Liz dachte an diesem Abend an nichts anderes als an ihren Mann. Mrs. Mayers und ihr Sohn hatten sie nach dem Essen zu einem DVD-Abend eingeladen, aber Liz bekam vom Film überhaupt nichts mit. Ihre Gedanken waren bei William. Sie wußte, sie würde sich bald entscheiden müssen – die Gefahr, ihn zu verlieren, wurde immer größer. Aber das Vertrauen war einfach noch nicht da, und weiterhin erschien Lauras grinsendes Gesicht vor ihr, wenn sie sich auch nur vorstellte, daß er sie anfaßte. Es schien alles so ausweglos.
Die Mayers sahen Elizabeth nachdenklich nach, als sie nach dem Film mit tränenfeuchten Augen in ihre Wohnung ging. Jamie schüttelte betrübt den Kopf.
„Die Arme. Aber wieso läßt sich ihr Mann nie hier blicken? Wieso kämpft er nicht um sie? Ich versteh das nicht, Ma."
„Ach Sohn, sie will ihn nicht sehen. Er tut damit nur das, was sie von ihm möchte. Er muß sie sehr lieben, welcher Mann hat schon solch eine Geduld."
„Er hat kein Recht, Forderungen zu stellen, Ma. Er hat schließlich Liz betrogen!"
Für Jamie Mayers war Liz in den wenigen Monaten ihrer Bekannt schaft wie eine kleine Schwester geworden, die er beschützen mußte. Er hätte diesem Widerling von einem Ehemann zu gerne den Marsch geblasen!
„Ich weiß, Jamie. Ich wünschte, die beiden kämen wieder zusammen, bevor das Kind zur Welt kommt. Das schlimme daran ist, daß sie ihn noch immer sehr, sehr liebt."
„Hat er gar nicht verdient," brummte Jamie und verabschiedete sich von seiner Mutter.
Der nächste Tag war ein Samstag. Liz stand erst spät auf. Sie hatte absolut keine Pläne für heute. Die Wohnung war geputzt und aufgeräumt, sie mußte nichts einkaufen, sie konnte heute tun und lassen, was sie wollte. Genauer gesagt, sie konnte praktisch jeden Tag tun und lassen, was sie wollte. Es fing an, ihr auf die Nerven zu gehen.
Sie frühstückte also, las die Zeitung, spielte ein wenig mit ihrer Tochter und beschloß dann, den Rest des nachmittags auf der Veranda zu sitzen und ihr Buch weiterzulesen. Man mußte einen so wundervollen, sonnigen Tag ja ausnutzen. Nicht mehr lange, und es wäre schon wieder Herbst. Und damit rückte auch der Entbindungstermin immer näher.
Liz nahm sich eine leichte Decke, ihr Buch und Vicky und machte es sich auf der großen Holzschaukel vor dem Haus bequem. Sie liebte diese Schaukel. Man saß bequem und gleichzeitig geschützt und sie hatte hier schon viele Stunden verbracht. Oft kam Mrs. Mayers dazu und leistete ihr Gesellschaft – meist hatte sie eine Nascherei und heißen Kakao dabei. William würde sich hier wohlfühlen, dachte Liz wehmütig. Mrs. Mayers würde ihn mit Süßigkeiten vollstopfen, bis er platzen würde.
Mrs. Mayers war heute morgen schon nach Victoria gefahren, aber am frühen nachmittag kam Jamie vorbei. Zunächst unterhielten sie sich ein bißchen und tranken Kaffee, dann wurde Victoria wach und wollte unbedingt den Vorgarten auf ihren kurzen Stummelbeinen erkunden. Jamie erbot sich, auf sie aufzupassen auf ihrem Weg ins Abenteuer und Liz blieb auf der Schaukel, die beiden liebevoll beobachtend. Liebevoll und wehmütig, denn sie dachte daran, daß Vickys Daddy die ersten Schritte seiner Tochter nicht miterlebt hatte.
Genau diesen Moment suchte sich William Darcy aus, um Liz zu besuchen und mit ihr zu reden. Er hatte mit viel Überredungskunst Jane dazu bekommen, ihm Elizabeths Adresse zu verraten. Die gutmütige Jane wollte auch nichts lieber, als daß ihre Schwester zu ihrem Mann zurückkehrte und sah, wenn auch erst nach langem Überlegen und Beratschlagen mit Charles, die Notwendigkeit ein, William die Adresse zu geben.
William bog langsam in die ruhige Seitenstraße ein, in der das Haus der Mayers lag. Er war beruhigt, daß die Gegend offenbar recht anständig war, die kleinen Häuser wirkten gepflegt, die Vorgärten waren in tadellosem Zustand. Es war eine ordentliche Mittelklassesiedlung, so hatte es den Anschein.
William fuhr zögernd die Straße entlang. Hausnummer 778, da drüben war es. Es war ein Eckgrundstück und der Grundbesitz war etwas größer als bei den anderen Häusern. Niedrige Hecken umgaben das Anwesen und man hatte freie Sicht auf Haus und Veranda. William parkte seinen Wagen ein Stück vom Haus entfernt. Er mußte erst einmal durchatmen, bevor er den Mut aufbrachte, zu klingeln. Er schalt sich einen Feigling, schließlich ging es hier nicht um eine Papstaudienz, sondern er wollte doch nur seine Frau sehen. Und die saß, wie er unschwer erkannte, auf der Veranda in einer dieser großen Holzschaukeln mit einem Buch in der Hand. Sie las aber nicht, sondern rief jemandem etwas zu, was er nicht verstand, und lachte dabei. Als er ihrem Blick folgte, sah er einen Mann, der Victoria an den Händen gefaßt hielt und vorsichtig mit ihr durch den Garten spazierte, immer einen kleinen Schritt nach dem anderen. Liz sah den beiden liebevoll zu und applaudierte ihrer Tochter, wenn sie wieder eine Runde geschafft hatte. Nach kurzer Zeit hatte die Kleine offensichtlich keine Lust mehr oder war erschöpft, denn sie hob ihre kurzen Arme bittend zu dem Fremden hin. Der Kerl lachte, hob sie hoch, küßte sie auf die Wange und machte allerlei Unsinn mit ihr, der Vicky zum Quietschen brachte. Liz schüttelte amüsiert den Kopf, stand auf, nahm ihre Tochter an sich und wuschelte dem Mann spielerisch durchs Haar. Dann lachten sie noch über irgendetwas und schließlich ging Liz mit Vicky ins Haus.
Williams Gesicht verlor jegliche Farbe. Er hätte alles gedacht, aber nicht, daß sich Elizabeth mit einem anderen Kerl trösten würde. Kein Wunder, daß sie keinen Kontakt zu ihm suchte! Und wer weiß, vielleicht war er ja gar nicht der Vater ihres Kindes und sie wollte bloß, daß er für das Baby aufkam. William war so schockiert über das, was er gerade gesehen hatte, daß er nicht mehr rational denken konnte. Er glaubte exakt das, was er zu sehen geglaubt hatte und hinterfragte nichts. Liz betrog ihn mit einem anderen Mann – etwas anderes konnte es gar nicht sein. Natürlich war nicht daran zu denken, daß er jetzt bei ihr klingelte, er war viel zu aufgelöst und hatte glücklicherweise noch so viel gesunden Menschenverstand, daß er diese Eskalation vermied. Aber am liebsten wäre er in den Vorgarten gestürmt und hätte den Kerl zu Klump geprügelt.
Aber er hatte sich – sehr zu seiner eigenen Verwunderung – völlig im Griff und so fuhr er ebenso unbemerkt davon, wie er gekommen war. Gleich Montagmorgen würde er seinen Anwalt aufsuchen. William fühlte sich, als würde Eis durch seine Adern fließen. Er würde alles tun, um seine Ehe zu retten, aber er ließ sich ganz sicher keine Hörner aufsetzen.
Elizabeth war ebenfalls zu einem Entschluß gekommen. Sie würde im Lauf der nächsten Woche mit William Kontakt aufnehmen. Sie hatte sehr lange nachgedacht und war der Meinung, daß sie einfach ausprobieren mußte, wie es sich anfühlte, in Williams Nähe zu sein. Die kurze Begegnung mit ihm hatte sie aufgewühlt, sie war allerdings auch unverhofft gewesen und beide waren ein wenig auf dem falschen Fuß erwischt worden und vollkommen unvorbereitet. Wenn sie sich verabredeten, war das etwas anderes, dann konnte sie sich auf das Treffen einstellen.
Die folgende Woche brachte den vorläufigen Höhepunkt in der Beziehung zwischen Liz und William – in äußerst negativer Hinsicht.
William ging sofort am Montag früh zu seinem Anwalt. So etwas wie einen Termin brauchte er nicht, Michael Armitage war ein alter Freund und Studienkollege und er schaufelte sich einfach ein paar Minuten frei. William hatte sonst mit niemanden darüber gesprochen, auch nicht mit seiner Mutter, er war fest entschlossen, den „Eskapaden" seiner Noch-Ehefrau ein Ende zu bereiten und wollte keine weitere Meinung dazu hören. William Darcy war endgültig am Ende seiner Geduld angekommen.
„Schreib ihr einen Brief, Michael, daß ich die Scheidung will." verlangte William, nachdem er Michael alles dargelegt hatte.
Sein Freund rieb sich nachdenklich das Kinn. „Bist du sicher, Will? Woher willst du wissen, daß sie dich betrügt? Das du nicht der Vater ihres Kindes bist? Du hast einen Mann gesehen, der mit deiner Tochter gespielt hat, weiter nichts."
„Sie haben miteinander gelacht wie ein verliebtes Paar und er hat Vicky wie seine Tochter behandelt." William wurde jetzt noch schlecht, als er daran dachte.
Zum Glück für William war Michael Armitage ein besonnener Mann. „William, das ist erstmal kein Beweis. Es wäre für alle Beteiligten das beste, wenn du zunächst einmal mit deiner Frau sprechen würdest. Laß dir die Sache erklären! Es kann alles ganz harmlos sein. Fahr nicht gleich die schweren Geschütze auf. Elizabeth ist eine kluge Frau, und ich kann mir nicht vorstellen, daß sie einfach so eine neue Beziehung eingeht. Wenn sie das wollte, hätte sie vorher mit dir reinen Tisch gemacht."
William war keineswegs davon überzeugt, aber seine wilde Entschlossenheit wankte schon ein wenig. „Trotzdem, schreib ihr einen Brief. Sie soll sehen, daß ich es ernst meine. Schreib ihr, sie soll es erklären."
Michael schüttelte geduldig den Kopf. „Nein, das ist keine gute Idee, mein Freund. Stell dir immer vor, wie du selbst auf so etwas reagieren würdest. Wenn du von ihrem Anwalt Post bekommen würdest. Siehst du, du wärst auch nicht begeistert. William, ich gebe dir einen Rat, und den völlig kostenlos: Sprich mit ihr. Sag ihr, daß du die Ungewißheit nicht mehr erträgst, bestehe auf absoluter Ehrlichkeit, und sei selbst aber auch ehrlich. Sag ihr, was du dir vorstellst, frag sie, wie sie sich selbst ihr weiteres Leben vorstellt. Ob du noch eine Rolle darin spielst. Ich gebe dir insofern recht, daß sie sich langsam mal dazu äußern sollte. Soviel Geduld ist nicht leicht aufzubringen – schon gar nicht von dir." Michael grinste und gab William einen leichten Stoß. „Und du kannst mir nicht weismachen, daß du deine Frau nicht mehr liebst!"
Der Anwalt schaute seinen Freund aufmerksam an und William nickte schließlich widerwillig.
„Na siehst du. Ich wünsche dir viel Glück, William. Und ich hoffe, daß ich dich hier so schnell nicht mehr wiedersehe – geschäftlich natürlich." Michael lächelte leicht. „Ich würde ungern mit deiner Scheidung Geld verdienen, mein Freund. Auch wenn ich danach wahrscheinlich für den Rest des Jahres nicht mehr arbeiten müßte."
Elizabeth schlich eine Ewigkeit, so wie es schien, ums Telefon herum. Sie konnte sich einfach nicht überwinden, zum Hörer zu greifen und William anzurufen. Frustriert seufzte sie und streckte die Hand nach dem Telefon aus, nur um sie wieder sinken zu lassen. Wo ist dein Problem, Liz Darcy? fragte sie sich gereizt. Sie wollte schließlich nur einen Termin mit ihrem Ehemann vereinbaren – weiter nichts. Einen Termin, von dem so vieles abhing.
Liz überlegte kurz, ob sie den Weg der Feiglinge gehen würde und einfach in seinem Büro anrufen sollte. Seine Sekretärin könnte dann einen Termin mit ihr vereinbaren und sie redete sich ein, daß das keine schlechte Lösung war. Vor allem könnte sie ihn in seinem Büro aufsuchen, dann würden auch keine Fetzen fliegen.
Aber nein, das ging nicht. Sie war jetzt mehrere Monate von zuhause weg, sie mußte das Haus sehen. Hauste William dort wie ein Waldschrat? War die Wohnung ordentlich? Gab es Anzeichen für Damenbesuch? Liz schüttelte erstaunt über sich selbst den Kopf. Es war ebenso ihr Haus, warum sollte sie nicht nach hause gehen? Liebe Güte, hatte die Welt so was schon gesehen...
So schwer konnte es doch nicht sein, einen Anruf zu machen. Es war jetzt abends acht Uhr, die Chancen, daß William zuhause war, standen relativ gut. Noch einmal tief Luft geholt, dann griff Liz zum Hörer und wählte nervös die Nummer. Mit klopfendem Herzen lauschte sie dem Freizeichen, dann meldete sich eine Frauenstimme mit einem genervten „Hallo?".
Liz' Herz blieb stehen. Wie konnte er es wagen, seine Gespielin ans Telefon gehen zu lassen? Sie wollte im ersten Moment auflegen. „Hallo?" kam die Stimme erneut. „Wer ist denn da, zum Teufel?"
Liz zögerte. Im Hintergrund hörte sie Kinderstimmen quäken und schreien. William hatte sich doch wohl keine Familie ins Haus geholt?
„Ist...ist William zu sprechen?" fragte sie schließlich leise.
„Hier gibt's keinen William," antwortete die unfreundliche Stimme.
„Oh. Dann...entschuldigen sie bitte..."
Bevor sie den Satz beenden konnte, war die Verbindung getrennt.
Liz überprüfte die gewählte Nummer im Display und lachte nervös. Sie hatte einen Zahlendreher drin. Bevor sie Angst vor der eigenen Courage bekam, wählte sie schnell die korrekte Nummer und wieder lauschte sie gespannt dem Freizeichen. Es klingelte mehrmals, aber niemand hob ab. Nach dem siebten Mal wollte sie enttäuscht aufgeben, da wurde der Hörer abgenommen und ein atemloses „William Darcy" drang an ihr Ohr.
„Oh...hallo, William, Liz hier," sagte sie nach einer kurzen Sprechblockade.
„Hallo, Liz," kam es ruhig zurück. Oder gar kühl?
„William...ich rufe an, weil..." sie konnte vor Aufregung keinen klaren Gedanken fassen und ärgerte sich über sich selbst, weil sie so herumstotterte. „Können wir uns diese Woche treffen und reden?"
Pause am anderen Ende des Hörers.
„Ja, natürlich," sagte William schließlich. „Wie wäre es mit übermorgen."
„Prima, ja gerne. Wieviel Uhr?"
„Um elf?"
„Ok. Ich bin um elf bei dir."
„Du willst hierher kommen?" Er hatte sehr wohl registriert, daß sie nicht „zu hause" gesagt hatte.
„Ist das ein Problem?"
"Nein, natürlich nicht. Also gut, übermorgen, elf Uhr. Bis dann, Liz."
„Bis dann."
Beide starrten lange ihre jeweiligen Hörer an, bevor jeder von ihnen etwas unbehaglich an das vor ihnen liegende Gespräch dachte.
