Kapitel 27

Eine Woche später konnte William seine beiden Frauen nach hause holen. Natürlich war es für beide Elternteile eine große Umstellung, nun einen Säugling im Haus zu haben. Sehr zu Liz' Frustration hatte William einen ungewöhnlich tiefen Schlaf, den noch nicht einmal das Schreien der Kleinen zu stören vermochte. Während sie Vicky regelmäßig nachts fütterte und beruhigte, schlief William den Schlaf des Gerechten und bekam selten etwas davon mit. Er hatte ein etwas schlechtes Gewissen deswegen und erbot sich daher oft, tagsüber alleine auf das Kind aufzupassen, so daß Liz genügend Zeit fand, auch einmal Dinge für sich zu erledigen und nicht 24 Stunden am Tag an das Haus gefesselt war. Dafür war sie äußerst dankbar, denn so sehr sie ihre Tochter auch liebte, so sehr vermißte sie Gespräche, die sich nicht ständig und ausschließlich um Kinder drehten.

Liz war mit der Situation also recht zufrieden. Sie war auch sehr dankbar. Es war nicht unbedingt selbstverständlich, daß sie diese Freiheiten hatte. Welcher Frau ging es schon so gut wie ihr, fragte sie sich oft. Sie mußte sich nicht um den Haushalt kümmern. Sie mußte nicht einkaufen, nicht kochen, nicht putzen. Sie hatten einen Ehemann, der sie liebte, der von zuhause aus arbeiten konnte, wenn er wollte, der freiwillig auf das Kind aufpaßte. Und doch hatten sie genügend Zeit, sich beide um Vicky zu kümmern. Es war einfach wundervoll so, wie es war. Ja, sie war sehr dankbar dafür. Dabei war es keineswegs so, daß Liz ihre Tochter vernachlässigte, nicht im geringsten. Sie verbrachte viel Zeit mit ihr, und auch William hatte nichts dagegen, seinen Vaterpflichten in großem Umfang nachzukommen. Allerdings hatte er den Vorteil, daß Mrs. Sherwood die Kleine von Anfang an vergötterte und sie ihm oft abnahm, damit er in Ruhe arbeiten konnte. Aber es kam häufig vor, daß Liz, die sich nun auch wieder verstärkt um die Arbeit am Chor kümmerte, von Arbeitstreffen nachhause kam und William im Kinderzimmer antraf – er einen geschäftlichen Bericht lesend, Vicky in der Wiege schlafend, während William sie abwesend sanft schaukelte. Manchmal saß er auch in seinem Arbeitszimmer, seine Tochter auf dem Schoß, und las Dokumente. Das war allerdings oft eine mühsame Angelegenheit, da Vicky gerne wahlweise nach den weißen Seiten beziehungsweise der Lesebrille ihre Vaters grapschte und ihren Dad nicht ungestört arbeiten ließ. William begann dann einfach, ihr seine Berichte laut vorzulesen und der gewünschte Effekt trat meistens schnell ein: Victoria Anne fiel in tiefen Schlummer.

Vicky entpuppte sich als relativ ruhiges Kind. Nachts holte sie ihre Mutter zwar mehrfach aus dem Bett, aber tagsüber schlief sie viel und machte ihren Eltern kaum Kummer. Liz beschwerte sich immer – natürlich nicht ernst gemeint – daß sie bei ihrem Daddy so schön brav wäre und sie hingegen nachts nicht schlafen ließ. Das stimmte natürlich nicht, auch wenn Liz mit ihr unterwegs war, war Vicky ein recht liebes Kind.

Und auch Anne Darcy wollte ihre erste Enkeltochter möglichst oft sehen. Wenn Liz unterwegs war, fuhr William oft mit der Kleinen nach West Vanc und traf sich hinterher dort mit Liz. Anne war ganz vernarrt in Vicky. Sie bot oft an, daß sie auf sie aufpassen würde und William und Liz ruhig einmal für ein langes Wochenende wegfahren sollten oder sonst ein bißchen freie Zeit genießen wollten, aber noch waren beide selbst so entzückt von ihrer Tochter, daß sie das großzügige Angebot bisher nicht angenommen hatten.

Das Liebesleben der beiden litt allerdings ein wenig, was vor allem William etwas frustrierte. Liz hatte zunächst einmal ein riesiges Nachholbedürfnis an Ausgehen, Einkaufen… tausend andere Dinge tun. Monatelang hatte sie im Bett liegen müssen, jetzt war es endlich wieder an der Zeit, ihren Interessen nachzugehen, wenn sie sich nicht gerade um ihre Tochter kümmerte. Die Arbeit mit Georgie und dem Krüppelchor, die Aushilfen am Goetheinstitut nahmen viel von ihrer Zeit in Anspruch – Vicky und natürlich auch William wollten nicht vernachlässigt werden, ganz abgesehen von verschiedenen gesellschaftlichen Verpflichtungen, denen sie gemeinsam mit William nachzukommen hatte. Abends war sie häufig entsprechend müde und erschöpft, was wiederum William nicht sonderlich gefiel. Dazu kam, daß ihr Interesse an Sex nach der Geburt sowieso ein bißchen abgenommen hatte, was vielen frischgebackenen Müttern so ging. William jedoch vermißte am meisten ihre gemeinsamen Morgenstunden. Er wachte oft alleine in ihrem großen Bett auf und fand Liz dann bereits im Kinderzimmer, schon mit Victoria beschäftigt. Natürlich hatte das Kind Vorrang, das war ihm schon klar. Sie mußte gewickelt, gefüttert, gebadet werden und das machte Liz meistens selbst. Sie war natürlich auf ihre Mutter angewiesen und kam an erster Stelle. Aber er wollte auch nicht vernachlässigt werden, er hatte auch seine Bedürfnisse. Er liebte Liz. Und er genoß es nun einmal immer noch sehr, mit seiner Frau morgens aufzuwachen und sie anschließend ausgiebig und leidenschaftlich zu lieben. Liz lehnte ihn ja auch nicht rigoros ab, aber die Gelegenheiten waren nun nicht mehr so häufig wie vor Vickys Geburt.

Überhaupt war es schwer, Liz ins Bett zu locken für andere Aktivitäten außer schlafen. Machten sie es sich abends auf der Couch mit einer DVD gemütlich, konnte er fast sicher sein, daß Liz nach spätestens einer Viertelstunde in seinen Armen einschlief. Trug er sie danach seufzend ins Bett, wachte sie kaum auf. Waren sie endlich einmal so weit, daß es richtig zur Sache ging, kam hundertprozentig etwas dazwischen. Ein Anruf, die Türklingel, Victorias leises, aber durchdringendes Weinen. Nein, das Liebesleben der Darcys war im Augenblick nicht gerade zufriedenstellend zu nennen. Oh ja, William war frustriert. Sehr sogar. Und er wußte nicht so recht, was er machen sollte.

Im Mai, Victoria war drei Monate alt, begannen die Anrufe. William hatte Laura Bailey völlig vergessen und da sie sich nicht mehr gemeldet und auch ihre Drohung, Liz zu besuchen, nicht wahrgemacht hatte, hatte er nicht mehr an die Sache gedacht. Sein schlechtes Gewissen Liz gegenüber hatte sich jedoch nicht geändert.

An einem schönen Frühlingstag Ende Mai, Liz hatte sich zögernd bereiterklärt, einen ganzen Arbeitstag im Goetheinstitut auszuhelfen, war William mit seiner Tochter nach West Vanc rausgefahren und Liz hatte versprochen, später zu ihnen stoßen. Anne war wie immer entzückt, ihre Enkelin zu sehen und wollte sie gar nicht mehr hergeben.

Großmutter, Sohn und Enkeltochter saßen auf der Terrasse und tranken Kaffee in der angenehm wärmenden Frühlingssonne. Das heißt, Vicky hatte natürlich ihr Fläschchen dabei, schlief aber die meiste Zeit in den Armen ihrer Großmutter. Anne konnte sich gar nicht an ihr sattsehen.

„Sie ist so ein süßes Kind, William," sagte Anne zu ihrem Sohn und blickte liebevoll von Vicky zu William. „Immer am lächeln, immer freundlich. Das habt ihr wirklich außerordentlich gut hingekriegt, du und Liz."

William nickte stolz. „Ich hoffe und glaube, sie hat den Löwenanteil von ihrer Mutter geerbt."

Anne lächelte. „Wie ist sie nachts? Müßt ihr häufig aufstehen?"

William blickte verlegen unter sich. „Nun ja… ich höre sie nachts eigentlich kaum. Liz steht immer auf und sieht nach ihr. Ich fürchte, mein Schlaf ist doch ziemlich tief und ich bekomme nicht viel davon mit."

Anne schüttelte den Kopf. Sie wußte, ihren Sohn konnte man im größten Gewitter mitsamt Kanonenschlägen nachts wegtragen und er würde nichts merken. „Arme Liz. Bleibt wohl alles an ihr hängen, was?" William wies diesen halb ernstgemeinte Vorwurf entschieden von sich. „Das stimmt nicht, Ma. Wie du siehst, ist Liz heute nicht hier und ich passe auf Vicky auf. Und das nicht nur heute."

„Es wäre ja auch noch schöner, wenn sie sich um alles kümmern müßte. Gönne deiner Frau ein bißchen Freizeit, William, sie hat in den letzten Monaten genug mitgemacht."

William schmollte ein bißchen und fühlte sich sehr unverstanden. Er tat doch alles, damit Liz Zeit für sich selbst hatte! Und er tat es gerne. Auf Victoria aufzupassen, war eine angenehme und nicht allzu stressige Aufgabe.

„Ich bin kein Rabenvater," verteidigte er sich, was Anne zum Grinsen brachte.

„Natürlich nicht, Sohn. Liz kann sich glücklich schätzen, dich zu haben."

In diesem Moment wurde Vicky wach und sah ihre Großmutter mit großen Augen an. Anne küßte sie auf ihre kleinen Finger, die nach ihr griffen. „Die großen dunklen Augen hat sie jedenfalls von ihrem Daddy," sagte sie. Vicky giggelte entzückt, als Anne sie unterm Kinn kitzelte.

„Aber die Bereitschaft, sofort und über alles mögliche zu lachen, hat sie von Liz," sagte William und sah seine kleine Tochter hingerissen an. Anne lachte. „Ihr wird es später mit Leichtigkeit gelingen, dich um den kleinen Finger zu wickeln," sagte sie. „Genau wie Liz." William wies diese Behauptung empört von sich. „Ich werde ein außerordentlich strenger Vater sein," gab er entschieden zurück, aber Anne grinste nur.

„Natürlich, Sohn. Sie hat dich doch jetzt schon vollkommen im Griff, die Süße. Aber nicht nur dich, denke ich."

William lächelte. „Sie ist aber auch ein Sonnenschein." Er kniff ihr sanft in den großen Zeh und wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt. Sein Herz quoll über vor lauter Liebe, als er in dunkle, schokoladenbraune Augen sah, die seinen eigenen so sehr ähnelten. Nie hätte er gedacht, daß dieses kleine Wesen sein Leben so positiv beeinflussen, so verändern würde. Natürlich, er hing sehr an seinen Eltern und seiner Schwester, aber seine „eigene" Familie, Liz und Victoria, hatte einen ganz anderen, neuen Stellenwert für ihn. Er liebte seine beiden Frauen abgöttisch, würde alles für sie tun, wollte sie vor allem Unheil beschützen. Vicky streckte ihm ihre kleinen Ärmchen entgegen, wurde ein bißchen unruhig und Anne reichte ihm die Kleine.

„Na meine Süße, willst du zu deinem Daddy? So jung und schon eine Vorliebe für attraktive Männer!"

William lachte, nahm seine Tochter in die Arme und knuddelte sie sanft. Vicky quiekte entzückt und Anne lächelte mit Tränen in den Augen. Die beiden gaben so ein hinreißendes Bild ab. Sie hätte nie gedacht, daß ihr wilder Sohn sich jemals zu einem liebevollen Familienvater entwickeln würde, aber so war es tatsächlich gekommen. Liz hatte einen gehörigen Anteil daran, das wußte sie. Sie hatte aus ihrem William einen völlig neuen Menschen gemacht.

Aber Anne fiel auf, daß William auf einmal nachdenklich geworden war. Irgend etwas störte oder belastete ihn. Sie drängte ihn nicht. Wenn er Kummer hatte und darüber reden wollte, würde er sie von sich aus ansprechen. Anne Darcy kannte ihren Jungen. Es dauerte nicht lange, und er räusperte sich.

„Ma?" begann er zögernd. Anne schaute auf.

„Darf ich dich etwas…nun ja…etwas eher intimes fragen?"

Seine Mutter sah ihn überrascht an.

„Nun ja, du kannst mich alles fragen, William. Ob ich deine Frage allerdings beantworten kann…"

William war leicht errötet. Das Thema war ihm unangenehm, aber seine Mutter war eine moderne, intelligente und vor allem verständige Frau. Sie würde sich auch nicht über ihn lustig machen oder etwas weitererzählen. Vielleicht hatte sie eine Lösung für sein Dilemma.

William erklärte seiner Mutter etwas unbehaglich und verlegen sein Problem, daß Liz' Interesse an körperlicher Liebe im Augenblick gegen Null tendierte und ihm das zu schaffen machte. Anne verkniff sich ein leichtes Grinsen und beruhigte ihn, daß das zunächst einmal normal sei, in den ersten Monaten nach einer Geburt. Das hieße ja nicht automatisch, daß sie ihn nicht mehr liebte.

„Ja, ich weiß. Aber auch wenn wir die Zeit und die Muße hätten… wir werden praktisch immer gestört." William seufzte. „Ich habe schon ernsthaft überlegt, ob ich ein Kindermädchen einstellen soll."

Anne zog skeptisch die Brauen hoch. „Wofür? Liz ist doch in der glücklichen Lage, sich nur um das kümmern zu müssen, was sie möchte. Sie muß keinen Haushalt führen, kochen, bügeln, putzen und so weiter. Sie kann sich prima um Vicky kümmern, außerdem teilt ihr euch diese Arbeit. Woher kommt es dann, daß sie immer so müde ist? Oder ist das nur dann der Fall, wenn es um dich und deine Bedürfnisse geht?"

William schaute seine Mutter nachdenklich an. Das hatte er noch gar nicht von diesem Standpunkt aus gesehen. Schob sie ihre Müdigkeit immer nur dann vor, wenn er mit ihr schlafen wollte? Nein, das glaubte er nicht. Langsam schüttelte er den Kopf.

„Sie kann Anrufe oder Vickys Geschrei schlecht steuern, oder? Es ist ja auch nicht so, daß sie mich generell ablehnt." Er seufzte. „Aber Ma, ich vermisse die Zeiten, in denen wir gemeinsam aufgewacht sind und…" er wurde rot bei der Erinnerung, „na ja, du weißt schon."

Vicky war mittlerweile wieder eingeschlafen und William zupfte geistesabwesend ihre Mütze zurecht. „Das ist alles recht frustrierend auf Dauer."

Anne griff nach seiner Hand und drückte sie ermutigend. „Ich kann dich verstehen, ich kann aber auch Liz' momentanen Gefühlszustand gut nachvollziehen. Für sie ist Sex im Moment absolute Nebensache. Nichts ist so wichtig wie Victoria. Hon, kannst du ihr ein bißchen Zeit geben? Sie wird auch wieder… hmm … williger."

William lächelte seine Mutter an. Sie hatten schon immer über alles offen reden können, egal wie intim das Thema war. Anne war ihm in seiner Teenagerzeit und – selten genug bei einem Jungen – in der Pubertät eine weise Beraterin gewesen. Er hatte ihr anvertraut, wenn er Liebeskummer hatte und sie hatte ihn getröstet und Mut gemacht. Das Verhältnis Williams zu seiner Ma war sehr, sehr eng.

Bevor er das Thema weiter verfolgen konnte, betrat Mrs. Reynolds die Terrasse, um den Kaffee nachzufüllen. Auch sie lächelte sofort, als sie Victoria sah und bemerkte, sie sei das genaue Ebenbild Williams. Anne stimmte ihr sofort zu, während William etwas enttäuscht feststellte, daß Mrs. Reynolds keinen Kuchen mitgebracht hatte.

„Ist denn noch etwas von der Zitronenrolle da?" fragte er hoffnungsvoll und die beiden Frauen sahen sich nur kopfschüttelnd an. In diesem Moment klingelte Williams Mobiltelefon und als er es herauszog, um den Anrufer festzustellen, hörte er nur noch wenig charmante Wortfetzen wie „verfressen", „Süßschnabel", „wird noch dick und rund" und „arme Liz". Er nahm mit gespielt pikierter Miene den Anruf an und wünschte sofort, er hätte es nicht getan.

„Hallo Darling, wie geht es dir?" flüsterte die weibliche Stimme verführerisch. William fluchte innerlich. Laura Bailey war wieder in sein Leben getreten.