„Ich denke, Harry hat den ersten Schock überwunden. Aber wie geht es dir, mein Schatz?" Hermine schreckte von ihrer Lektüre hoch und starrte den Störefried an. Nach dem Gespräch mit Harry war sie sehr aufgewühlt gewesen, speziell natürlich wegen seiner haltlosen Anschuldigung, aber mittlerweile konnte sie sich mit einem Buch über Verwandlungszauber etwas ablenken.
Ron lächelte sanft und ging auf sie zu: „Fühlst du dich besser?"
„Geht so", Hermine liess das Buch zurück auf den Tisch sinken, „wie kann er nur behaupten, dass ich ihn hinausmobben wollte?"
Es war natürlich eine rhetorische Frage. Anstatt einer Antwort nahm Ron Hermines Hand zärtlich in seine und lehnte sich gegen den schweren Schreibtisch.
„Er wird sich entschuldigen. Er hat es nicht so gemeint", versuchte er Hermine zu trösten.
„Warum sagt er es dann?" Wieder eine Frage, die keine Antwort suchte.
Hermines Stimme war leise und etwas zittrig:„Er ist so ein Hitzkopf. So unüberlegt! Kann er nicht einmal abschätzen, was er mit seinen Äusserungen für Schaden anrichtet? Im Grunde, weiss ich, dass es ihm jetzt leid tut. Aber ich kann ihm nicht verzeihen – noch nicht, dafür ist die Verletzung zu tief."
Hermine lehnte sich vor und vergrub ihren Kopf in Rons Bauch. Er strich ihr aufmunternd über den Kopf. Wie verletzlich sie doch war, wenn nur er es sehen konnte. Sie vertraute ihm voll und ganz.
Sie löste sich aus Rons Umarmung und richtete sich wieder auf. Ihr Blick sprach mehr als tausend Worte und sie hauchte nur: „Danke, Ron".
Ron wusste, dass mit diesen Worten auch die vorherige Vertrautheit abgeschlossen war. Ab jetzt sprachen sie nicht mehr als Paar, sondern als Arbeitskollegen miteinander. Dieses Verhaltensmuster hatte sich einfach so ergeben. Job war Job und Beziehung war Beziehung. Und gerade weil sie so wenige Personen hier im „Dorf" waren und sie die ganze Zeit mehr oder weniger aufeinander hockten, war es angebracht während der sogenannten Arbeitszeit professionell miteinander umzugehen. Schliesslich konnte Hermine Ron nicht bevorzugt oder zumindest anders behandeln, als die anderen. Das hätte nur böses Blut gegeben. Und ausserdem gab es noch genügend Freizeit, wenn man so will, in dem sie tun und lassen konnten, was sie wollten.
„Ich habe mit Harry gesprochen", begann er deshalb seinen Bericht „er scheint sich etwas beruhigt zu haben und hat sich ein bisschen mit seiner neuen Aufgaben angefreundet. Aber er will immer noch mit Minerva persönlich darüber sprechen."
„Das habe ich mir schon gedacht, das würde ich an seiner Stelle auch wollen, da kannst du Gift drauf nehmen. Ich werde einen Termin machen. Ich denke, das ist Harry Recht."
Ron nickte.
„Und Ron, ich werde die nächsten Tage bei Ginny sein. Ich kann mit diesem Ignoranten nicht unter einem Dach wohnen."
„Ok, das versteh ich. Arbeite aber nicht zu lang." Und mit einem Kuss verabschiedete er sich.
Hermine blickte ihm nach. Ja, er war wirklich ein toller Mann. Ein Wunder, dass sie ihm so lange wiederstehen konnte. Sie lächelte bei dem Gedanken. O ja, lange hatte sie gegen ihre Gefühle gekämpft. In diesem Krieg schien es besser, allein zu sein, dann brauchte man seine Liebsten auch nicht zu betrauern. Der Tod ihrer Eltern war schlimm genug gewesen. Sie wollte einen solchen Verlust nicht noch einmal erleben. Andererseits, wer wusste schon, wie lange der Krieg noch dauerte? Es war doch richtig in dieser dunklen Zeit wenigstens ein bisschen Glück zu finden. Ron stand ihr bei in unsicheren Situationen, er unterstützte sie bei schwierigen Entscheidungen und er brachte sie zum Lachen, wenn ein Tag wieder einmal schlimme Neuigkeiten mit sich brachte. Er kannte sie so gut wie niemand sonst.
Sie liebte ihn einfach.
Und eigentlich hatte sie das Harry zu verdanken. Wäre er nicht verschwunden, hätten sie und Ron wohl nicht so viel Zeit allein zusammen verbracht. Sie hätten sich nicht gegenseitig trösten brauchen und wären sich wohl noch eine lange Zeit nicht näher gekommen.
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Es war am Abend nach den Verhören gewesen. Die letzte Chance. Harry war bereits vier Wochen verschwunden.
Zwei Todesser waren lebendig gefangen genommen worden. Ein Glücksfall sozusagen, denn der Kodex der Todesser verlangte, sich eher umzubringen, als in Gefangenschaft zu geraten. Wie üblich wurden die beiden Gefangenen für ein Verhör in die Zentrale gebracht.
Hermine war froh, dass nicht sie und ihre Leute das Verhör durchführen mussten. Aber jetzt auf Nachricht von der Zentrale zu warten, zehrte auch an ihren Nerven. Sie und das ganze „Dorf" hoffte inständig, dass die Gefangenen etwas über Harrys Verbleib preisgeben würden. Nur ein winzig kleiner Hinweis, der es ihnen ermöglichte ihn zu finden.
Snape war tot, das war in der Zwischenzeit bestätigt worden. Und man nahm an, dass Harry ihn umgebracht hatte, aber von ihm selbst fehlte jede Spur.
Sie wartete mit Ron draussen vor dem Eingang zum „Dorf", damit sie die Eule mit der Nachricht von der Zentrale gleich in Empfang nehmen konnte.
Sie sassen nebeneinander an einen Baum gelehnt. Schweigend. Sie genossen die kurze Ruhe und hingen ihren Gedanken nach.
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Die letzten Wochen waren nervenaufreibend, stressig und auch emotional belastend gewesen. Besonders für Hermine war es schwierig gewesen. Sie hatte das alleinige Kommando im „Dorf", da sie kurzfristig Harrys Ressorts übernehmen musste. Die Bewohner des „Dorfes" erwarteten, dass sie ihnen Trost und Zuversicht spendete und alles in ihrer Macht stehende tat, um Harry zu finden.
Und für Hermine gab es nichts wichtigeres. Sie arbeitete rund um die Uhr bis zur Erschöpfung. Ginny, in ihrer Funktion als Heilerin, musste sie mehrere Male zu Ruhepausen zwingen.
Aber all die Anstrengung nützte nichts. Kein Zeichen von Harry.
Die Bewohner begannen ungeduldig zu werden und Hermine musste sie immer öfter beschwören, die Hoffnung noch nicht aufzugeben.
Sie selbst war nach wie vor überzeugt, dass Harry noch lebte.
Aber der Druck des Rates war stark. Es durfte keine Zeit verloren werden. Sollte Harry tot sein, oder zumindest nicht mehr zurückkehren, musste die Bevölkerung darauf vorbereitet werden. Die Lücke, die Harry hinterlassen würde, wäre nicht oder nur sehr schwer zu füllen. Der Mythos der um „den Jungen, der lebt" rankte war zu stark in den Köpfen der Hexen und Zauberer eingebrannt. Viele glaubten, dass nur Harry in einem letzten Alles entscheidenden Kampf Voldemort besiegen konnte.
Und wenn Harry nun tot war, gab es keine Hoffnung mehr?
Der Rat des Phönixordens wusste, dass diese Schlussfolgerungen den Tod des Widerstandes bedeutete. Wenn keine Hoffnung mehr bestand, Voldemort und seine Anhänger zu vernichten, würde der Widerstand keine Unterstützung mehr in der Bevölkerung finden.
Dies musste mit allen Mitteln verhindert werden.
Bereits jetzt waren die wildesten Grüchte im Umlauf und die Bevölkerung in höchstem Masse verunsichert.
Deshalb hatte der Rat entschieden, dass Morgen im Tagespropheten folgende die Nachricht verbreitet werden sollte, auch wenn die Verhöre der Todesser keine weiteren Hinweise bringen sollten.
Harry Potter ist frei!
Mit einem beispiellosen Angriff ist es gestern einem Spezialtrupp des Phönixordens gelungen Harry Potter aus den Fängen der Todesser zu befreien.
Ein Freudenschrei geht durch die magische Welt und auch die Vorsitzende des Rates, Minerva McGonagall, zeigt ihre Erleichterung „Wir sind glücklich, dass wir Harry lebend zurück in unserer Mitte haben. Er musste viel durchmachen in der Hand von Lord Voldemort, aber ich bin zuversichtlich, dass es Harry bald wieder besser geht. Harry ist stark, er will leben."
Kurz vor der Befreiung hatten gefangene Todesser in einem Verhör in der Zentrale gestanden, dass „der Junge, der lebt" in Gefangenschaft der Dunklen Macht sei und dem Orden gelang es weitere Details über seinen Aufenthaltsort zu erfahren.
In einer Nacht- und Nebelaktion drangen fünf Ordensmitglieder gestern in das genannte Verliess ein. Dank den Informationen der Späher des Ordens, war es für das Team ein Leichtes sich in den Gängen und Gemäuern zurechtzufinden.
Die Wachen waren vom Angriff des Ordens völlig überrascht und lieferten nur schwachen und unkoordinierten Widerstand.
Harry wurde aus seinem Kerker befreit und ins „Dorf" gebracht. Zur Zeit befindet er sich in ärztlicher Obhut. Sein gesundheitlicher Zustand ist kritisch aber stabil.
Hermine hatte sich gegen diese Falschmeldung gewehrt. Man konnte doch nicht die Bevölkerung so anlügen, der Phönixorden konnte doch nicht mit diesen fiesen Mitteln spielen. Hermine hatte sich bei Minerva beschwert, hatte versucht ihr ins Gewissen zu reden. Vergeblich – der Rat hatte seine Meinung schon gefasst. Das Volk musste beruhigt werden und gleichzeitig konnte mit diesem Plan Zeit gewonnen werden.
Die Kommandantin des „Dorfes" musste die Anweisung nur noch umsetzen: Kein Wort an die Öffentlichkeit. Die knapp zwanzig Bewohner des „Dorfes" mussten absolutes Stillschweigen schwören. Keiner ausserhalb durfte erfahren, dass Harry gar nicht im „Dorf" war.
Dies war das erste Mal, dass Hermine etwas gegen ihren Willen im „Dorf" durchsetzen musste. Sie fühlte sich benutzt und klein. Ihr Kopf konnte die Argumente des Rates verstehen, ihr Herz konnte es nicht.
Aber sie war nicht die einzige. Speziell Ron hatte sich auch gegen dieses Vorgehen aufgelehnt, allerdings ebenfalls vergeblich.
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Plötzlich durchbrach ein leises Knacken die Stille. Hermine und Ron schossen sofort herum, um die Lärmquelle ausfindig zu machen. Die Eule war auf einem nahen Ast gelandet, der unter ihrem Gewicht ächzte.
Hermine stand als erste auf und ging auf die Botschafterin zu. Sie band den Brief vom Bein der Eule los, gab ihr einen Kecks und schickte sie mit einem „Danke" wieder zurück in die Zentrale.
Der Brief brannte beinahe in ihren Fingern. Hermine war äusserst angespannt und aufgeregt: „Bitte, Merlin, lass es eine gute Nachricht sein."
Mit zittrigen Fingern öffnete sie den Umschlag, zog das Papier heraus und faltete es auf. Nur ein einziger Satz in klarer Schrift stand da:
KEINE INFORMATIONEN ÜBER DEN VERBLEIB VON HARRY POTTER.
Hermine liess den Brief sinken und starrte Ron an. Ohne Worte verstand dieser, dass die Nachricht ganz und gar nicht gut war. Er ging auf Hermine zu und umarmte sie. Auch Herminelegte ihre arme um Ron.
Sie waren verzweifelt.
Sie klammerten sich aneinander.
Sie zwei waren noch übrig.
Sie weinten zusammen um Harry.
Und nach dieser Nacht waren sie ein Paar.
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Hermine riss sich aus ihren Gedanken. Sie musste jetzt in die Zukunft sehen – eine Zukunft mit Harry.
Dies war wenigstens ein Lichtblick.
