Kapitel 32

Vancouver war zwar eine große Stadt, aber die Chance, daß man sich über den Weg lief, war natürlich schon gegeben. Liz vermied normalerweise die Gegend rund um den Robson Square, also praktisch die ganze Innenstadt. Sie erledigte ihre Einkäufe in ihrer näheren Umgebung und besuchte Einkaufszentren, die nicht im Dunstkreis der Darcys lagen. Als sie jedoch eines Tages den Entschluß faßte, Charlotte im Buchladen zu besuchen, bereute sie das in dem Moment, in dem ihr William über den Weg lief.

Sie sah ihn zuerst, aber an Weglaufen oder Umdrehen war nicht zu denken. Es wäre albern gewesen, schließlich waren sie Erwachsene, nicht wahr? Sie würde die Begegnung so kurz wie möglich halten. Zuerst hatte sie ihn gar nicht erkannt. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und trug einen Vollbart, den sie instinktiv verabscheute. Ihr William war immer glattrasiert gewesen, er hatte höchstens einmal einen 3-Tage Bart, der ihn verwegen aussehen ließ und sehr sexy. Aber sie bevorzugte ihn glatt und weich.

William sah sie überrascht und dann erfreut an, als er sie erkannte. Seine Augen weiteten sich, als er sah, daß sie schwanger war. Im ersten Moment bekam er furchtbare Angst, daß das Kind nicht von ihm sein würde und er überschlug hastig den Zeitraum. Doch, es war durchaus möglich, daß er der Vater war.

„Elizabeth," sagte er leise. Mehr brachte er nicht heraus, so überwältigt war er von ihrem Anblick.

„Hallo William." Liz war verlegen und ihre Wangen hatten sich gerötet.

William widerstand der Versuchung, sie hier und jetzt in die Arme zu nehmen. Und nie mehr loszulassen. „Wie geht es dir? Und Vicky?" Seine Tochter fehlte ihm so sehr, von Liz ganz zu schweigen.

„Gut, uns geht es gut. Dir?"

Diese Frage ist nicht dein Ernst, dachte er bedrückt. Er lächelte traurig und zuckte mit den Schultern. „Den Umständen entsprechend."

Sie schauten sich etwas unbehaglich an. Keiner hatte damit gerechnet, daß sie sich hier sehen würden und keiner wollte etwas falsches sagen. William blickte auf ihren umfangreichen Bauch. Er wußte nicht, wie er sie darauf ansprechen sollte, aber Liz ahnte sein Dilemma.

„Er kommt Mitte November zur Welt." Sie lächelte leicht und ihre Hand wanderte unbewußt zu ihrem Bauch.

„Er?" Sein Sohn?

„Ja, dein Sohn," bestätigte sie seinen unausgesprochenen Gedanken. „Es wird ein Junge, sagt die Ärztin." William fand keine Worte, es war einfach zu viel für ihn. Erst Liz sehen, dann zu erfahren, daß er Vater wurde, Vater eines Sohnes, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er hätte heulen können vor Frust und gleichzeitig vor Glück. Warum war das alles notwendig? Warum kam sie nicht mit ihm nach hause und sie fingen nochmal von vorne an? Machte sie sich denn gar nichts mehr aus ihm? Wollte sie ihr gemeinsames Kind etwa alleine zur Welt bringen, ihn von allem ausschließen? Es würde ihn umbringen. Er mußte gehen, er hielt es nicht mehr aus. Würde sie ihm denn niemals verzeihen können?

„Ich muß gehen," sagte er leise. „Wirst du… sagst du mir Bescheid, wenn…" er stockte. „Wenn das Kind da ist. Und wenn du Hilfe brauchst oder ich irgend etwas für dich tun kann…"

„Danke, William. Ich melde mich."

„Auf Wiedersehen, Liz."

„Auf Wiedersehen."

Beide standen erst noch einen Augenblick unschlüssig herum, so als wollte keiner den ersten Schritt machen. Weder den ersten Schritt, um auseinander zu gehen noch den ersten Schritt zur Versöhnung. Beide hofften heimlich, daß der andere vielleicht etwas sagen würde. Etwas, was sie möglicherweise wieder zusammenbringen könnte. Aber es sollte nicht sein, keiner hatte den Mut dazu, vielleicht waren sie auch einfach zu stolz. Schließlich wandte Liz den Blick ab, lächelte unsicher und ging ohne ein weiteres Wort in Richtung Buchladen. William zögerte, sah ihr sehnsüchtig hinterher, aber entschloß sich dann schweren Herzens, ebenfalls seiner Wege zu gehen. Er wollte es nicht vermasseln. Wenn sie zurückkommen wollte, mußte sie selbst die Entscheidung treffen. Es gab so vieles, worüber er nachdenken mußte.

Auch Liz war natürlich durcheinander. William hatte müde ausgesehen, erschöpft. Und was sollte dieser schreckliche Bart? Der machte ihn zehn Jahre älter. Aber sie wollte jetzt nicht über ihre ruinierte Ehe oder ihren Ehemann nachdenken, sie war froh, daß sie Charlotte besuchen konnte, das bedeutete Abwechslung. Mit einer gezwungenen Fröhlichkeit, die sie nicht verspürte, betrat sie ihren ehemaligen Buchladen, den sie seit ihrer Entscheidung, ihn komplett an Charlotte zu übergeben, nicht mehr betreten hatte.

„Lizzy! Was führt dich hierher?" rief Charlotte überrascht und strahlte. Sie ließ das Buch fallen, das sie gerade ins Regal räumen wollte und lief auf ihre Ex-Chefin zu. Seit aus Elizabeth Bennet Mrs. William Darcy geworden war, hatten sie sich kaum noch gesehen.

Charlotte umarmte Liz und schaute fragend auf ihren Bauch. „Und ich sehe, du erwartest dein zweites Kind? Wie geht es dir, Liz? Was macht Mr. Hottie? Hey, die Überraschung ist dir wirklich gelungen!"

Liz war froh, daß Charlotte nicht nachtragend war. Sie hatte sie über die letzten Jahre ziemlich vernachlässigt. „Mir geht es gut, Charlotte. Ich habe meinen Besuch hier schon viel zu lange herausgezögert, findest du nicht?" Sie sah sich bewundernd um. Charlotte hatte aus dem kleinen Geschäft ein richtiges Schmuckkästchen gemacht. Es war vorher schon gemütlich gewesen, aber Charlotte hatte richtig gravierend umgebaut und neu gestaltet. Der Laden war viel freundlicher geworden, heller. „Sehr schön ist es geworden, Char," erkannte sie neidlos an. „Richtig einladend."

„Danke," lächelte Charlotte. „Es hat viel Arbeit, aber auch viel Spaß gemacht. George hat mir viel geholfen. Aber ich glaube, du kennst George noch gar nicht."

Sie wandte sich einem jungen Mann zu, der gerade damit beschäftigt war, einen Karton auszupacken.

„George, ich möchte dir meine ehemalige Chefin und Ex-Inhaberin dieses Ladens vorstellen, Elizabeth Darcy. Lizzy, das ist George Wickham, mein Mitarbeiter."

George schaute interessiert auf, kam näher und lächelte Liz freundlich an. „Sehr erfreut, Ma'am. Darcy, sagten sie? Sie sind nicht zufällig mit den „Hotel-Darcys" verwandt?" Liz schaute ihn unbehaglich an. „Oh, verzeihen sie, ich wollte nicht neugierig sein," sagte George sofort, sah sie aber weiter sehr aufmerksam an.

„Nun ja, es ist sicher kein Geheimnis," antwortete Liz mit einem schwachen Lächeln. „Ich bin mit William Darcy verheiratet."

George nickte. „Ich wußte, ich hatte ihr Bild schon mal irgendwo gesehen. Sie sind ja Stammgast in den Zeitungen." Er lächelte und ließ sie nicht aus den Augen.

„Ich freue mich so, dich zu sehen," sagte Charlotte mit ehrlicher Begeisterung. „Hast du Zeit? Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?" Sie wandte sich George zu. „Es macht dir doch nichts aus, die letzte Stunde alleine hier zu sein, oder?"

George schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht, Charlotte. Auf Wiedersehen, Mrs. Darcy. Hat mich gefreut, sie kennenzulernen." Er schenkte ihr ein weiteres Lächeln und wünschte den Damen noch einen schönen Abend. Liz registrierte erstaunt, daß er seine Chefin auf die Wange küßte, was Charlotte dezent erröten ließ, aber sie sagte nichts. Wenn ihre Freundin es mit ihrem Mitarbeiter trieb, ging sie das schließlich nichts an.

Die beiden Frauen gingen in ein Cafe in der Nähe des Canada Place. Sie hatten sich eine Menge zu erzählen. Charlotte war überrascht, als sie von der vorübergehenden Trennung der beiden Darcys hörte, aber Liz, noch etwas mitgenommen von der vorherigen Begegnung mit William, wollte viel lieber hören, was es bei ihrer Freundin neues gab.

„Du scheinst dich mit deinem Mitarbeiter sehr gut zu verstehen," grinste sie und Charlotte wurde tatsächlich verlegen.

„Nun ja, George ist nicht nur ein guter Buchhändler," murmelte sie und rührte in ihrem Kaffee herum. „Ehrlich gesagt, wir haben seit etwa einem halben Jahr eine Art Beziehung."

„Oh! Also ist es etwas ernstes, Char! Wie schön!"

Zu Elizabeths Erstaunen schien Charlotte davon nicht ganz so überzeugt. „Na ja, ob es so ernst ist, weiß ich nicht. Er kommt alle paar Tage zu mir, aber dann wieder hat er wochenlang keine Zeit für mich. Eine richtig feste Beziehung ist es auf alle Fälle nicht. Mehr...nun ja, mehr körperlich."

„Er ist auf alle Fälle ein höflicher Mensch, wie mir scheint. Und nicht gerade häßlich!"

Charlotte nickte zustimmend. „Das stimmt schon. Aber..." sie warf einen nachdenklichen Blick auf Elizabeths umfangreichen Bauch, „ich hätte nichts dagegen, eine richtig ernsthafte Beziehung einzugehen, so familienmäßig, meine ich. Dafür ist George aber nicht der richtige."

Liz lehnte sich zurück und starrte gedankenverloren in die Ferne. Ein paar Segelboote kreuzten auf dem Burrard Inlet im letzten Sonnenschein des Nachmittags. Es war ein wunderschöner Herbsttag – der Sommer wollte einfach noch nicht aufgeben.

„Ach Charlotte," sagte sie schließlich seufzend, „man bekommt nicht immer das, was man will, und wenn man es hat, weiß man es nicht zu schätzen, bis man es wieder verloren hat."

„Willst du die Scheidung?"

„Nein. Ich weiß nicht, was ich will. Ich wünschte, ich könnte die Sache mit Laura Bailey ungeschehen machen." Und noch ein Seufzer.

„Man kann die Uhr nicht zurückdrehen, leider. Aber du wirst früher oder später eine Entscheidung treffen müssen, Liz. Wenn du nicht willst, daß William dir zuvorkommt."

„Du meinst, er wird sich von mir scheiden lassen?"

Charlotte zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich natürlich nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, daß seine Geduld auch Grenzen hat."

Das wußte Liz nur zu gut. Es war beängstigend, wie viele Leute ihr das in letzter Zeit gesagt hatten.

Und in der Tat, die heutige zufällige Begegnung mit seiner Frau hatte in William den Entschluß reifen lassen, endlich für klare Verhältnisse zu sorgen. Er war gleich danach zunächst ans Meer gefahren, stundenlang am Strand spazierengegangen und hatte lange und intensiv nachgedacht. Zunächst mußte er mit dem Schock fertigwerden, seine Frau schwanger zu sehen. Im November würde sein Sohn zur Welt kommen und ehrlich gesagt, William wußte nicht, ob er darüber glücklich oder frustriert sein sollte. Er hatte sich einen Sohn gewünscht, er würde einen Sohn bekommen. Aber erhielt er auch seine Frau zurück? Würde sie zu ihm zurückkommen? Wäre ihr Leben so wie früher? Liebte sie ihn noch?

William hatte die Nase gründlich voll von dieser ganzen Ungewißheit und faßte einen Entschluß. Er würde das Gespräch mit Liz suchen. Sie würden sich die Zeit nehmen und in aller Ruhe reden, dann sollte sie entscheiden, ob sie ihm noch eine Chance geben würde oder eben nicht. Er fand, sie hatte nun wirklich lange genug Zeit gehabt, um sich darüber klar zu werden, ob ihr noch etwas an ihm lag. Und wenn das nicht der Fall sein würde...nun ja, damit würde er leben müssen.