Kapitel 2 - Kamillentee und Feuerwhiskey
November 1999
Das Pfeifen des Teekessels riss Hermione wieder aus der Erinnerung an diesen fernen Schultag im Büro des Schulleiters. Sanft legte sie das Notizbuch auf ihren Schreibtisch zurück und ging in die Küche.
Das feine Aroma von Kamille entspannte ihre Sinne, und Hermione ließ sich mit einer Tasse Tee in der Hand auf dem Sofa in ihrem Arbeitszimmer nieder. Als sie aus der Entfernung auf das Notizbuch blickte, konnte sie die Magie spüren, die sie zu ihm hinzog. Sie fragte sich, wann und wie die täglichen Unterhaltungen mit dem mysteriösen T ein solch wichtiger Teil ihres Lebens geworden waren.
Sie erinnerte sich an den geschäftsmäßigen Ton von Ts anfänglichen Antworten. Zu Beginn war er bei seinen Erwiderungen mit Ausnahme seiner Reaktion auf ihre verschiedenen Vorschläge, ihn anzusprechen, sehr formell gewesen. Sie fand es lustig, dass der Zauberer in seinen Antworten so verärgert klang. Der Buchstabe „T" musste für ihn eine wichtige Bedeutung haben! Sie lachte über ihre eigenen Gedanken.
Während der Sommerferien 1995 schrieb sie ihm nicht wieder, weil es kaum Gründe dafür gab. Sie nahm es sehr ernst, seine Anweisungen zu befolgen. Schließlich hatte er gesagt, sie solle das Objekt nur benutzen, wenn es unumgänglich war.
Und darüber hinaus war Hermione in diesem speziellen Sommer ziemlich beschäftigt gewesen. Als die heiße, beruhigende Flüssigkeit ihr langsam die dringend benötigte Entspannung verschaffte, erinnerte Hermione sich an ihre Korrespondenz mit Viktor Krum. Bei der Erinnerung an ihre kurze Romanze mit dem jungen Zauberer lächelte sie. Viele Mädchen hatten sie um ihre Liebschaft mit dem jungen Star beneidet; aber was Hermione betraf, war sie eher dankbar für das, was sie aus der kurzlebigen Beziehung lernen konnte. Es war für ihr fünfzehn Jahre altes Selbst eine unbezahlbare Lektion gewesen zu realisieren, dass das, was sie in einer Beziehung brauchte, weit mehr als physische Stärke und Erfolg in einem Beliebtheitswettbewerb waren.
Hermione nahm noch einen Schluck von ihrem Tee und sah wieder auf das Notizbuch. Sie hatte stets das Gefühl, dass „T" ihr keinen solch ausdruckslosen Blick schenken würde, wie sie ihn üblicherweise von den anderen jungen Zauberern jedes Mal erhielt, wenn sie eine Diskussion aufbrachte, bei der logisches Denken erforderlich war. Während ihrer vielen Gedankenaustausche hatte sie erfahren, dass T immer in der Lage war, Kommentare abzugeben, die ihr entweder Aufschluss gaben oder ihr Verständnis in ihren magischen Studien erweiterten.
Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie um Ts Hilfe nachgesucht hatte. Es war der Abend gewesen, an dem sie erfahren hatte, dass Dumbledore Hogwarts verlassen hatte, um die Schüler zu schützen, die sich Dumbledores Armee nannten. Sie erinnerte sich daran, mitten in der Nacht voller Sorge in ihrem Himmelbett gesessen zu haben. Sie fühlte sich für den Weggang des Schulleiters verantwortlich, da sie diejenige war, die diese Gruppe anfänglich initiiert hatte. Selbst mit dieser bösen Frau, Umbridge, im Kollegium hatte Hermione sich bis zu jenem Abend des Krieges wegen nie so viele Sorgen gemacht. Immer hatte sie darauf vertraut, dass Dumbledore in der Lage wäre, sie alle zu beschützen und sich um alle Probleme zu kümmern. Die Tatsache, dass nicht einmal Dumbledore dem Ministerium die Stirn bieten konnte und aus der Schule hatte fliehen müssen, offenbarte ihr ein völlig neues Bild des Krieges. Zum ersten Mal, seit sie von zu Hause weg- und in die Zaubererwelt gegangen war, fühlte Hermione sich ihres eigenen Verständnisses der Politik außerhalb von Hogwarts unsicher.
Das war der Zeitpunkt, an dem sie ihre erste Bitte um Hilfe an T geschrieben hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie im Licht ihres Zauberstabs in das Notizbuch gekritzelt und darauf gewartet hatte, dass die Worte im Papier verschwanden. Sie hatte nicht erwartet, sofort von ihm eine Antwort zu bekommen. Schließlich war es mitten in der Nacht, aber ein Teil von ihr geriet in Sorge, als sie nicht innerhalb weniger Minuten eine Antwort erhielt. Was wäre, wenn T ebenfalls verschwunden war … genau wie Dumbledore?
Hermione erinnerte sich, wie ihr das Herz geschwollen war, als sie etwa eine halbe Stunde später den warmen Schein zwischen den Seiten gesehen hatte. Sie war hocherfreut, Zeile für Zeile die Worte auf dem Papier erscheinen zu sehen. Verzweifelt las sie die Nachricht, als würde ihr ein Glas reinen Wassers nach der Durchquerung einer Wüste angeboten.
„Es gibt keinen Grund, dass Sie sich sorgen, Miss Granger."
Nach so vielen Jahren fühlte es sich immer noch so an, als könne sie die Nachricht vor sich sehen.
„Dumbledore ist ein mächtiger Zauberer, und er hat seine Gründe zu tun, was er heute getan hat. Konzentrieren Sie sich weiter auf Ihre Studien. Das sollte jetzt höchste Priorität für Sie und alle Ihre Freunde haben. Sie müssen sich vorbereiten, indem Sie so viel wie möglich lernen, solange Sie noch in Hogwarts sind. Möglicherweise oder auch nicht werden die Dinge in naher Zukunft besser. Denken Sie jedoch daran, Sie sind nicht allein.
T."
Seine Nachricht war nicht lang, dennoch hörte sie sich so gelassen und sicher an. Sein Ton beruhigte sie, gab ihr Sicherheit und spornte sie an. Eines aus dieser speziellen Nachricht schaffte es, ihr über die Jahre im Sinn zu bleiben: Sie war nicht allein.
Dies war der Anfang von vielen Nachrichten, die Hermione mit diesem mysteriösen Kontakt austauschte. Zu Anfang schrieben sie einander einmal in der Woche. Aber die Frequenz stieg unmittelbar, nachdem Dumbledore anscheinend von Professor Snape am Ende des folgenden Schuljahrs ermordet worden war. Hermione stürzte in eine solche Verwirrung, dass sie tagelang nicht schlafen konnte. Für Hermione waren die Mitteilungen, die sie von ihrem geheimen Kontakt erhielt, das einzige Helle, das sie in der Düsternis sah, in der alle Hoffnung mit dem Tod des alten Schulleiters verschwunden war.
Als sie mit Ron und Harry auf der Flucht war, tauschten sie fast täglich Nachrichten aus. Im Rückblick wusste Hermione, dass sie sich immer auf Ts Anweisungen verlassen hatte, wenn sie verloren waren. Sie konnte sich selbst nicht zugutehalten, das „Hirn des goldenen Trios" zu sein, wie die Medien sie nach dem Krieg portraitiert hatten. Sie wünschte, sie könne ihnen erzählen, dass sie die Jahre hindurch einen geheimen Mentor gehabt hatte. Wegen eines Versprechens, das sie T gegeben hatte, konnte sie ihnen dies jedoch nicht mitteilen. Sie hatte zugestimmt, ihre Kommunikation sogar nach dem Krieg vollständig vertraulich zu halten. Da sie nie in der Lage gewesen war, irgendetwas für ihn zu tun, dachte Hermione, sie könne zumindest die Wünsche ihres geheimen Kontaktes respektieren.
In der Tat bestand für sie nach dem Krieg keine Notwendigkeit mehr, Nachrichten auszutauschen, genau wie es keinen Anlass gab, die Geheimhaltung aufrechtzuerhalten. Aber ihre tägliche Kommunikation dauerte an. Hermione fragte T nie, weshalb er sich noch immer weigerte, ihr zu sagen, wer er wirklich war, weil ein Teil von ihr es nicht wissen wollte. Seine mysteriöse Identität faszinierte sie. In ihrer Fantasie wünschte sie, er hege die gleichen Gefühle, die sie für ihn empfand. Hermione verbrachte viele schlaflose Nächte damit, sich über die verschiedenen Möglichkeiten von Ts Identität Gedanken zu machen. Die logischste, jedoch beunruhigendste Möglichkeit, die ihr einfiel, war, dass er verheiratet war und vielleicht sogar Kinder hatte und sich ihr nicht in einer normalen Beziehung annähern konnte. Warum hörte er dann nicht auf, ihr zu schreiben? Konnte es sein, dass er sie aus irgendeinem Grund genauso wenig loslassen konnte wie sie ihn?
Bei dem Gedanken, sich mit einem verheirateten Mann einzulassen, errötete Hermione. Das wäre eine Beziehung, die selbst zu haben sie nicht gutheißen konnte. Sie atmete den Duft des Kamillentees tief ein und stand von ihrem Sofa auf.
Außer der offensichtlichen Schwärmerei, die sie für ihren geheimen Kontakt entwickelt hatte, gab es viele andere Gründe, weshalb Hermione kein Interesse daran hatte, mit Männern auszugehen. Sie hatte nicht gelogen, als sie Ron gesagt hatte, sie sei beschäftigt. Auf ihrem Schreibtisch befanden sich zwei große Stapel von Dokumenten. Einer war von der Arbeit und betraf einen schwierigen Fall, mit dem sie am Montag sich zu beschäftigen anfangen musste. Der andere Stapel, der viel höher als der Arbeitsstapel war, enthielt ihre Recherchen dazu, wie sie den Erinnerungszauber rückgängig machen konnte, den sie auf ihre Eltern geworfen hatte.
Im Ministerium zu arbeiten, gestattete Hermione, die neuen Bestimmungen besser zu verstehen, die die neue Zauberregierung betreffend des Missbrauchs von Magie an Muggeln eingeführt hatte. Nachdem sie bei mehreren Fällen im Strafverteidigungsteam gearbeitet hatte, realisierte sie schnell den Mangel an Milde in diesen neuen Gesetzen. Sie war sicher, dass der Gedächtniszauber, den sie bei ihren Eltern benutzt hatte, unter den neuen Standards nicht zulässig wäre. Aus Furcht vor den Konsequenzen ihres Handelns erzählte sie niemandem von ihren Recherchen. Stattdessen verwendete sie an den Wochenenden jede wache Minute darauf, nach einem Weg zu suchen, um die Erinnerungen ihrer Eltern wiederherzustellen.
Sie stellte den Tee neben der Schreibtischlampe ab, als sie sich an den Schreibtisch setzte. Es wurde spät. Sie hatte keine Energie mehr, um in ihre Recherchen oder in die Akten zu schauen, die sie von der Arbeit mitgebracht hatte. Der einzige tröstliche Gedanke war, dass es Zeit für ihren täglichen Austausch war. Mit einem Lächeln im Gesicht öffnete Hermione das Notizbuch, schrieb einige Absätze nieder und blätterte ruhig die Seite um. Mit einem warmen Leuchten lösten sich die Worte langsam zwischen den Seiten auf und ließen ihr nichts als Hoffnung zurück. Er würde ihre Nachricht bald beantworten, genau wie er es in den letzten paar Jahren jeden Abend getan hatte.
Er wünschte, es gäbe eine Flasche Feuerwhiskey im Schrank der kleinen Einzimmerwohnung. Als er an die nackten Wände um sich starrte, stieß Severus ein Knurren aus. Finde dich damit ab, Snape, sagte er tonlos zu sich selbst. Dies ist ganz und gar nicht schlimm. Warte, bis sie dich nach Azkaban schicken.
Aufgrund einer neuen Ermittlung, die das Ministerium eingeleitet hatte, war er seit über einem Monat in der kleinen Einzimmerwohnung eingeschlossen, die Gewahrsamszentrum genannt wurde.
„Das Aurorenbüro hat vor über einem Jahr meinen Namen reingewaschen." Er erinnerte sich daran, dass er dies einem Ministeriumsmitarbeiter, der eines Tages an seiner Tür stand, arrogant gesagt hatte.
Den jungen Mann vor seiner Tür kannte er als einen Gryffindor, der seinen Tränkeunterricht besucht hatte. Zuerst war Snape sicher, dass der Zauberer die Aufgabe nur übernommen hatte, um für all die wegen seiner schlechten Leistungen in der Schule abgezogenen Punkte Rache zu nehmen. Der junge Zauberer schien jedoch nicht stolz darauf zu sein, dort zu sein.
„Es tut mir wirklich leid, Professor Snape. Dies ist ein Antrag von einer anderen Abteilung. Das Aurorenbüro hat nichts damit zu tun. Und dass Sie Ihren Namen reingewaschen haben, hat auch …" Unbehaglich räusperte sich der junge Zauberer. „… hat auch nichts damit zu tun. Mein Team wurde angewiesen, hierher zu kommen und Sie abzuholen. Sie werden kommen und im Gewahrsamszentrum des Ministeriums bleiben müssen, während Sie auf Ihren Prozess warten"
Dieses Gespräch bildete den Anfang von Severus' einmonatigem Gewahrsam. Ihm wurde gesagt, dass ihm vor dem Verfahren ein Verteidiger zugeteilt würde, jedoch war anscheinend kein einziger Anwalt, der für das Ministerium arbeitete, in den letzten vier Wochen verfügbar gewesen.
Severus hatte das Gefühl, dass dies mehr als die Wiederaufnahme eines alten Falles war. Von dem, was er zwischen den Zeilen im Tagespropheten las – dem einzigen erlaubten Lesestoff in der Einrichtung – hatte er geschlossen, dass das neue Ministerium Machtkämpfe durchlief. Es schien, als suche eine unbekannte Gruppe von Individuen innerhalb der neuen Regierung nach Gründen, um das Aurorenbüro anzugehen. Es war nur sinnvoll, Severus strich sich mit einem blassen Finger über das Kinn, während er auf die Zeitungsschlagzeilen starrte, dass Severus Snape benutzt wurde, um ein Exempel zu statuieren.
Ihm war der Ernst seiner Lage lange klar, ehe er die Verzögerung beim Erscheinen seines Verteidigers bemerkte. Obwohl er seit dem Kriegsende nicht viel Kontakt zu Harry Potter gehalten hatte, wusste er, dass der junge Zauberer nicht einfach ohne jede Intervention zulassen würde, dass er weggesperrt wurde. Da er von dem jungen Zauberer aber kein Wort gehört hatte, fiel Severus nur eine Erklärung ein: Selbst Potter war sich seines anstehenden Prozesses nicht bewusst.
Der Gedanke, die Gryffindorprinzessin über seine aktuelle Lage zu unterrichten, indem er das geheime Notizbuch verwendete, ging Severus während dieser langen vier Wochen nur einmal durch den Kopf.
Welch eine Ironie in diesem Dilemma, dachte Severus bitter. Selbst als sie mitten im Krieg waren, hatte er nie daran gedacht, sie um Hilfe zu bitten. Trotzdem fand er sich völlig isoliert und hilflos, obwohl der Krieg vorüber war. Wenn der junge Zauberer, der ihn abholen gekommen war, nicht ein wenig Mitgefühl für seine Lage gehabt und ihn sein „Tagebuch" nicht hätte mitnehmen lassen, hätte er nicht einmal diese Möglichkeit.
Severus verwarf jedoch schnell den Gedanken, sie um Hilfe zu bitten. Sie sollte nicht in den sich abzeichnenden politischen Konflikt gezogen werden. Wenn er sie die ganze Zeit nicht wissen lassen konnte, wie viel sie ihm bedeutete, würde er sie wenigsten noch einmal schützen, indem er nicht um ihre Hilfe bat, sie nicht dazu brachte, sich um ihn zu sorgen, und ihr nicht seine wahre Identität mitteilte.
Ziellos ging der Zauberer auf und ab; sein Blick verweilte auf dem Notizbuch auf seinem Schreibtisch. Sie würde ihm gleich schreiben, wie sie es in den vergangenen paar Jahren immer jeden Abend getan hatte.
Er konnte sich nicht erinnern, wie viele Nachrichten sie ausgetauscht hatten. Aber er hatte immer diejenige in Erinnerung, die sie ihm geschrieben hatte, nachdem Dumbledore aus Hogwarts geflohen war, um „Dumbledores Armee" zu schützen.
„Lieber T, ich mache mir solche Sorgen."
Die Nachricht fand sich deutlich in seinem Kopf, als hätte er sie erst gestern gelesen.
„Es ist mein Fehler. Ich hätte Harry nicht ermutigen sollen, die Gruppe anzufangen und defensive Magie zu üben. Ich dachte, es sei der einzige Weg für uns, etwas praktische Erfahrung zu sammeln. Wussten Sie, dass diese schreckliche Umbridge uns nicht einmal erlaubt, in unserem VgddK-Unterricht Magie zu verwenden? Aber es war nie meine Absicht, dem Schulleiter Ärger zu verursachen. Was habe ich getan? Ich hatte nicht vor, Professor Dumbledore heute dazu zu bringen, Hogwarts zu verlassen. Was werden wir hier nur ohne ihn tun?
Ich war immer der Meinung, ich hätte genug gelesen und wüsste genug über die Zaubererwelt. Aber heute wurde mir klar, dass mein Verständnis völlig ungenügend ist. Wie wird sich dieser Krieg auf uns alle auswirken? Ich traue dem Tagespropheten nicht. Unsere Lehrer sagen uns nicht, was außerhalb der Schule passiert. Und ich habe keine Zaubererfamilie, die mir eine Eule schickt und mich wissen lässt, was vorgeht. Lieber T, ich fühle mich so alleine …"
Severus erinnerte sich daran, dass er ihre Nachricht wieder und wieder gelesen hatte, ehe er ihr antwortete. Aus irgendeinem Grund dachte er nicht an die Gryffindor mit den buschigen Haaren in einem anderen Winkel des Schlosses, als er ihre Nachricht las. Stattdessen dachte er dauernd an ein Gespräch, das er mit Lily genau zu der Zeit geführt hatte, als der Dunkle Lord seine Rekrutierungsbemühungen unter den jungen Zauberern in Hogwarts begonnen hatte.
„Sev." Eines Tages hatte Lily ihn im Flur gestellt. „Ist es wahr? Man sagt, dass du dich mit den Dunklen Künsten abgibst?"
„Was ist verkehrt an den Dunklen Künsten? Sie sind nur eine weitere Form fortgeschrittener Magie", knurrte Severus als Antwort. „Deine Freunde fürchten den Dunklen Lord, weil ihre beschränkte Intelligenz nicht zulässt, dass sie die Macht der Dunklen Künste begreifen", spie er mit zusammengebissenen Zähnen aus. Seit er sie in seinem umnebelten Zorn diesen schrecklichen Namen genannt hatte, hatte Lily sich von ihm ferngehalten. Sie machte ihn wütend, wenn sie anfing, über ihre neuen „Freunde" zu reden.
„Nein, Sev." Lilys Stimme war voller Besorgnis. „Bitte, schließ dich ihnen nicht an, wenn du mich noch immer als deine Freundin siehst."
„Ich wusste nicht, dass du mich immer noch als einen Freund betrachtest", antwortete er kalt.
„Natürlich tue ich das, Sev." Lilys Augen weiteten sich überrascht. „Du bist immer für mich da gewesen, in all den Jahren. Weißt du nicht, wie sehr ich es schätze, dass du mir die Zaubererwelt gezeigt hast, bevor ich nach Hogwarts gekommen bin? Ohne deine Hilfe wäre ich so alleine gewesen …"
„Zumindest, bis du Potter nähergekommen bist." Grob fiel er ihr ins Wort und wurde noch wütender, als Lily keine Antwort einfiel.
Severus fragte sich oft, was passiert wäre, wenn er Lily nicht mit diesem schrecklichen Namen genannt hätte. Hätten sie Freunde bleiben können? Hätte er auf sie gehört und wäre kein Todesser geworden?
Es war tatsächlich zu lange her. Aber als er die Nachricht von Hermione Granger sah, spürte er eine Welle seltsamer Emotionen. Lily hatte gesagt, dass sie sich nie einsam gefühlt hatte, weil er immer für sie da gewesen war. Er hatte die Gelegenheit gehabt, diese Freundschaft fortzusetzen. Konnte er einen Weg finden, sich an Lily zu erinnern, indem er jemand anderem dieselbe Hilfe anbot?
Dies war das erste Mal, dass er eine bestätigende Botschaft an Granger schrieb. Als er die Nachricht noch einmal durchlas, dachte er, sie sei völlig untypisch für ihn. Er konnte sich nicht vorstellen, der Gryffindor-Besserwisserin gegenüber etwas Derartiges auszusprechen. Das Notizbuch bot ihm jedoch eine weitere Persönlichkeit. Er musste nicht er selbst sein, wenn er ihr schrieb, und andererseits war es ihm gestattet, einmal wirklich er selbst zu sein ohne die Notwendigkeit, die Masken eines bedrohlichen Professor und eines Doppelagenten zu tragen.
Zu Beginn ihrer Korrespondenz hatte Severus den Austausch als bloße Pflicht betrachtet. Bald wurde er jedoch für ihn zu einem Weg, seine Sorgen und Meinungen auszudrücken. Und als er sich in den Botschaften langsam öffnete, lernte er zu seiner Überraschung schnell eine neue Seite an dem Mädchen namens Hermione Granger kennen.
Er hatte erwartet, während ihres Routineaustauschs an dem Tag, nachdem er Dumbledore in den Tod geschickt hatte, irgendwelche tröstenden Worte liefern zu müssen. Er hatte von ihr eine Nachricht voller Hass gegen den Verräter namens Severus Snape erwartet. Zu seiner Überraschung enthielt ihre Mitteilung jedoch nichts von dem, was er erwartet hatte:
„Ich kann noch immer nicht glauben, dass Snape Dumbledore getötet hat. Ich weiß, dass er es getan hat, weil Harry ihn mit seinen eigenen Augen gesehen hat. Aber ich glaube einfach nicht, dass es so simpel sein kann. Dumbledore vertraute ihm mehr als sonst jemandem. Ich kann nicht glauben, dass Dumbledore so leicht zu täuschen war. Könnte mehr hinter Snapes Motiven stecken? Ich weiß, ich sollte ihn hassen, wie mir alle anderen gesagt haben. Aber ich glaube, er tut mir eher leid, als dass ich ihn hasse. Er hat jemanden verraten, der ihm so viele Jahre lang vertraute und ihn gern hatte. Wir alle wissen, dass er das nicht von Voldemort bekommen wird. Vielleicht hat er für diesen kurzen Moment den Verstand verloren? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie leid es ihm eines Tages tun wird, wenn er auf die Ereignisse der vergangenen Nacht zurückblickt. Ich wünschte, ich könnte mit ihm reden und verstehen, was wirklich vorgeht …"
Severus erinnerte sich daran, wie sein Herz beim Lesen ihrer Nachricht geflattert hatte. Einen kurzen Moment lang hatte er gedacht, er bilde sich die Worte vor sich nur ein. Nie hatte er erwartet, dass jemand seine Motive in Frage stellte. Der simple Zweifel in ihren Worten schenkte ihm die Versöhnung, auf die er nicht zu hoffen gewagt hatte.
Nachdem er die Nachricht eine ganze Weile angestarrt hatte, blätterte er die Seite um, um die Worte verschwinden zu lassen, und schrieb seine sehr kurze Antwort nieder.
„Was kann ich sagen … Ihr Mitgefühl ist erstaunlich."
Danach konnte er kein weiteres Wort schreiben. Daher blätterte er um und beobachtete, wie die Nachricht verschwand. Sie würde nicht verstehen, was er mit diesen Worten meinte. Wahrscheinlich würde sie denken, dass er wie all die anderen Ordensmitglieder reagierte, die den Verlust Dumbledores betrauerten und wünschten, sie könnten Severus Snape Glied um Glied in Stücke reißen.
Dies war für Severus der Wendepunkt während ihres regelmäßigen Austauschs. Langsam ertappte er sich dabei, dass er das Mädchen viel lieber hatte, als ein Professor seine Schülerin oder ein Spion seinen Kontakt haben sollte. Während des letzten Kriegsjahres dachte er oft an sie. Ihre täglichen Mitteilungen waren der einzige Hoffnungsschimmer, den er in der Dunkelheit um sich sah. Jeden Abend, wenn er einige Absätze im Notizbuch auftauchen sah, wurde er an die Zukunft erinnert, eine Zukunft voller Möglichkeiten für sie und eine Zukunft, die für ihn unvorstellbar war.
Nach dem Krieg versuchte er es, konnte aber nicht aufhören, jeden Abend ihre Worte auf dem magischen Papier erscheinen sehen zu wollen. Es war wie eine Sucht, die er nicht abschütteln konnte. Daher schrieb er ihr zurück, wenn er ihre Botschaften sah.
Während seines Lebens hatte er nie viele Freunde gehabt, und das Ende des Kriegs veränderte dies nicht. Schließlich beendete er seine Karriere als Lehrer, indem er McGonagall einfach ein Stück Papier mit seiner Kündigung schickte, und fing an, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, beliebige Tränkebestellungen von St. Mungo anzunehmen. Es war nicht viel Geld, aber genug für ihm, um auszukommen. Er brauchte keine zwischenmenschlichen Interaktionen, solange er jeden Tag ein paar Worte mit ihr wechseln konnte.
Das würde sich jedoch bald ändern, falls das Schicksal, das ihn erwartete, Azkaban war. Severus schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Wie sollte er ihr all diese Dinge erklären, wenn er gehen musste? Wie würde er zurechtkommen, wenn er ihre Worte nicht mehr sehen konnte? Würde es sie überhaupt kümmern, wenn er ihr nicht mehr schreiben konnte?
Langsam öffnete er die Augen und stieß ein Seufzen aus. Das war es, weshalb er ein Glas Feuerwhiskey brauchte. Er brauchte die goldene Flüssigkeit, um Entkommen aus seiner hoffnungslosen Realität zu finden.
Ein warmes Leuchten, das aus dem Notizbuch strahlte, grüßte ihn schweigend. Wie vorhersehbar, murmelte er vor sich hin, wissend, dass er ihr neurotisches Benehmen vermissen würde. Severus setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete das Notizbuch. Seine Lippen verzogen sich langsam zu einem kleinen Lächeln, als ihr vertrauter Gruß in Sicht kam.
