Kapitel 14 – Das Licht
„Liebe Hermione,
Vergib mir. Dieses Geständnis kommt zum schlimmsten Zeitpunkt, den man sich vorstellen könnte. Wegen all der Gelegenheiten, die ich verpasst habe, bin ich selbst schuld.
Aufgrund der Worte, die mir vorhin in Deinem Büro herausgerutscht sind, musst Du es bereits herausgefunden haben. Also ja, ich bin es gewesen, Severus Snape, der die all diese Jahre geschrieben hat.
Es gibt viele Gründe, derentwegen ich Dir die Wahrheit nicht eher gesagt habe, aber alle haben sie etwas mit der Angst zu tun, dass die Wahrheit mich eine liebe Freundin kosten könnte, die so viel mehr als ein geheimer Kontakt in Kriegszeiten geworden ist. Ja, ich war selbstsüchtig. Das Leben ist ironisch, nicht wahr? Hätte ich eher den Mut gehabt, es Dir einzugestehen, könnte ich noch immer eine Chance haben zu behalten, was zu verlieren ich am meisten fürchte. Aber jetzt … habe ich alle meine Chancen verspielt? Du hast jedes Recht, auf mich wütend zu sein, und ich bedauere zutiefst, dass ich Dich nicht persönlich um Verzeihung bitten kann.
Ich wünschte, ich könnte das Notizbuch mitnehmen, wenn die Dementoren in ein paar Minuten ankommen. Ich wünschte, ich könnte alles noch einmal für uns tun, falls ‚uns' je eine Option war.
Immer Dein
SS"
Beinahe konnte sie seine Samtstimme in den Ohren klingen hören. Stille Tränen strömten ihr die Wangen herab; aber Tränen konnten Hermiones Gemüt nicht aufhellen.
Sie schwärmte für ihren Lehrer … Sie hegte Fantasien ihren geheimen Kontakt betreffend … Sie verliebte sich in den Zauberer, den nur wenige wirklich verstanden. Aber letztlich waren sie alle dieselbe Person! Hermione war überglücklich – sie war die ganzen Jahre in denselben Mann verliebt gewesen.
Aber dann …
Er hätte ihr die Wahrheit erzählen können … Nach dem Krieg hatte er so lange Zeit gehabt, es ihr mitzuteilen … Er hätte einfach ihre Fragen beantworten können. Hermione war wütend – wie konnte er ihr Vertrauen so hintergehen?
Und dann las sie die Nachricht erneut und spürte, wie ihr Herz in eine Million Teile zerbrach. Was wäre, wenn er das Notizbuch nicht mitnehmen konnte … Was, wenn sie ihn nicht retten konnte … Was, wenn sie keine gemeinsame Zukunft haben konnten … Die Sorge und die Angst waren erstickend.
Warum musste Liebe so sehr wehtun?
Die Abläufe, die die Wachen Severus im Ministerium durchlaufen ließen, waren überhaupt nicht kompliziert. Wie der Zauberer erwartet hatte, nahmen sie ihm innerhalb von Minuten seinen Zauberstab weg, ließen ihn sich in eine gestreifte Uniform umziehen, legten einen Ortungszauber auf seine Beine und warfen einen Fesselzauber auf seine Handgelenke. Ihre nächste Ankündigung kam für den Zauberer als leichte Überraschung.
„Entsprechend eine Klausel, die das Ministerium aus humanitären Gründen am Ende des Zweiten Zaubererkrieges eingeführt hat, ist es Gefangenen erlaubt, drei persönliche Gegenstände, die keine magischen Eigenschaften besitzen, für ihren Aufenthalt im Gefängnis von Azkaban mitzunehmen", las ein alter Wachmann pflichtbewusst von einem Stück Pergament vor.
„Jetzt mach schon." Eine junge Wache schob den älteren Mann beiseite und bellte: „Wenn du mich fragst, ist das Zeitverschwendung. Warum sollten wir uns die Mühe machen, ihm die Gelegenheit zu geben, bei ihm zuhause vorbeizuschauen, als ob er immer noch bei Sinnen sein würde, nachdem er ein paar Tage bei den Dementoren herumgehangen hat. In ein paar Wochen ist er nicht mehr genügend zurechnungsfähig, um zu wissen, was er mitgenommen hat! Ich will dies so schnell wie möglich hinter mir haben. Die Dementoren könnten ihn direkt vom Ministerium mitnehmen, wenn ich was zu sagen hätte …"
Severus ignorierte die Tirade der zweiten Wache und wusste sofort, was er tun musste, wenn er die Möglichkeit bekam, bei sich zuhause vorbeizugehen. Wortlos folgte er den beiden Wachen und legte seine Hände auf einen Portschlüssel in Form einer kaputten Gießkanne.
„Drei Gegenstände!", bellte der junge Wachmann wieder, als sie in Severus' schäbigem Wohnzimmer ankamen. „Wähle sorgfältig, Snape. Jeder Schokoriegel zählt als einer", kicherte er zu der anderen Wache. „Wir werden sehen, wie der Tränkemeister dieses knifflige kleine Problem löst. Leider glaube ich, dass nicht einmal der Honigtopf genügend Schokolade für einen Fünfzig-Jahre-Aufenthalt in Gesellschaft der Dementoren vorrätig hat."
Severus verdrehte die Augen – wann hatte das Ministerium angefangen, Schlägertypen als Wachen einzustellen?
„Lass ihn in Ruhe." Der ältere Mann schien bezüglich ihrer Aufgabe anderer Meinung zu sein. Er richtete seinen Zauberstab auf Severus' Handgelenke und löste die Fesseln leicht. „Die Dementoren werden bald hier sein. An diesen garstigen Kreaturen ist nichts Lustiges." Er warf seinem Kollegen einen strengen Blick zu. „Mr. Snape", er warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr, ehe er den Zauberer ansprach, der einer unangenehmen Zukunft entgegensah. „Sie haben wahrscheinlich etwa zehn Minuten, um Ihre Sachen zusammenzusuchen. Wie er sagte", seufzte er, „drei Gegenstände."
Severus nickte dem alten Wachmann knapp zu und ging in sein Arbeitszimmer. Nachdem er einen kurzen Flur durchquert hatte, warf er sorgsam einen Blick zurück und stellte fest, dass die beiden Wachen intensiv den dunkler werdenden Himmel vor dem Wohnzimmerfenster beobachteten. In dem Wissen, dass er keine Zeit zu verlieren hatte, ging Severus mit einigen langen Schritten zu seinem Schreibtisch. Er zog das ledergebundene Tagebuch mit einem Gedanken im Sinn hervor – er schuldete ihr eine lang überfällige Entschuldigung. Was am Morgen vorgefallen war, machte ihm nur allzu klar: Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen, sein Geständnis aufzuschieben. Mit zu einer dünnen Linie zusammengepressten Lippen nahm Severus seine Feder und beeilte sich mit seiner Nachricht. Er musste sie die Wahrheit wissen lassen, ehe die Dementoren seinen Verstand zu beeinflussen begannen. Als er zum letzten Satz kam, spürte er einen plötzlichen Abfall der Temperatur um sich herum. Er stieß ein Seufzen aus und betrachtete den weißen Nebel seines Atems, der sich in dem dunkler werdenden Zimmer auflöste.
„Verdammt, es ist kalt! Die Zeit ist um, Snape!" In der Stimme der jungen Wache lagen offensichtlicher Ärger und Angst. „Sie sind da für Sie!"
Schnell beendete Severus den letzten Satz und schloss das Notizbuch. Mit zusammengekniffenen Augen beschloss er, sein Glück zu versuchen.
Am Kamin hatten die beiden Wachen hatten jeder die Arme um sich geschlagen, als Severus in das Wohnzimmer zurückkam. Der junge Wachmann lachte bellend, als er bemerkte, was der Zauberer aus seinem Arbeitszimmer geholt hatte. „Meinst du das ernst, Snape? Kein einziger Schokoladenriegel? Du nimmst ein Buch, eine Feder und eine Tintenfass mit nach Azkaban?"
„Ein Notizbuch", verdeutlichte Severus schlicht und öffnete das Tagebuch, um ihnen die leeren Seiten zu zeigen. „Ein neues. Damit ich meine Gedanken niederschreiben kann, wenn ich endlich etwas Frieden und Ruhe bekomme."
Wieder lachte der junge Wachmann. „Gedanken? Das ist absurd, Snape. Du glaubst, du hast noch Gedanken übrig, wenn du mit den Dingern da draußen herumhängst?" Er deutete in den dunkelgrauen Himmel draußen.
Severus unterdrückte ein Schaudern, als seine Augen vier Dementoren erblickten, die vor dem Fenster schwebten.
„Wir müssen noch nach magischen Eigenschaften schauen", bedeutete der ältere Wachmann seinem jungen Kollegen.
„Was könnte mit diesen Dingen nicht stimmen?", schnaubte der junge Mann. „Ich sage, lass ihn uns einfach übergeben. Ich könnte jetzt wirklich eine Tasse heißen Kakao brauchen. Es ist eiskalt!"
„Meinetwegen, in Ordnung." Der ältere Wachmann zuckte mit den Achseln. Er holte einen kleinen Beutel hervor, damit Severus sein Notizbuch, die Feder und das Tintenfass einpacken konnte. Dann öffnete er die Tür und verzog den Kreaturen gegenüber, die über der Straßenecke schwebten, das Gesicht. „Hinaus mit Ihnen, Mr. Snape", befahl er grimmig.
Severus holte schaudernd Luft, zeigte aber keine Emotionen. Ruhig ging er zur Tür hinaus zu den Dementoren. Er hörte, wie sich die Tür hinter ihm schnell schloss. Ehe er sich umdrehen konnte, um hinzusehen, umzingelten ihn die vier Dementoren. Er spürte die Kälte bis in seine Knochen vordringen, als die Kreaturen ihm immer näherkamen. Und dann, ohne Vorwarnung, wurde er in ein eiskaltes schwarzes Loch gesaugt.
Fast verlor er das Gleichgewicht, als er auf dem unebenen steinernen Boden abgesetzt wurde. Sein Magen rebellierte heftig, als der entsetzliche Geruch von Tod und Verzweiflung in seine Nasenlöcher drang. Er blinzelte ein paarmal, um seine Augen an das trübe Licht zu gewöhnen, und stellte fest, dass er vor einem langen Korridor stand. Beide Seiten des Durchgangs säumten vergitterte Türen, und flackernde Kerzen schwebten in den Torbögen. Severus brauchte sich nicht herumzudrehen, um zu wissen, dass die Dementoren anwesend waren; kalter Schweiß begann seine Schläfen hinabzurinnen, als er einen nicht ersichtlichen Stoß von von hinten spürte. Er biss die Zähne zusammen, hielt den kleinen Beutel fester, der sein Notizbuch enthielt, und trat einen Schritt vorwärts, um den Korridor zu betreten.
Das düstere Kerzenlicht verschaffte ihm kaum ein Gefühl für die Richtung. Während er den Gang entlangging, begannen die gespenstisch stillen Zellen sich zu regen. Zuerst gab es nur Geflüster und Gemurmel, aber bald begannen sich Schritte von den Rückseiten der Zellen den Türen zu nähern. Und dann stieß plötzlich eine rüde Stimme einen Schrei aus: „Snape! Verräter! Ja! Endlich! Willkommen in der Hölle!"
Severus konnte nicht sagen, wer genau es war, der ihn erkannt hatte, aber es war nicht schwer zu erraten – die in Azkaban gefangenen Todesser mussten alle auf diesen Tag gewartet haben. Entlang der Mauern brach ein Aufruhr aus. Schmutzige Hände schossen aus den vergitterten Türen hervor und streckten sich aggressiv von den halb-zurechnungsfähigen Menschen zu dem neu angekommenen Gefangenen. Der Lärm lockte eine weitere Bande Dementoren an. Ihre Ankunft wurde von einem Wirbelwind angekündigt, der durch den Korridor fegte. Mehrere Kerzen wurden ausgeblasen. Eis begann sich auf einigen der Gittertüren zu bilden. Die Rufe und Schreie aus den Gefängniszellen wurden leicht gedämpft, während die Lufttemperatur abfiel. Severus blinzelte ein paarmal verzweifelt, als er spürte, dass sein Bewusstsein langsam weggesaugt wurde. Trotz des schlechter werdenden Lichts schienen die Dementoren in Eile zu sein. Severus kämpfte um sein Gleichgewicht, als er einen starken Stoß von hinten spürte. Ein lautes Krachen erschreckte ihn in seinem halbbewussten Zustand. Eine Tür entlang des Korridors war aufgeschwungen und ließ die Zelle erkennen, die für ihn bestimmt war.
Aus der Dunkelheit hinter ihm ergriff eine knochige Hand die Schulter des Zauberers und schob ihn in den hinteren Bereich der Gefängniszelle. Die steinerne Schwelle kollidierte mit seinen Knöcheln, und Severus stolperte nach vorn. Nicht in der Lage, seinen Sturz abzufangen, schlug der Kopf des Zauberers hart auf dem Steinboden auf. Die Gittertür schlug hinter ihm zu, als er der eiskalten Dunkelheit nachgab.
„Severus, bitte." Der alte Schulleiter bettelte, unausgesprochene Worte blinkten in seinen Augen.
„Aber ich will es nicht tun, Albus." Severus runzelte die Stirn. Er konnte nicht glauben, dass er diese Worte gerade vor einer Gruppe von Todessern geäußert hatte, die vor dem Geländer des Astronomieturms Wache standen. Im Hinterkopf wusste Severus, dass er nicht weitermachen konnte, wie er es geprobt hatte, aber konnte sich selbst nicht dazu bringen, seinen Zauberstab zu heben. „Ich habe noch nie jemanden umgebracht", murmelte er vor sich hin. „Und ich will dich nicht töten, Albus!" Er sah direkt in die klaren blauen Augen des alten Mannes auf. „Du verlangst zu viel von mir. Bitte, Schulleiter!" Severus hörte in seinen eigenen Worten die Verzweiflung. „Ich will das nicht mehr machen!"
„Aber du hast keine Wahl!" Mehrere Stimmen hallten um ihn herum.
Severus sprang schnell herum und fand Narcissa Malfoy, Bellatrix Lestrange und Harry Potter vor, die ihn zornig anknurrten. Rote Funken schimmerten in ihren Augen, genau wie jene in den roten, geschlitzten Augen des Dunklen Lords.
„Du hast den Eid geleistet", zischte Narcissa.
„Du bist ein Verräter", höhnte Bellatrix.
„Du hast meine Mutter getötet!", bellte Potter.
„Du bist ein Versager." Dumbledores kalte Stimme kam von hinten.
„Nein!" Severus trat einen Schritt zurück und zielte mit seinem Zauberstab auf die Zauberer und Hexen. „Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe mein Bestes versucht! Aber ich will niemanden töten. Ich will damit nichts mehr zu tun haben!"
„Das hättest du gerne." Bellatrix lachte boshaft.
Er war in eine Ecke zurückgewichen, als vier eiskalte Hände ihn am Hals und am Kragen packten und ihm einen Kälteschauer den Rücken hinunterjagten. Er fühlte sich, als sei er von der furchtbaren Kälte gelähmt, nicht in der Lage, einen Ton von sich zu geben.
Plötzlich erschien aus dem Nichts ein warmes Leuchten. Es war ein sanftes Licht, aber es brachte eine unglaubliche Wärme mit sich. Ein Schatten in Gestalt einer Hexe schob sich zwischen Severus und die anderen Zauberer und Hexen.
„Lasst ihn in Ruhe!"
Severus erkannte die Stimme sofort – sie gehörte der unerträglichen Besserwisserin, der furchtlosen Gryffindorprinzessin: Es war Hermione.
Die anderen vier Schatten stießen zornige Fauch- und Knurrlaute aus, aber keines ihrer Worte hörte sich menschlich an. Hermione hob die Hand und murmelte einen Zauber. Ein helles Licht schoss aus ihrem Zauberstab direkt auf die vier schattenhaften Gestalten und ließ sie in die Luft fliegen und wie Dementoren in ihren zerfetzten schwarzen Umhängen davontreiben.
Severus atmete taumelnd aus und griff nach der junge Hexe vor sich. Langsam drehte sie sich zu ihm um, als seine Finger ihre weichen Locken berührten.
„Severus", lächelte sie durch ihre Tränen. „Ich sorge dafür, dass du sicher bist."
Ihre wenigen, simplen Worte ließen die Kälte bersten, die Severus gelähmt hatte. Der Zauberer spürte eine wundervolle Woge von Wärme, die sich tief durch sein Innerstes ausbreitete. Er schluckte schwer und stieß ein erleichtertes Seufzen aus. Er streckte die Hände aus und hoffte, sie in seine Arme ziehen zu können. Aber ehe er die Arme um sie schlingen konnte, verschwand sie wie eine Seifenblase.
„Nein!" Der Schrei erstarb in seiner Kehle. Plötzlich begann der Boden unter ihm nachzugeben und Severus geriet ins Fallen …
Erschrocken wachte Severus auf. Er blinzelte ein paarmal in der Dunkelheit und realisierte, dass sich sein Gesicht noch immer auf dem kalten Boden befand. Aber als er versuchte, seine Glieder zu bewegen, bemerkte er, dass der Fesselzauber verschwunden war. Er stieß sich vom Boden ab, musste jedoch schnell die Augen schließen, da ihn eine Welle von Schwindel überkam. Als er die Augen erneut öffnete, bewegte er langsam seinen Körper an die Seite der Zelle und lehnte sich gegen die kalte Steinwand. Ein schneller Blick um sich herum lieferte ihm ein Bild dessen, woraus seine Welt in den nächsten fünfzig Jahren bestehen würde. Es war noch sehr dunkel in der Gefängniszelle; das flackernde Kerzenlicht aus dem Gang gab ihm gerade genug Helligkeit, um die Ausstattung zu sehen, die zur Zelle gehörte: Es gab eine schmale Pritsche als Bett, die direkt am hinteren Ende stand, und in der gegenüberliegenden Ecke eine Toilette. Angeekelt drehte Severus den Kopf und ließ seine Augen auf den verrosteten Gittern ruhen. Ein kleines Tablett mit einem Glas Wasser und einem Stück Brot waren durch ein Loch geschoben worden. Angesichts seines „Abendessens" verdrehte er die Augen und fragte sich, ob er jemals Appetit darauf entwickeln würde.
Die Zelle war genauso kalt wie die Halle, wenn nicht schlimmer. Aber seltsamerweise empfand Severus ein Gefühl von Wärme neben sich. Bei einem schnellen Blick nach unten bemerkte er den Beutel, den die Ministeriumswache ihm gegeben hatte. Mit zitternden Fingern öffnete er den Beutel rasch und holte tief Luft, als er das warme Leuchten seines ledergebundenen Notizbuchs strahlen sah.
Er wusste nicht, wie lange er da gesessen hatte, das Notizbuch fest in den Händen hielt und die Wärme genoss, die von dem sanften Leuchten ausstrahlte. Er fürchtete sich davor, was er auf der Seite sehen würde. Endlich öffnete Severus mit zitternden Händen den Umschlag. Er schloss die Augen, nachdem er die erste Zeile gelesen hatte, und spürte eine starke Welle von Gefühlen durch seinen Sinn rauschen. Dann sah er wieder nach unten und sog jedes Wort auf der Seite ein.
„Lieber Severus,
Du hättest es mir früher sagen können und sollen. Auch wenn ich nicht sagen kann, dass ich über den Zeitpunkt dieser Enthüllung/Entdeckung erfreut bin, ist das wahrscheinlich das Letzte, das ich im Sinn habe.
Es gibt nur Eines, das ich jetzt absolut wissen muss: Wie geht es Dir? Und kannst Du das Notizbuch mitnehmen? Ich weiß, die Chance ist groß, dass ich nichts von Dir hören werde, falls die Nachricht Dich nicht erreichen kann. Ich weiß nicht, wie ich mit dem ‚Nicht-Wissen' umgehen soll, besonders jetzt, da ich bereits ‚zu viel' von Dir weiß.
Schreibe mir zurück, wenn Du kannst. Wenn nicht … ich weiß nicht … Ich werde an Dich denken.
Hermione"
Nachdem er die Botschaft mehrere Male gelesen hatte, stieß er ein Seufzen aus. Jedes Mal, wenn er die Worte las, kehrte eine kleine Menge Hoffnung in sein Herz zurück. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem kleinen Beutel neben sich zu, dann zog er sorgsam seine Feder und das Tintenfass hervor. Es war ein glücklicher Umstand, dass das Fässchen bei seinem Fall nicht zerbrochen war. Zögernd blätterte er die Seite um, da er sich von ihrer Botschaft nicht trennen wollte. Und er bereute es sogleich, als er die Seite umblätterte – der Raum fühlte sich ohne das warme Leuchten ihrer Botschaft merklich kälter an.
Die Nachwirkungen, den Dementoren ausgesetzt gewesen zu sein, wurden schnell deutlich. Severus fand es extrem schwierig, auch nur seine Feder zu halten. Er versuchte sein Bestes, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu halten und schrieb seine Antwort nieder.
„Ja, ich habe das Notizbuch. Es ist sehr kalt. Aber sonst geht es mir gut."
Er hielt mit seiner Feder inne und konnte nicht weitermachen – er würde mehr Zeit brauchen, um sich zu erholen. Mit einem Seufzen schloss er die Augen und blätterte in dem Wissen, dass die Worte schnell in eine unsichtbare Dimension verschwinden würden, die Seite um. Er fragte sich, wann er eine Antwort bekommen und die Wärme wieder spüren würde. Zu seiner größten Überraschung kehrte das Leuchten fast sofort zurück.
„Welch eine Erleichterung", schrieb sie.
„Ich war krank vor Sorge. Ich werde Dich über unsere Fortschritte auf dem Laufenden halten. Kingsley ist in Sicherheit. Und ich habe einige Ideen, um Warringtons Plänen auf den Grund zu gehen. Es mag eine kleine Weile dauern. Also halte durch. Ich hole dich raus. Ich verspreche es."
Die Mundwinkel von Severus' dünnen Lippen hoben sich zu einem kleinen Lächeln; sein Herz war wieder voller Hoffnung.
Der Tag nach Severus' Prozess war trüb – die Sonne war selbst in den Nachmittagsstunden nirgendwo in Sicht. Aber das Wetter passte hervorragend zu Hermiones Stimmung. Sie hatte sich am Abend zuvor in den Schlaf geweint, nachdem sie Severus die Nachricht mit ihrem Versprechen geschickt hatte. Aber in der Realität hatte sie lediglich eine Theorie, nach der sie vorgehen konnte. Da endlose Ängste und Sorgen ihren Verstand umnebelten, brauchte Hermione dringend eine ruhige Ecke für sich.
Da sie wusste, dass die Schüler nach dem Mittagessen alle in ihre Klassenzimmer zurückgekehrt waren, wagte sich die junge Hexe aus dem Schloss hinaus auf die leeren Ländereien und fand ihren stillen Rückzugsort am Schwarzen See. Den ganzen Morgen hatte sie mit McGonagall und Luna gearbeitet und ihre Vorschläge an Kingsley geschickt. Alles, was sie jetzt tun konnte, war abwarten und die Wunde tief in ihrem Herzen fern von neugierigen Auge pflegen.
„Warum versteckst du dich hier und weinst?" Luna Lovegoods sanfte Stimme lenkte die Aufmerksamkeit der jungen Hexe von dem tiefen, dunklen See weg.
„Ich verstecke mich nicht … oder weine." Schnell wischte Hermione mit dem Handrücken die Tränen weg.
„Bist du sicher?" Luna setzte sich neben Hermione. „Du bist nicht besonders gut im Lügen."
„Stimmt." Hermione nickte seufzend. „Darin bin ich nicht gut, und auch in vielen anderen Dingen nicht. Ich schätze, ich bin einfach zu dumm, um gewisse Dinge zu verstehen."
„Dumm? Du?" Luna stieß ein Lachen aus. „Ich bin es nur gewöhnt, Worte wie brillant, klug, tapfer und optimistisch im Zusammenhang mit dir zu hören. ‚Dumm' mag auf die Jungs passen. Aber du? Nein, ich finde das schwer zu glauben."
„Luna." Hermione spürte plötzlich das dringende Verlangen, mit einer Freundin zu reden; und Lunas Anwesenheit hätte nicht passender kommen können. „Kann ich dich etwas fragen?"
„Sicher, wenn ich die Antwort weiß." Luna sah fröhlich strahlend auf den See.
„Sagen wir, es gibt diesen Menschen, der dich schon sehr lange gernhat, und du erwiderst dieselben Gefühle, würdest du ein großes Geheimnis vor ihm bewahren?"
„Das hängt davon ab, was das Geheimnis ist." Luna warf einen Kieselstein in den See, der mit einem leisen Geräusch ins Wasser sank. Luna zuckte mit den Schultern.
„Ist das wichtig? Wenn du jemandem vertraust, würdest du dann nicht immer die Wahrheit sagen? Funktioniert so nicht Liebe?"
Luna hob die Brauen und warf Hermione einen neugierigen Blick zu. „Hmm … ich hatte nicht erwartet, dass dies etwas mit Liebe zu tun hat." Sie runzelte die Stirn. „Ich bin bestimmt nicht geeignet, um als Expertin in der Liebe zu gelten." Die blonde Hexe blinzelte ein paarmal zum See. Einen Augenblick später sagte sie mit verträumter Stimme: „Menschen machen Fehler, wenn sie mit ihrem Herzen statt mit ihrem Kopf denken", seufzte sie. „Mein Vater fühlt sich immer noch schlecht aufgrund dessen, was euch passiert ist, als ihr drei ihn vor ein paar Jahren besucht habt. Er sagte, er habe nicht richtig denken können, weil er die ganze Zeit zu besorgt um mich war. Ich nehme an, damals hat er nicht mit seinem Kopf gedacht."
„Er sorgte sich um seine einzige Tochter. Und mit gutem Grund", nickte Hermione. „Ich kann das verstehen. Aber wovon ich hier rede … nun, es ist kompliziert. Ich weiß nicht, ob ich sauer sein oder ihm einfach verzeihen sollte."
„Vergeben und lieben … gehen Hand in Hand, oder?" Lunas Augen waren in die Ferne auf den Himmel gerichtet. „Du kannst jemanden nicht lieben, wenn du ihm nicht vergeben kannst. Und wenn du ihn liebst, nun, warum solltest du ihm dann nicht vergeben? Du solltest einfach mit ihm reden."
„Ha …", schnaubte Hermione. „Ja, stimmt, mit ihm reden." Sie verschluckte die Worte: „Und wenn das nicht geht", da sie die Frage „warum" nicht beantworten wollte.
„Mein Dad sagt immer, man fragt nur um Rat, wenn man die Antwort schon gefunden hat." Luna ließ ihre Beine vom Seeufer baumeln. „Ich wette, du weißt schon, was du willst."
Schweigen legte sich über die beiden jungen Hexen, während sie ruhig nebeneinander saßen. Eine Gruppe von Thestralen erschien in der Ferne über den Wald wie ein Schwarm schwarzer Vögel.
„Sind sie nicht wunderschön?" Luna lächelte den geflügelten Pferden liebevoll zu. „Es ist traurig, dass sie die ganze Zeit so missverstanden werden." Die blonde Hexe bewunderte ruhig den Anblick und widmete den gerunzelten Brauen ihrer Freundin wenig Aufmerksamkeit. „Oh, beinahe hätte ich vergessen, weshalb ich überhaupt hier bin. Mein Dad ist genau während des Mittagessens angekommen. Er sagte, Kingsley und Bill seien beide der Meinung, dass es für ihn sicherer sei, hier in Hogwarts zu bleiben und am Druck seiner Magazine zu arbeiten. Sie haben ihm einen großen Karton mitgegeben. Er war voller Muggelsachen. Professor McGonagall hat den Schrumpfzauber rückgängig gemacht und sie alle wieder auf ihre ursprüngliche Größe gebracht, aber niemand von uns kann erkennen, was die Sachen sind. Sind sie für dich? Wofür wirst du sie benutzten?"
„Um Warringtons bösen Plänen auf den Grund zu gehen." Hermione lächelte schwach. „Das ging wirklich schnell, dass Harry mir alles geschickt hat. Ich hoffe sehr, dass er mir alles besorgt hat … Ich habe um ein Telefon, einen Laptop, ein Modem und einen Generator gebeten. Wenn wir Warrington in der Zaubererwelt nicht nachspüren können, werde ich dafür sorgen, dass wir in der Muggelwelt alles über ihn herausfinden."
„Aber sie funktionieren nicht in Hogwarts, betonte Luna rundheraus. „Daran hast du doch gedacht, oder?"
Das Lächeln auf Hermiones Gesicht wurde breiter. „Ja, Luna." Sie stand von dem Felsen auf, auf dem sie gesessen hatte. „In den meisten Teilen des Schlosses werden sie nicht funktionieren. Aber ich habe das Gefühl, dass es einen Raum in Hogwarts gibt, der mir vielleicht Zugang verschafft."
Als die beiden jungen Hexen zurück zum Schloss gingen, bemerkte Hermione ein paar Sonnenstrahlen, die langsam durch die dicken, dunklen Wolken zu lugen begannen. War es ihre Einbildung? Oder hatte das Frühlingssonnenlicht allem um sie herum gerade ein wenig mehr Farbe verliehen?
