eingelegten Fischen und Gurken", schlug Anne
vor.
Dann ging sie nach oben, um die Schuhe aus zu ziehen. Nachdem sie den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war, schmerzten ihre Füße und befreit atmete sie auf, als sie ihre Zehen wackeln lassen konnte. Gilbert „erwischte" sie, als sie sich auf dem Bett ausstreckte um ein wenig aus zu ruhen. „Was für ein anstrengender Tag", meinte er und setzte sich ans Bettende. Er nahm Anne´s Füße und massierte sie zärtlich.
„Nach den ganzen Vorbereitungen und der heutigen Feier bin ich fast
froh, dass uns das für Di erspart geblieben ist."
Sein Gesichtsausdruck verriet, dass seine Meinung in diesem Fall
nicht mit ihrer überein stimmte, aber er äußerte dies
nicht laut. Statt dessen sagte er: „Morgen erholst du dich erst einmal von dem ganzen Stress. Susan
soll etwas einfaches kochen für das sie deine Hilfe nicht
benötigt und du legst dich nach dem Gottesdienst noch etwas hin.
Und für den Nachmittag verordne ich dir einige Stunden im
Schaukelstuhl auf der Veranda."
„Ich kann doch Susan nicht mit der ganzen Arbeit allein lassen",
protestierte seine Frau. „Sie hat schließlich genauso schwer
gearbeitet und ist mir an Jahren einiges voraus."
„Die Zwillinge können ihr doch helfen. Rilla soll sich auch
mal ausspannen und ein wenig Zeit für Kenneth haben. Da Miller
wieder da ist, wird Carter Flagg sie im Laden wohl nicht mehr
benötigen. Außerdem ist dies eine ärztliche
Anordnung", sagte er zum Schluss mit gespielter Strenge. Darüber
musste Anne nun kichern.
„Ich finde sowieso Susan hat sich einen Urlaub verdient. Es war für
sie in letzter Zeit sicher anstrengend, schließlich ist sie
nicht mehr die Jüngste!"
„Das sagst du ihr aber, Anne- Mädchen. Sie wird dir den Kopf
abreißen, wenn du ihr offen sagst sie braucht wegen ihres
fortgeschrittenen Alters Schonung" prophezeite Gilbert.
„Wir müssen das nur geschickt anstellen! Ein wenig Abwechslung
würde ihr auf alle Fälle gut tun. Ich werde mal Rebecca Dew
fragen, ob sie nicht Susan für ein paar Wochen aufnimmt",
überlegte sich Anne.
„Eine gute Idee, wenn du unsere Haushaltsperle davon überzeugen
kannst!"
Er stand auf, küsste seine Frau und ging hinaus. Sie folgte ihm,
in bequemeren Schuhen, kurze Zeit später.
Erinnerungen aus der Vergangenheit
Der August fing heiß und drückend an. Anne´s Pflanzen ließen die Köpfe hängen, da das Gießwasser aus den Regentonnen schon lange aufgebraucht war und der Grundspiegel des Brunnen sank, mussten diese sich mit wenigen Tropfen begnügen. Ebenso traurig wie nach dem verregneten Frühjahr blickte Anne auf ihren welken Pflanzen.
„Ich habe dieses Jahr
einfach kein Glück", klagte sie Gilbert, der eben aus dem Haus
gekommen war, um zur Hausbesuchsrunde zu fahren.
„Es kommen auch wieder
bessere Jahre", tröstete er, küsste sie zum Abschied und
ging zum Wagen. In eine Staubwolke gehüllt, brauste er davon.
Anne warf einen letzten Blick auf die rettungslos verlorenen Beete
und ging ins Haus. Sie musste noch Kuchen backen, da am nächsten
Tag die Mitgliederversammlung des Festsaalvereins anstand. Da Susan
in Jems neuen Heim Fenster putzte, hatte sie die Küche ganz für
sich. Auch die Zwillinge waren mit ihren Männern und Walther im
Bailey- Haus, um die Möbel nach Annes gegebenen Anweisungen
aufzustellen.
Kaum hatte sie sich in der Küche die Schürze umgebunden, klingelte es an der Haustür. Die Türglocke hörte man nicht oft in Ingleside, da die meisten Besucher so gute Bekannte waren, dass sie ohne diese Ankündigung herein kamen. Anne ging also öffnen und stand vor dem neuen Briefträger, der ihr, freundlich „Guten Tag"- wünschend, ein Einschreiben übergab. Verwundert musterte sie das braun eingewickelte Päckchen ohne Absender, das an sie adressiert war. Ungeduldig und neugierig riss sie das braune Einwickelpapier auf und ließ dieses sogleich im Papierstapel, der für das Anheizen des Kamins gedacht war, verschwinden.
Susan bestand nämlich darauf Packpapier sorgfältig zu öffnen und zu glätten, um es gegebenenfalls nochmals zu verwenden. So ganz konnte sie den Spartrieb, den man ihr aufdiktiert hatte, nicht mehr ablegen, wenn sie auch einst darauf geschimpft hatte. Anne hielt ein nagelneues Exemplar eines Buches in der Hand. Man konnte noch die frische Druckerfarbe riechen. Auf dem schlichten Einband stand der Titel „Erinnerungen an Avonlea", als Autor las sie: Paul Irving.
Das kann ja gar nicht wahr sein, dachte Anne und wie sie auf die Rückseite schaute, blickte ihr ein Foto ihres ehemaligen Schülers entgegen. Der war inzwischen ein gestandener Mann von Mitte Vierzig und war seinem Vater im Alter immer ähnlicher geworden. Als sie die erste Seite aufschlug, entdeckte sie eine Widmung: „Für meine geliebte und hochverehrte Lehrerin aus Avonlea, Mrs. Anne Blythe, die mich immer unterstützt hat". Eine Träne der Rührung lief ihr über die Wange.
Dann wischte sich Anne energisch übers Gesicht, legte das Buch auf die Kommode und ging entschlossen an die Arbeit. Das erste Kapitel des Buches lockte sie sehr, aber wie in ihrer Jugend nahm sie sich vor, dieses erst aufzuschlagen, wenn die Arbeit getan war. Es war zwar manchmal etwas mühsam nach Marilla´s Leitfaden: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen" zu leben, aber er hatte auch seine Berechtigung.
Die Gastgeberin der Festsaalvereinssitzung gelang es auch wirklich bis zum Schlafen gehen nicht in das Buch zu schauen. Sie hatte auch das Abendessen vorbereiten müssen, da Susan erst spät mit den jungen Leuten vom Bailey- Haus zurück gekommen war. Kaum im Bett, schlug Anne die erste Seite auf und vertiefte sich in Pauls Worte.
Als Gilbert ins Bett kam
und seine Frau in das Buch vertieft erblickte, musste er sie einfach
necken: „Na, hat der gute Paul auch etwas über dich
geschrieben."
Anne blickte mit einem
nahezu vernichtenden Blick auf und ihr strafender Blick hätte zu
ihrer Zeit als Lehrerin jeden Schüler kleinlaut werden lassen.
„So weit bin ich noch
nicht" antwortete sie und blickte dann wieder in den Erzählband.
Stumm legte sich Gilbert neben sie und nahm das medizinische Fachbuch
zur Hand, das zur Zeit seine Abendlektüre bildete. Erst als
beiden fast die Augen zufielen, wurde das Licht gelöscht.
Am nächsten
Nachmittag füllte sich rotz brütender Hitze das Inglesider
Wartezimmer mit den Mitgliedern des Festsaalvereins. Sie tranken
literweise der erfrischenden Limonade und aßen Kuchen dazu,
der, wie immer, ausgiebig gelobt wurde. Man war sich in Glen einig
darüber, dass die Arztfrau und ihre Haushälterin mit
Abstand die besten Bäckerinnen des Ortes waren.
Wie von Anne erhofft,
einigte man sich in den drei Stunden, die die Zusammenkunft dauerte,
auf einen Bauplan für den nun eiligst ein Kostenvoranschlag
eingeholt werden müsste. Man beschloss außerdem, das die
Komitees so bald wie möglich das Geld sammeln sollten. Anne
übernahm die Aufgabe zu Mr. Minners zu gehen und anschließend
allen Mitgliedern eine Kopie des Angebotes zukommen zu lassen. Erst
für den September wurde eine neue Versammlung vereinbart, was
der Initiatorin dagegen eigentlich zu spät war. Da viele
Mitglieder aber nun mit der Ernte beschäftigt sein würden,
bot sich keine Alternative.
Am Samstag kehrten die Flitterwöchner aus Avonlea zurück und wurden mit einem geputzten, eingerichteten und geschmückten Haus erwartet. Susan hatte für eine volle Speisekammer gesorgt und konnte das Ehepaar James Blythe die eigenen vier Wände gut ausgestattet beziehen. Am Sonntag führte der junge Arzt seine Frau sehr stolz und glücksstrahlend zum ersten Mal in die eigene Kirchenbank, für die John Meredith Sorge getragen hatte. Noch wirkte sie mit den zwei frisch Verheirateten recht leer, aber Faith und James dachten schon fleißig an Nachwuchs.
Anne saß am Montag
Nachmittag gerade bei einer Handarbeit auf der schattigen Veranda,
als sich auf der staubigen Strasse ein Besucher näherte. Er
musste angesichts der Reisetasche weit gereist sein und kam
zielstrebig auf Ingleside zu. Überrascht erhob sich die
Hausherrin und musterte den Ankommenden. Da er einen Hut trug, den er
tief ins Gesicht gezogen hatte, konnte sie ihn erst erkennen, als er
durchs Tor getreten war und grinsend die erste Stufe zum Haus
erglomm.
„Paul Irving", rief
Anne sehr erstaunt und sichtlich erfreut.
„Ja, liebe Lehrerin,
ich bin es wirklich und wahrhaftig!"
„Warum hast du mir
nicht geschrieben, dass du kommst?" fragte sie, während sie
ihm die Hand zum Willkommen reichte.
„Ich wusste noch nicht
sicher, ob ich es schaffe nach Ingleside zu kommen. Eigentlich hätte
ich heute eine Lesung in Charlottetown, aber die musste terminlich
verlegt werden und so beschloss ich herzukommen."
„Das freut mich sehr.
Da kann ich dich gleich persönlich für dein neues Werk
loben!"
Paul wurde ins Haus geleitet, wo er sich im Badezimmer von dem staubigen Weg reinigen konnte. Anne veranlasste, dass Kenneth zu Walther umzog, damit für Paul ein eigenes Zimmer zur Verfügung stand. Zum ersten Mal „verfluchte" sie nun, dass ein Gästezimmer weniger zur Verfügung stand, da seit der Hochzeit ständig die Schlafmöglichkeiten umorganisiert werden mussten. Nan begnügte sich zum Glück mit der Klappliege, die in Rillas Zimmer aufgebaut worden war. Sie hielt sich momentan sowieso meist im Pfarrhaus auf, da Jerry in der darauf folgenden Woche seine Stelle in Avonlea antreten würde.
Susan beschloss zu Ehren
des Gastes in Carter Flaggs Laden zu eilen um Eiscreme zu besorgen.
Rilla nahm ihr aber zuvorkommend diesen Weg in der Nachmittagssonne
ab, der im Eiltempo zurück gelegt werden musste. Auch Gilbert
war zur Kaffeetafel mit dem „berühmten" Schriftsteller
anwesend und man genoss das Zitronensorbet, das durch Eiswürfeln
gekühlt, herbeigebracht worden war.
Anne setzte sich dann mit
ihrem Gast auf die Veranda, um sich ausführlich mit ihm zu
unterhalten. Bisher hatten sie nur über das Buch geredet, aber
von nichts persönlichem gesprochen. Dabei interessierte sich
Anne gerade dafür, sagte man ihr doch nach die Ehe zwischen
Steve Irving und Miss Lavendar gestiftet zu haben. Paul ließ
sich nicht lange bitten und berichtete:
„Vater ist vor zwei
Jahren schwer krank geworden, er war ja nicht mehr der Jüngste.
Leider konnte der Arzt nicht mehr viel tun und so ist er gestorben.
Zum Glück musste er nicht lange leiden. Mutter Lavendar war
lange Zeit untröstlich, und ich natürlich auch. Charlotta
die Vierte hat uns schließlich resolut aus unserer Trauer
heraus gerissen. Sie hatte extra eine lang geplante Reise, die sie
mit ihrem Tom unternehmen wollte, verschoben, um zur Beerdigung zu
kommen."
„Wie geht es den
Charlotta und ihren Kindern?" erkundigte sich Anne, die sich sehr
gut an das sommersprossige Mädchen mit dem breiten Lachen
erinnern konnte. Sie hatte sie zuletzt zu ihrer eigenen Hochzeit
gesehen und seit dem nur wenig von ihr gehört.
„Tom und sie haben vier
Mädchen, die alle nach Charlottas Schwestern benannt worden
sind. Ihre jüngste Tochter führt traditionsgemäß
Mutter Lavendars Haushalt. Die zwei ältesten haben schon
geheiratet und Charlotta zur Großmutter gemacht. Sie ist also
recht zufrieden mit ihrem Leben, vor allem da ihr Mann unversehrt aus
dem Krieg heimkehrte."
„Warst du in Europa?"
fragte Anne.
Paul nickte stumm und ein
trauriger Zug trat in sein Gesicht.
„Nach dem Elend, das
ich dort gesehen habe, glaubte ich nie wieder schreiben zu können.
Meine Phantasie war eine zeitlang wie gestorben."
„Es war eine
schreckliche Zeit. Auch mir waren alle Träume und Vorstellungen
abhanden gekommen", stimmte sie zu und berichtete, was sie in den
schrecklichen Jahren erlebt hatte.
„Ich freue mich sehr
für sie, liebe Lehrerin, dass Walther zurück gekehrt ist.
Ich habe schon früher, als ich vor vielen Jahren das erste Mal
hier war, seine poetische Ader verspürt. Ich werde mich mal mit
ihm unterhalten müssen."
„Ich habe auch das
Gefühl er beschäftigt sich gerade mit einer
schriftstellerischen Angelegenheit. Man hört ihn andauernd auf
der Schreibmaschine klimpern und er scheint sehr interessiert an
meinen Jugenderinnerungen."
„Vielleicht schreibt er
an der perfekten Ergänzung zu meinem Buch, das sich so sehr mit
der besten Lehrerin, die Avonlea je hatte, befasst", vermutete
Paul.
„Du Schmeichler",
lachte Anne und ein sehr jugendhafter Zug, der ihre 54 Lebensjahre
Lüge strafte, erschien auf ihrem Gesicht.
„Ich bin damals sehr
ungern weggegangen, nachdem Miss Lavendar Vater geheiratet hatte.
Wenn sie an der Schule geblieben und nicht ans Redmond gegangen
wären, hätte ich es vielleicht vorgezogen bei Großmutter
Irving zu bleiben."
„Da wären dein Vater und Miss Lavendar aber sehr traurig
gewesen."
Eine Weile saßen die beiden schweigend beieinander, bevor sich
Paul nach Annes sonstigen Kindern und deren Lebensweg erkundigte. Die
Hausherrin konnte nun in einem minutenlangen Monolog von Hochzeiten,
Verlobungen, Geburten, Todesfällen und abgelegten Examen
berichten, die dem aufmerksamen Leser bereits bekannt sind und
deswegen an dieser Stelle ausgelassen werden.
Nachdem Anne ausführlich berichtet hatte und Paul nur hin und
wieder einen Kommentar angeben hatte, fragte sie: „Und wie sieht es
bei dir aus? Hast du inzwischen eine Familie gegründet?"
„Liebste Lehrerin, in meinem Alter noch die passende Frau zu finden
ist wie ein Regenbogen an einem sonnenlosen Regentag!"
„Möchtest du den gern eine Familie?" erkundigte sich Anne.
„Ja schon. Aber ich fürchte ich bin mit meinen 48 Jahren
langsam zu alt noch daran zu denken!"
„Für einen recht schaffenden Mann ist es nie zu spät",
widersprach seine bewunderte Mentorin.
Doch Paul winkte nur ab und wechselte das Thema. Eine zeitlang
kramten sie nun Erinnerungen aus den Tagen von Avonlea aus und so
vergingen die Stunden bis zum Abendessen. Als Susan dazu ins Haus
bat, meinte Paul noch: „Ich war lange nicht dort!"
„Auf Green Gables ist immer ein Platz für dich frei", bot
Anne sehr herzlich an und führte ihn ins Speisezimmer.
Paul blieb noch zwei Tage und reiste dann nach Charlottetown zu seiner Vorlesung. Er bekam Shirleys Adresse mit, wo er als Freund der Familie gern aufgenommen wurde. Am selben Tag fuhren Jack und Diana nach Avonlea, um nun auch seinen Eltern die heimliche Hochzeit zu gestehen und noch einige Tage dort zu verbringen. Dann mussten sie zurück nach Summerside, da Jack als Hausmeister am Schulgebäude einiges zu richten hatte, bevor das Schuljahr anfing. Diana hatte einen Brief ihrer Mutter an Rebecca Dew bei sich, in dem diese gebeten wurde ihre Freundin Susan einige Tage einzuladen.
Der August endete so heiß wie er begann und Gilbert bemerkte,
dass seine Praxishelferin von Tag zu Tag einen müderen Eindruck
machte. Eines Morgens fragte er sie also: „Geht es dir nicht gut, Faith?"
„Diese Hitze schafft mich. Dabei hatte ich sonst immer eine gute
Konstitution. Schon morgens ist mir übel und ich kann kaum etwas
frühstücken!"
„Was sagte den Jem dazu?"
„Den sehe ich doch kaum. Dr. Moore nimmt ihn in der Klinik hart
ran. Vor Mitternacht ist er fast nie Zuhause und morgens geht er mit
dem ersten Hahnenkrähen wieder fort."
„Nach der Sprechstunde untersuche ich dich", ordnete ihr
Schwiegervater an.
Wegen der Untersuchung kamen Faith und Gilbert leicht verspätet zum Mittagessen, das sie weiterhin im Doktorhaus einnahm. Kochen brauchte sie Zuhause nie, da Jem um diese Tageszeit nie da war. Sie strahlte glücklich und auch Gilberts Gesicht zeigte deutlich stolze Züge. Der Leser kann sich sicher denken, welche Nachricht Jem in dieser Nacht erhalten würde. Alle Blythes waren sehr erfreut, als sie vom bevorstehenden Nachwuchs in der jungen Arztfamilie hörten.
Gilbert war andererseits auch etwas bestürzt seine Helferin in absehbarer Zeit zu verlieren. Da Faith aber vorausgesehen hatte, da es früher oder später soweit kommen würde, hatte sie sich schon einen Ersatz überlegt und diesen bereits um seine Zustimmung gebeten. So konnte sie jetzt ihren Schwiegervater beruhigen:
„Keine Sorge, einige Monate bleibe ich dir erhalten und bis ich
ausfalle, habe ich Una eingearbeitet. Sie wird meine Arbeit
übernehmen und hat schon eingewilligt."
„Das ist ja prima", freute sich Gilbert.
Der Arzt konnte nicht ahnen, welche Überredungskunst es Faith gefordert hatte ihre jüngere Schwester dorthin zu bringen. Diese hatte zwar nach einer Beschäftigung gesucht, aber gerade im Arzthaus, wo sie jederzeit Walther begegnen konnte, mit dem sie sich noch immer nicht ausgesöhnt hatte! Die Ältere hatte nichts von Una´s Ablehnungsgründen geahnt und ihr ausdauernd versichert, das der Schwester diese Arbeit sicher läge, da sie glaube Una schrecke vor den Tätigkeiten in der Praxis zurück. Als nebenbei der Hinweis gefallen war, dass Walther in wenigen Tagen aufs College gehen würde, hatte sie sich schließlich umstimmen lassen.
Nach dem Essen lief Faith leichtfüßig nach Hause und der Arzt brach, ein wenig unwillig wegen der Temperaturen, zu seinen Hausbesuchen auf. Seine erste Patientin war heute Mary Vance Douglas, die sich seit kurzem ebenfalls in anderen Umständen befand. Die Reise mit Miller hatte offensichtlich Nachwirkungen. Anne versuchte in ihrem Garten zu retten, was noch irgend zu retten war, gab aber resigniert auf, da alles Grün den Kopf hängen ließ.
„Du solltest einen Hut tragen bei dieser Sonne, Mama", tadelte
Rilla, die durch den Seiteneingang aus der Küche gekommen war,
wo sie Susan beim Abwasch geholfen hatte. „Da hast du
Recht, vor allem werde ich wieder Sommersprossen bekommen und dein
Vater mich damit dann wieder tagelang aufziehen" stimmte sie zu und
erhob sich.
„Es bringt sowieso nichts mehr hier noch Unkraut zu ziehen",
fügte Anne hinzu und wischte sich den Schweiß von der
Stirn. Dann wankte sie leicht und Rilla griff geistesgegenwärtig
zu, um ihre Mutter zu stützen.
„Mir war nur einen Augenblick schwindlig", beruhigte die
Hausherrin ihre Tochter.
„Setz dich auf die Veranda, ich bringe dir eine Erfrischung",
befahl Rilla und die Mutter folgte ausnahmsweise einmal ihrem Kind
und nicht umgekehrt, wie es sonst war.
Bald darauf trat das Blyth´sche Nesthäkchen mit einem
Tablett aus dem Haus, auf dem ein Krug gekühlter Eistee und
Gläser standen. Sie schenkte ihrer Mutter und sich ein und ließ
sich dann neben dieser auf dem Rattansofa
nieder.
„Hättest du bald einmal Zeit mit mir nach Charlottetown zu
fahren, um den Stoff für mein Kleid auszusuchen?" erkundigte
sich Marilla.
„Natürlich, mein Schatz. Jederzeit! Hast du schon mit der
Schneiderin gesprochen?"
Anne war mit den Hochzeitsvorbereitungen für Jem und dem
Festsaalverein so beschäftigt gewesen, dass sie sich nicht
weiter um das Brautkleid der Jüngsten gekümmert hatte.
„Ich habe Fanny Snyder engagiert und sie hat mir versichert das
Kleid ganz nach meinen Vorstellungen anfertigen zu können.
Nachdem sie das Schnittmuster bekommen hatte, errechnete sie, was sie
brauchte und gab mir eine Einkaufsliste. Mit dem Geld, das ich in
Carter Flaggs Laden verdient habe, werde ich hoffentlich alles
bekommen."
„So sparsam, wie du in den letzten Monaten warst, ganz sicher. Lass
uns fahren, bevor Walther aufs College geht. Am besten gleich nächste
Woche, dann können wir noch bei Shirley übernachten und
müssen nicht an einem Tag hin- und zurückfahren", schlug
Anne vor.
„Das ist eine gute Idee. Susan schafft den Haushalt jetzt auch
wieder allein, wo nur noch Walther da ist und der ist genauso
anspruchslos wie Vater", stimmte Rilla begeistert und voller
Vorfreude zu.
Schweigend genossen die beiden noch einige Zeit den Schatten und tranken Eistee. Jede hing ihren Gedanken nach. Rilla dachte an ihre Hochzeit, Anne an Pauls Buch, dessen letzten Kapitel er seiner Schulzeit gewidmet hatte und in denen er ausführlich von seiner Lehrerin schwärmte. Sie rundeten seine Erzählungen über die lustigen und traurigen Begebenheiten in Avonlea und seine persönlichen Erlebnisse sehr gelungen ab. Das Buch war in einem humorvollen, leicht leserlichen Stil gehalten und sollte in den folgenden Monaten die Bestsellerliste erobern und sogar für mehrere Woche anführen.
Der Briefträger kam angeradelt und brachte den Frauen die Tageszeitung und Post. Sein Gesicht war aufgrund der anstrengenden Fahrradtour bei den herrschenden 35 Grad hochrot und Rilla schenkte ihm zur Abkühlung ein Glas Eistee ein.
„Vielen,..., vielen,... da... dank, Miss B... Blythe", stotterte er und wäre noch mehr errötet, wenn dies möglich gewesen wäre. Der junge Mann war neu in Glen und erst seit wenigen Wochen Postbote. Nichts desto trotz hatte ihn schon ein heimliche Liebe zu Rilla erfasst. Er wusste allerdings, das diese unerfüllt bleiben würde. Schließlich sprach man im ganzen Ort von der guten Partie, die die junge Frau mit dem Schriftstellersohn gemacht hatte.
Als Rilla ihm nun auch noch freundlich anlächelte, während sie das leere Glas entgegennahm, war es völlig um ih geschehen. Nur Anne bemerkte dies und lächelte insgeheim, als Joe Barnaby sich stammelnd verabschiedete. Sie hielt es ihrer Tochter zu gute, das diese nie aus Berechnung etwas tat, sondern ein wahrlich unbefangenes Wesen hatte. Nachdem sich Rilla wieder gesetzt hatte, sah Anne die Post durch.
Für Rilla war ein Brief für Kenneth dabei, der zweite innerhalb von drei Tagen. Vor Freude röteten sich Rillas Wangen und sie sprang auf, um diesen in aller Stille im Regenbogental zu lesen. Für Anne waren je ein großer und ein kleiner Brief gekommen. Da sie die Schrift auf letzterem sofort erkannte, öffnete sie diesen als erstes.
Phillippa Gordon, geborene Blake, ihre Studienfreundin aus Redmond- Tagen hatte wieder einmal geschrieben. Diese war nach wie vor sehr glücklich mit ihrem Jonas verheiratet und lebte seit dem Tod ihrer Eltern in ihrem Elternhaus, das sie, nebst einer Menge Geld geerbt hatte. Ihr Mann hatte sich ihr zuliebe um das Pfarramt in Bolingbroke beworben und versah dort seit Jahren dieses zur großen Zufriedenheit seiner Gemeindemitglieder.
Liebste Anne,
verzeih deiner nachlässigen Phil die lange Zeit, die du auf
Antwort warten musstest. Wie immer habe ich die gleiche Ausrede: eine
Pfarrersfrau hat so viele Pflichten.
Zum Glück habe ich Jonas damals geheiratet, sonst könnte
ich meine Schreibfaulheit nicht damit entschuldigen. Es war auch
wirklich viel zu erledigen in den letzten Wochen und Monaten.
Wie ich dir ankündigte, benötigte unser Haus eine
Totalrenovierung, die ich natürlich überwachen musste.
Jonas hatte dafür einfach keine Zeit, da er momentan auch die
Pfarrei im Nachbarort übernommen hat und deshalb ständig
unterwegs ist.
Dann musste ich einen Basar organisieren, von dessen Einnahmen wir
einen neuen Kirchturm mit Glocke errichten lassen wollen. Das Geläut
von Bolingbroke ist der Gespött des Umkreises geworden, da die
alte Glocke gesprungen ist und nun abscheulich klingt. Auch steht zu
befürchten der alte Turm trägt eine neue nicht, da diese
heute viel massiver und deshalb schwerer sind. Du siehst, auf meine
alten Tage muss ich meinen Kopf mit komplizierten Dingen quälen!
Unser Ältester, Phillip Gordon, hat ja vor nahezu einem Jahr
geheiratet und wohnt mit seiner Frau Josie im eigentlichen Pfarrhaus.
Dort war ich in den letzten Wochen auch täglich, um meiner
Schwiegertochter den Haushalt zu führen. Sie muss zur Zeit das
Bett hüten, da der Arzt sonst um das Leben ihres Babys fürchtet.
Für mich war es da selbstverständlich zu helfen,
schließlich geht es um mein erstes Enkelkind!
Gestern kam nun meine Enkeltochter Eve zur Welt. Ist das nicht ein
treffender Name für die Enkelin eines Pfarrers?
Damit komme ich zum Hauptanliegen meines Schreibens: am nächsten
Sonntag wird sie getauft und ich möchte dich, liebste Anne, mit
deinem Gilbert ganz herzlich dazu einladen. Ihr würdet mir eine
große Freude machen, wenn ihr zu diesem, für mich so
bedeutenden Anlass, kommen würdet. Ich weiß, ich habe
damals eure Einladung zu Anne- Maries Taufe abgelehnt, aber ihr wisst
auch, dass ich gekommen wäre, hätte es in meiner Macht
gelegen. Telegrafiert mir bitte also so bald wie möglich eure
Zusage. Ich bereite schon ein Gästezimmer für euch vor.
In inniger Freundschaft
Deine Philippa
Natürlich beschloss Anne sofort dieser Einladung zu folgen und am darauf folgenden Samstag in ihren Geburtsort zu fahren. Gilbert würde ihr diesen Wunsch keinesfalls abschlagen und Jem könnte in dringenden Notfällen für seinen Vater am Wochenende auch einen Hausbesuch machen.
Der große Brief, in ihr unbekannter Handschrift, wurde nun geöffnet und ein Blatt Papier, ein Stapel Briefe und zwei Fotografien kamen zum Vorschein. Als erstes nahm Anne den Briefbogen zur Hand, auf dem, in der gleichen Schrift wie auf dem Kuvert, eine kurze Notiz stand:
Sehr geehrte Mrs. Blythe,
meine geliebte Frau Stella bat mich die beiliegenden Briefe und
Bilder an sie zu senden und ihnen mitzuteilen, dass sie in den
letzten Tagen viel an sie gedacht hat. Leider fehlte ihr die Kraft
ihnen einige letzte Zeilen zu schreiben. Sie trug mir auf ihnen
auszurichten, dass sie ihr immer eine liebe Freundin gewesen sind,
auch wenn der Kontakt nach Redmond nur noch aus Briefen bestand.
Mein Stern verließ am 20. August für immer diese Welt.
Der Allmächtige hat sie von ihrem Leiden erlöst.
Mit ergebenen Grüßen
Maxwell Sheffield
Stella ist tod, dachte Anne traurig, als sie zu Ende gelesen hatte. Ich habe lange nicht an sie gedacht, schämte sie sich und nahm die Briefe zur Hand, die mit dem Schreiben gekommen waren. Anne erkannte sie sofort: es waren die wenigen Seiten, die sie in den vielen Jahren an ihre Freundin geschrieben hatte. Die zwei Bilder zeigten Stella Sheffield, geborene Maynard. Das erste war ein Porträtaufnahme der Verstorbenen, das sie im reifen Alter von 45 Jahren zeigte. Auf dem anderen Bild war sie dagegen um die zwanzig und umringt von ihren Studienfreundinnen Anne, Philippa und Priscilla. Die Mädchen waren von einem Kameraden mit seiner neuen Kamera abgelichtet worden kurz nachdem sie in Pattys Haus gezogen waren.
Eine Träne lief Anne über das Gesicht, als sie an ihre alte Freundin dachte, die nun unter der Erde ruhte und von der sie sich nun nicht mehr verabschieden konnte. Sie bedauerte diese Freundschaft so vernachlässigt zu haben und schwor sich diesen Fehler nicht noch einmal zu machen.
