William konnte es nicht glauben. George Wickham, der das junge Leben seiner Schwester so leichtfertig ruiniert hatte, hatte nun seine kleine Tochter in seiner Gewalt. Nein, es konnte nicht wahr sein. William weigerte sich, die Tatsache zu akzeptieren. Nicht Vicky. Bitte lieber Gott mach, daß ich das alles nur träume! dachte er verzweifelt. Laß mich aufwachen und alles war nur ein böser, böser Traum. Liz starrte ihn mit großen Augen an und griff sich an den Hals.
William wußte, er mußte sich zusammenreißen und versuchen, klar zu denken. George würde Vicky nichts tun, redete er sich ein. Er will nur Geld.
William holte tief Luft. „Du verdammter Mistkerl, du elendes Stück Müll, ich warne dich, wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, dann..."
„Ts ts ts," lachte Wickham. „du solltest deine Sprache überdenken, mein Freund. Ein bißchen mehr Respekt, bitte! Du, mein Lieber, sitzt ausnahmsweise mal am kürzeren Hebel."
William schwieg, aber er kochte vor Zorn – und Angst.
„Im übrigen bedank dich bei deiner süßen Frau, sie hat mir die Kleine ja praktisch aufgenötigt. Hey, ich muß sagen, dein Frauengeschmack hat sich über die Jahre ziemlich gebessert! Wow, eine scharfe Braut, geile Titten, aber darauf bist du ja schon immer abgefahren, nicht wahr! Schade, daß sie ziemlich trächtig ist momentan, sonst hätte ich sie mir ohne zu zögern als Gespielin mitgenommen. Sie hätte sicher nichts dagegen gehabt, mal einen richtigen Mann zwischen ihren Beinen zu haben." Wieder dieses unsägliche Lachen, dann wurde er ernst. „Also paß auf, Darce. Dein süßes Töchterchen ist hier bei mir. Moment, ich beweise es." Einen Augenblick später war ein Weinen zu hören und Darcy ballte die Fäuste. „Laß sie in Ruhe, du verdammter..."
„Die Süße plaudert leider nicht allzuviel, sorry, da mußte ich sie kurz kneifen. Nix passiert, reg dich nicht auf. Also. 5 Millionen US-Dollar und einen Flug mit deinem Privatjet zu einem Ziel meiner Wahl. Sobald ich vor Ort in Sicherheit bin, teile ich dir mit, wo du das Balg findest. Keine Angst, ich lasse sie nicht alleine, sie ist in guten Händen. Man ist ja kein Unmensch." Und wieder lachte er. „Bis morgen sind das Geld und der aufgetankte Flieger bereit. Ich melde mich wieder."
Die Verbindung wurde unterbrochen.
William warf das Telefon auf den Tisch und wandte sich seiner Frau zu, die wie erstarrt auf der Couch saß. „Was ist mit Vicky?" flüsterte sie. „Wo hat er sie versteckt?" Tränen liefen über ihr Gesicht und William schnürte es das Herz zusammen bei ihrem Anblick. Er ließ sich neben ihr nieder und nahm sie in die Arme. Eine Weile saßen sie so zusammen, bis Elizabeths Tränen endlich versiegten. „Es tut mir so leid, William," flüsterte sie. „Ich konnte doch nicht ahnen..."
„Ssschh...," murmelte er und streichelte sanft ihren Rücken. „Du konntest nicht wissen, wer Wickham ist. Das er am Unfall meiner Schwester schuld hat. Was für ein unglaublicher, grausamer Zufall, daß ausgerechnet er im Buchladen arbeitet!" William berichtete ihr in kurzen Worten, was Wickham forderte und gemeinsam überlegten sie, so besonnen sie es vermochten, wie sie weiter vorgehen wollten. Liz brach immer wieder in Tränen aus, aber auch William hatte zu kämpfen. Seine süße Maus in den Händen dieses Kerls...nicht auszudenken. Er blieb Liz zuliebe ruhig, obwohl er am liebsten sofort ins Auto gesprungen wäre und die Suche nach ihm aufgenommen hätte – egal, wie wenig aussichtsreich die Erfolgsaussichten waren, ihn zu finden.
„Wir sollten zuerst die Polizei informieren," schlug Liz schließlich vor.
„Vielleicht. Auf alle Fälle muß ich das Geld beschaffen und den Flieger klarmachen. Aber ich werde ihn nicht so einfach davonkommen lassen. Oh nein." Williams Gesicht drückte eine solche eiskalte Entschlossenheit aus, daß Liz Gänsehaut bekam. „Was hast du vor, William? Willst du ihn etwa allein zur Strecke bringen?"
„Ich weiß noch nicht. Aber ich werde nicht zulassen, daß irgendwelche amateurhafte Polizisten das Leben meines Kindes gefährden. Wir werden sie vorerst nicht informieren, dafür ist später noch Zeit."
Liz mochte die Entwicklung nicht, die das Gespräch nahm. Sie hatte keine Lust, erst ihr Kind und dann auch noch ihren Mann zu verlieren, nur weil William unbedingt den Helden spielen mußte. Wie wollte er Wickham finden ohne Anhaltspunkt?
William stand auf, griff zum Telefon und erledigte einige Anrufe. Er orderte das Geld für morgen früh, froh darüber, daß keine Fragen gestellt wurden, danach rief er seinen Chefpiloten an und bestellte ihn für morgen auf Abruf zum Flughafen, ohne ein konkretes Ziel zu nennen. Er wußte, auf seine Mitarbeiter wäre Verlaß.
Williams unbändige Wut, seine Angst um Victoria kanalisierte er um in entschlossenes Handeln. Er war seiner Tochter keine große Hilfe, wenn er blinde Aktionen startete oder sich der Verzweiflung hingab. Außerdem mußte er stark sein für Liz, deren angegriffenes Aussehen ihm immer weniger gefiel. Sie war so blaß und ab und zu zuckte sie zusammen, als ob sie Schmerzen hätte. Katastrophal, wenn sie jetzt das Kind zur Welt bringen würde! William war äußerst besorgt.
Nachdem er die wichtigsten Maßnahmen veranlaßt hatte, kümmerte er sich wieder um Elizabeth. „Es wird ihr nichts passieren, Liebes," sagte er leise und versuchte, sie so weit es ging zu beruhigen. „Wickham geht es nur ums Geld, er tut ihr nichts an."
„Glaubst du wirklich, es kümmert sich jemand um sie, wenn er zum Flughafen geht? Er läßt sie nicht alleine irgendwo zurück? Ich darf gar nicht daran denken...oh verdammt, William, ich mache mir solche Vorwürfe..."
William nahm Liz ein weiteres mal in die Arme und zog sie sanft an sich. Trotz aller Sorgen momentan war es schön und irgendwie beruhigend, ihre Nähe zu spüren, sie berühren zu können. „Nein, er läßt sie bestimmt nicht alleine irgendwo zurück. Noch nicht einmal Wickham ist zu so etwas fähig." Er wünschte, er wäre selbst von seinen eigenen Worten überzeugt. Er traute George Wickham alles zu, nur um sich an William zu rächen, er würde vielleicht sogar selbst den Tod eines hilflosen Kindes dafür in Kauf nehmen.
William durfte nicht darüber nachdenken und er zwang sich zur Ruhe. Er mußte einen klaren Kopf bewahren. Liz war nach ein paar Minuten glücklicherweise erschöpft eingeschlafen und er hatte sie vorsichtig auf die Couch gelegt und liebevoll zugedeckt. Die Ärmste! Wenn sie so wenig wie möglich von der ganzen Sache mitbekam, wäre es für sie am allerbesten.
William ging in sein Arbeitszimmer, um einige Nachforschungen anzustellen. Die Tür ließ er offen, falls Liz wachwurde und ihn suchte. Für einen Moment überlegte er, ob er seine Eltern informieren sollte, entschied sich aber dagegen. Sie würden sich nur unnötig aufregen und konnten sowieso nichts daran ändern. Helfen konnten sie ihm auch nicht dabei. Vielleicht gelang es ihm ja, die Sache unauffällig zu erledigen und dann würden sie nie etwas davon erfahren müssen.
Er wandte sich seinem Laptop zu und machte sich auf die Suche nach weiteren Informationen. William kannte Wickhams Umfeld ein wenig von früher. Ehemaliger Student, immer wieder in kleinere Delikte verwickelt. Drogenhandel im kleinen Stil, ein bißchen Erpressung, und dann natürlich, William drehte sich der Magen um, als er daran dachte, seine Vorliebe für hübsche, junge Mädchen. Mädchen, die einiges jünger waren als er selbst. Mädchen, deren Leben er ruinieren konnte. So wie das seiner Schwester. Dieser Dreckskerl! Und er war immer in Geldnöten. Daß er in Charlottes Buchladen angeheuert hatte, erstaunte ihn. Wickham und ehrliche Arbeit – das passte nicht zusammen. Möglicherweise ging er mit Charlotte ins Bett und ließ sich von ihr aushalten – das passte schon eher. Wickham konnte sehr, sehr charmant sein, wenn er wollte. Außerdem wurden ihm Kontakte in die Rotlichtszene nachgesagt, und dort wollte William als allererstes ansetzen.
William traute seinem Erzfeind zwar einiges zu, erst recht, falls er in die Enge getrieben wurde – aber er hoffte sehr, daß er seine schwarze Seele nicht mit dem Tod eines unschuldigen Kindes belasten würde. Er mußte beten, daß er Vicky in irgendjemandes Obhut zurückließ und das bedeutete, es mußte jemand sein, dem Wickham vertraute. Er würde erklären müssen, wer das Kind war und warum die- oder derjenige auf es aufpassen sollte. Und natürlich später seinen Eltern zurückgeben, wenn Wickham in Sicherheit war.
William vermutete, daß eine solche Person am ehesten unter den etwas lichtscheueren Mitbürgern der Stadt zu finden war. Welcher redliche, anständige Mensch würde sich auf so etwas einlassen – Erpressung und Kindesentführung! Er bezweifelte, daß Wickham überhaupt anständige Leute kannte und je länger William darüber nachdachte, um so sicherer war er sich. Vielleicht hatte er eine besondere Freundin unter all den Flittchen, die er kannte. Das Problem war nur, wie sollte er an diese Leute herankommen?
William Darcy hatte vor seiner Hochzeit ein eher ungezügeltes, ungestümes Leben geführt, keine Frage. Er hatte aus Neugierde viele wüste Dinge ausprobiert, äußerst sinnliche und erregende Erfahrungen in „Liebesangelegenheiten" gesammelt und dabei Sachen erlebt, von denen er aufrichtig hoffte, daß Liz sie nie erfahren würde. Aber niemals, nicht ein einziges mal, hatte er eine Frau dafür bezahlt, daß sie sich mit ihm einließ. Zum einen hatte er das überhaupt nicht nötig – warum für etwas zahlen, was ihm Heerscharen von Frauen freiwillig zu geben bereit waren? Außerdem lehnte er diese Art von „Liebe machen" rundweg ab, er wäre nie auf die Idee gekommen, zu einer Prostituierten zu gehen. In seinen Kreisen wurde das wahrscheinlich gar „Kurtisane" genannt. William rief nach ein wenig Überlegen schließlich zuerst die einzige Person an, die näheren Kontakt zu Wickham hatte: Charlotte.
Er mußte ihr wohl oder übel die gesamte Geschichte erzählen und bat sie, vorerst darüber zu schweigen. Charlotte war entsetzt und außer sich, nachdem William sie jedoch ein wenig beruhigt hatte, konnte sie ihm etwas weiterhelfen. Nachdem William aufgelegt hatte, war er in Besitz von Wickhams Adresse, ein paar Namen, die Charlotte immer wieder mal im Gespräch aufgeschnappt hatte – wie er vermutet hatte, ließ Wickham sich von ihr mehr oder weniger aushalten und hatte viel Zeit in ihrer Wohnung verbracht – sogar einige möglicherweise brauchbare Telefonnummern konnte sie ihm nach kurzem Recherchieren geben. William notierte sich jede noch so kleine Einzelheit und plante dann sein weiteres Vorgehen.
Als Liz zwei Stunden später aufwachte, hatte sie schreckliche Kopfschmerzen und wußte im ersten Moment gar nicht, wo sie war. Dann fiel ihr mit einem Schlag alles wieder ein und Tränen liefen ihr über die Wangen. Suchend blickte sie sich nach William um, dann hörte sie ihn am Telefon sprechen, offenbar war er in seinem Arbeitszimmer.
Schwerfällig setzte sie sich auf und zuckte zusammen, als ihr ein scharfer Schmerz durch den Bauch fuhr. Das würde noch fehlen, wenn das Baby jetzt schon zur Welt kommen wollte! Konnte sie denn keine Schwangerschaft in Ruhe zuende bringen? Sie atmete so ruhig sie konnte und nach kurzer Zeit ließ der Schmerz nach. Langsam machte sie sich auf die Suche nach William und sie fand ihn tatsächlich in seinem Arbeitszimmer. Er sah angespannt aus, lächelte jedoch zärtlich, als er sie in der Tür stehen sah, auf bloßen Füßen und im zerknautschten Umstandskleid und winkte sie an seine Seite.
„Danke, Jonathan, du hast mir sehr geholfen und auf alle Fälle was gut bei mir," sagte er ins Telefon und beendete die Verbindung. „Hallo Liebling," sagte er, wandte sich zu Liz um und legte ihr einen Arm um den mächtigen Bauch. „Konntest du dich ein bißchen ausruhen?"
Sie nickte. „Der Schlaf hat mir ganz gut getan. Gibt es irgendwas neues?"
William berichtete ihr von seinen Telefonaten mit Charlotte und einigen alten Freunden und daß er einer verheißungsvollen Spur nachginge.
„Wickham hat ein paar Freunde im Rotlichtmilieu und Charlotte konnte mir ein paar Namen nennen. Ich habe das überprüfen lassen und bin fündig geworden." Liz wurde schlecht bei dem Gedanken, daß ihre arme kleine Tochter möglicherweise bei einer Hure in einem Bordell untergebracht war. Aber immer noch besser als alleine irgendwo zu liegen…
William spürte ihren Widerwillen und zog sie auf seinen Schoß, was sie unfreiwillig zum Kichern brachte, da sie ja doch einiges an Gewicht mitbrachte. Aber William störte es nicht. Sanft strich er über Elizabeths Bauch und genoß im stillen ihre Nähe.
„Ja, so wie es aussieht, hat er einiger dieser Damen regelmäßig aufgesucht. Arme Charlotte, ich glaube, sie macht sich ziemlich viel aus diesem Kerl." Er schüttelte voller Abscheu den Kopf. „Meine Hoffnung ist, daß wir Vicky dort irgendwo finden.
„Aber wir können schlecht dort auf Verdacht hinmarschieren und nach Vicky fragen, oder? Wollen wir nicht doch lieber die Polizei einschalten, William?"
„Noch nicht. Laß mich ein bißchen überlegen, ok? Ich verspreche dir, ich tue nichts unüberlegtes."
Liz schaute ihn skeptisch an. Er tat vielleicht nichts unüberlegtes, aber auch das, was er überlegt tat, konnte gefährlich sein. Sie kannte ihn nur zu gut. Er war Geschäftsmann in einem harten Business, in der die Konkurrenz nicht schlief, er konnte seine Gefühle sehr gut unter Kontrolle halten und vollkommen emotionslos und konsequent seine Ziele verfolgen. Liz war diese Seite an ihm oft nicht geheuer, sie machte ihr manchmal sogar Angst. Der Unterschied zwischen dem privaten William und dem geschäftlichen war oft ziemlich beängstigend. Momentan jedoch brodelte hinter seiner ruhigen, nahezu kühlen Fassade innerlich ein Vulkan.
Liz hätte es lieber gesehen, wenn sich die Polizei um den Fall gekümmert hätte, aber sie stieß auf taube Ohren. „Dafür ist immer noch Zeit," bekam sie zur Antwort.
William zerbrach sich den Rest des Tages den Kopf, wie er am besten vorgehen sollte. Natürlich konnte er nicht einfach irgendwo auftauchen und nach Vicky fragen. Wickham war höchstwahrscheinlich noch bei ihr und würde sie erst morgen in wessen Obhut auch immer lassen. Rastlos lief er in seinem Arbeitszimmer auf und ab, aber alle seine Ideen erwiesen sich beim näheren Nachdenken als nicht durchführbar. Er war schon drauf und dran, doch noch die Polizei anzurufen, als er sich plötzlich an den Kopf schlug und kurz auflachte. Natürlich! Wie hatte er ihn vergessen können, seinen Cousin. Richard Fitzwilliam, seines Zeichens Colonel in der kanadischen Armee und ausgebildeter Nahkämpfer. Richard würde Wickham zum Frühstück verspeisen! Er mußte nur noch herausfinden, ob Richard überhaupt im Lande war und noch komplizierter, ob er morgen früh hier sein konnte.
