William verlor keine Zeit. Bedingt durch Richards Beruf hatten die beiden Cousins wenig Kontakt miteinander, sie schätzten sich aber sehr. Richard war ständig in mehr oder weniger offiziellen Missionen für sein Land unterwegs, bevorzugt in irgendwelchen Krisengebieten rund um den Globus. Über seine Aufträge sprach er nicht und die Familie erfuhr immer nur sehr vage, wo er sich gerade aufhielt. Richard Fitzwilliam war unverheiratet und William hätte sich auch keine Frau vorstellen können, die ein Leben mit einem solchen Mann längere Zeit ausgehalten hätte. Immer unterwegs, immer in Gefahr. Aber Richard wollte es so und jeder hütete sich, seine Einstellung in dieser Sache zu hinterfragen.
William versuchte es zuerst in Richards Wohnung, aber dort nahm niemand ab. Blieb nur noch Richards Mutter, seine Tante Rebecca. Und dort war er erfolgreich. Rebecca Fitzwilliam freute sich, ihren Neffen zu hören und stellte ihm allerlei Fragen, die er zwar höflich beantwortete, ihm aber große Geduld abverlangten. Er mußte Richard sprechen, zum Teufel! Aber seine Geduld wurde belohnt, denn Rebecca hatte gut Nachrichten.
„Richard hat zwei Wochen Urlaub, William," teilte sie ihm mit. „Ich gebe dir seine Mobilfunknummer."
William schrieb hastig mit und bedankte sich sehr herzlich bei seiner Tante.
„Nichts zu danken, Will. Wenn du mit ihm sprichst, sag ihm, er soll seine Mutter anrufen!"
William versprach es und lächelte, als er auflegte. Es war immer das gleiche mit den Müttern…
Williams Anruf wurde ungnädig beantwortet.
„Mensch Darce, einen besseren Zeitpunkt hättest du dir auch nicht aussuchen können, was?" bellte ein genervter Richard Fitzwilliam, als er den Anruf widerstrebend angenommen hatte. „Ich war grade auf dem Weg zu einer äußerst hinreißenden, kurvigen, blondgelockten Göttin, die doch tatsächlich versprochen hat, mir…"
William unterbrach ihn schnell, er wollte auch gar nicht so genau wissen, was ihm die Dame gutes tun wollte.
„Hör zu, Richard. Ich habe ein sehr ernstes Problem…"
Richard hörte seinem Cousin zu, ohne ihn auch nur ein einziges mal zu unterbrechen. Als William nach wenigen Minuten fertig war, sagte er nur: „bin sofort bei dir," und die blondgelockte Göttin und ihr heißes Versprechen waren vergessen.
Nur kurze Zeit später klingelte es bei den Darcys und Richard stand vor der Tür. Er war kein Mann großer Worte.
„Darce, hallo Liz," grüßte er kurz, dann besah er sich seinen Cousin genauer. „Scharfer Bart, Darce! Macht dich glatt um zehn Jahre älter!"
William rollte die Augen, verkniff sich aber eine Antwort. Richard grinste breit, wurde dann aber sofort wieder ernst und ließ sich dann die ganze Geschichte noch einmal ganz genau erzählen. Während William alles wiederholte, was heute geschehen war, beobachte Liz den Cousin ihres Mannes heimlich.
Sie kannte Richard nicht besonders gut. Ok, an der Hochzeit war er dagewesen, ein paarmal hatte sie ihn bei anderen Familienfesten getroffen, aber nie viel miteinander gesprochen. Er war zwei oder drei Jahre älter als William, sehr groß und kräftig, mit eisblauen Augen, die einen sehr stechend niederstarren konnten oder aber innerlich verbrennen. Oh ja, Richard war nicht nur in seinem Beruf gefährlich! Er trug seine dunkelblonden Haare militärisch kurz geschnitten und hatte etwas definitiv einschüchterndes an sich, wenn man ihn sich zum Feind machte, fand Liz. Sie hatte großes Vertrauen zu ihm.
Liz fühlte sich nicht gut. Die Angst um ihre Tochter machte sie verrückt, ihr Bauch fing alle paar Minuten an zu zwicken und wenn sie hörte, was die beiden Männer ausheckten, wurde ihr mulmig.
Der Plan klang lächerlich einfach. Das Flugzeug inklusive der 5 Millionen Dollar sollte wie abgesprochen am Flughafen bereitstehen. Richard würde gemeinsam mit dem Chefpiloten im Cockpit sitzen und, sobald Wickham es sich im Flieger gemütlich gemacht hatte, diesen überwältigen und dann „sanft überreden", ihnen den Aufenthaltsort von Victoria zu verraten. Erst dann würden sie die Polizei einschalten. Oh ja, es hörte sich einfach an. Aber ob sich Wickham tatsächlich so einfach übertölpeln lassen würde?
Richard war ein besonnener Mann und vollkommen ruhig, aber aufs äußerste entschlossen, wenn es die Umstände verlangten. Liz war froh, daß sich William seinem Urteil und seiner Erfahrung unterwarf und keine unsinnigen Aktionen startete, um Vicky zu befreien. Trotzdem hatte sie unglaubliche Angst.
William ging, um für Richard ein Gästezimmer herzurichten und Richard ließ sich neben Liz auf die Couch fallen. Er spürte ihre Angst, ihre Anspannung nur zu deutlich und griff nach ihrer Hand. „Hey, mach dir keine Sorgen," sagte er beruhigend. „Morgen um diese Zeit hast du deine Tochter wieder. Und keine Angst," er grinste wieder sein unwiderstehliches, jungenhaftes Grinsen, „ich werde auch nicht zulassen, daß William Unheil anrichtet." Er beugte sich näher zu ihr und senkte die Stimme. „Er wird noch nichtmal in die Nähe des Flugzeugs kommen, versprochen," flüsterte er und zwinkerte Liz zu. Richard strahlte soviel Optimismus aus, daß Liz sich langsam beruhigte. Der Mann hatte ganz andere Einsätze mitgemacht, war in Kriegsgebieten gewesen, hatte Attentate überlebt, Schießereien überstanden, hatte Dinge gesehen und erlebt, die für Liz unvorstellbar waren. Ein kleiner Fisch wie George Wickham war für ihn ein Aufwärmtraining. Aber sie war froh, daß er die Sache vorsichtig anging und keinerlei Überheblichkeit zeigte.
Als es langsam Zeit zum schlafengehen wurde – Richard hatte sich bereits zurückgezogen – schauten sich William und Liz etwas verlegen und unbehaglich an. Liz sollte eigentlich in ihre Wohnung fahren, aber sie zögerte. „Ich würde beruhigter sein, wenn du heute nacht hier schlafen würdest," sagte William schließlich. „Ich mache dir ein Bett im zweiten Gästezimmer zurecht, ok?"
Liz wollte nicht alleine im Gästezimmer schlafen. Der Tag hatte sie dermaßen mitgenommen, daß sie es nicht aushielt, alleine zu sein. Sie brauchte William heute nacht, sie brauchte seine Nähe und seinen Trost.
„William…würde es…würde es dir sehr viel ausmachen, heute nacht im Schlafzimmer zu schlafen?" fragte sie verlegen. „Ich möchte nicht so gerne alleine sein."
William schaute sie überrascht an. „Bist du sicher?"
Liz nickte und wurde rot. Der schreckliche Tag heute hatte sie wieder etwas mehr zusammengeschweißt. Wenn sie dieses Drama überstehen würden, würden sie alles gemeinsam überstehen können.
„Natürlich, Liebling. Ganz wie du willst."
Liz zögerte, dann trat sie einen Schritt näher zu ihm hin und schmiegte sich an ihn. Sie seufzte auf, als er sie in die Arme nahm. Es fühlte sich so gut an. Ganz wie früher.
„Laß mich deine Vermieterin anrufen, damit sie sich keine Sorgen macht," murmelte William und Liz gab ihm die Nummer.
Liz war überzeugt, daß sie kein Auge zumachen würde heute nacht, aber Williams Nähe hatte eine beruhigende Wirkung auf sie und sie schlief tatsächlich sofort ein. William bewachte ihren Schlaf eine zeitlang, bis er selbst wegdöste. Wickham hatte sich nicht mehr gemeldet.
Als William am nächsten Morgen in die Küche kam – Liz schlief noch fest und er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie aufzuwecken – saß Richard schon mit einem Kaffee am Tisch und las die Zeitung. Er trug eine Art Pilotenoutfit, das William gestern noch besorgt hatte und wirkte unbekümmert wie immer.
„Ich hab gar keine coole Sonnenbrille," sagte er und zapfte sich noch einen Kaffee. „Glücklicherweise scheint keine Sonne heute."
William schüttelte den Kopf. Wie konnte er so ruhig sein! In ihm selbst brodelte es und er konnte es kaum erwarten, Wickham in die Finger zu bekommen. Richard hatte sich nicht die Mühe gemacht seinen Cousin darauf hinzuweisen, daß er noch nicht einmal in die Nähe des Flugzeugs kommen würde. Das würde ihm noch fehlen, ein unbeherrschter und unbesonnener William, der für alle einschließlich sich selbst eine Gefahr darstellen würde, da es ihm in einer solchen Situation an jeglicher Rationalität fehlte! Nein, er würde das ganz alleine machen.
Williams Mobiltelefon klingelte und er zuckte zusammen. Die Nummer wurde nicht angezeigt.
„Na, Darce, alles klar? Geld gekriegt? Prima. Dann kanns ja losgehen. In einer Stunde am Flughafen, an deiner Privatmaschine. Keine Bullen, aber das dürfte wohl klar sein." Wieder lachte er sein unangenehmes, arrogantes Lachen. „Und keine Tricks. Ich hab nix zu verlieren, Darce, aber du alles." Damit legte er auf.
„Ok, laß uns gehen," sagte Richard.
William warf einen kurzen Blick ins Schlafzimmer, war froh, daß Liz noch schlief und verließ mit Richard das Haus. Wenn alles gutging, war er in wenigen Stunden mit Vicky wieder zuhause.
Die Fahrt zum Flughafen verlief schweigsam. Richard fuhr. Äußerlich war er unbekümmert wie eh und je, aber innerlich war er vollkommen konzentriert und bereitete sich ruhig auf seine Aufgabe vor. Die erste Hürde würde sein, sich William vom Hals zu schaffen, ohne daß dieser seine Umgebung verwüstete. Richard hatte ernsthaft eine Zwangsjacke in Erwägung gezogen, aber wahrscheinlich wäre es doch besser, ihn einfach irgendwo einzusperren, wo er kein Unheil anrichten konnte.
Um keinen Verdacht zu erwecken, fuhr Richard zu dem kleinen Hangar, der Darcy Hotels gehörte. Sie hatten noch Zeit und von Wickham war weit und breit nichts zu sehen. Personen, die nichts in der Nähe der Hangars und Privatmaschinen zu suchen hatten, kamen nicht so ohne weiteres dorthin, Wickham war ein „angemeldeter Passagier" und durfte das Gelände betreten.
Richard sah sich unauffällig um, als er den Wagen parkte und mit William in das kleine Büro trat, wo schon Rob McMahon auf sie wartete, Darcys Chefpilot. Rob war nicht eingeweiht. Es kam ab und zu vor, daß er Gäste der Darcys durch die Lüfte kutschierte und er hatte keinen Grund zur Annahme, daß es heute anders sein würde. Die Männer schüttelten sich die Hand.
„Rob, machen sie die Maschine schon mal startklar, wir erwarten noch einen weiteren Gast und dann geht's los," sagte William. Sein Pilot nickte seinem Chef und dessen Gast zu und ging nach draußen. Vor dem Hangar hielt in diesem Moment eine Limousine, ein Mann mit einem Aktenkoffer stieg aus und betrat das Büro. William nickte bloß, nahm den Koffer entgegen und schon war der Mann wieder verschwunden. Richard grinste. Sein kleiner Cousin hatte offenbar auch so seine geheimen Quellen! Trotzdem mußte er ihn als nächstes loswerden. Und zwar bevor Wickham kam.
„William, gibt's hier ein Klo?" fragte und schaute ein bißchen gequält drein. William sah ihn stirnrunzelnd an. „Was, jetzt?"
„Ja, Mann. Der Kaffee, weißt du..."
William murmelte etwas unverständliches, nahm den Schlüssel an sich, der hinter der Tür hing und ging Richard voraus zur Toilette. Er schloß auf, ließ glücklicherweise den Schlüssel außen stecken und trat zurück. Zu seiner großen Überraschung fand er sich zwei Sekunden später auf dem Boden der Toilette wieder und ehe er sich aufrappeln konnte, wurde die Tür abgeschlossen.
„Sorry, Willyboy, aber es ist nur zu deinem Besten," sagte Richard.
„Richard, du Mistkerl! Laß mich sofort raus!" brüllte William und donnerte an die Tür. Aber Richard war schon wieder verschwunden und ignorierte die Flüche und Verwünschungen, die ihm sein Cousin hinterherschrie. Er hatte einen Job zu erledigen.
