Die Herausforderung

Ein paar Häuser weiter lag Harry immer noch auf seinem Bett. Er grübelte. Hermines aber momentan vor allem Rons Worte liessen ihm keine Ruhe. Er hatte gar nicht daran gedacht, was sein Verschwinden bei den beiden ausgelöst hatte, wie verzweifelt sie waren und wie sie mit dem schlimmsten gerechnet hatten. Harry schämte sich, wenn er daran dachte, wie erfüllt und glücklich er in derselben Zeit gewesen war.

Zu Beginn war er mit der Situation, mit Draco Malfoys Zusammentreffen, völlig überfordert gewesen, aber nach und nach gewöhnte er sich an den Umstand und fand sogar gefallen daran oder genauer gesagt an ihm. Harry schmunzelte bei diesem Gedanken und er liess sich in seiner Erinnerung treiben.

In den Tagen nach seinem Erwachen verbrachte Harry viel Zeit am Fluss oder in der Bibliothek. Draco war tagsüber meistens ausser Haus und Harry versuchte die Tage mit Lesen, Schwimmen und natürlich Schlafen so gut als möglich tot zu kriegen.

Es war für ihn ungewohnt so viel freie Zeit zu haben und er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal tun und lassen konnte, was er wollte.

Allerdings gab es vor allem ein Thema, das ihn beschäftigte: Draco Malfoy.

Harry war über sich selbst verwundert. All die Jahre hatte er nicht mehr an seinen Erzfeind aus Hogwartstagen gedacht. Malfoy hatte für ihn keine Bedeutung mehr, seit er nach Dumbledores Tod spurlos verschwunden war. Snape war es, der Harry im Geiste verfolgte. Snape bereitete Harry schlaflose Nächte. Snape war Voldemorts rechte Hand. Aber Malfoy spielte keine Rolle mehr in diesem Krieg und Harry verschwendete keinen Gedanken an ihn.

Aber dieses Desinteresse hatte sich jetzt in pure Neugier verwandelt. Malfoy warf so viele Fragen auf. Sein Leben hatte eine 180 Grad Kehrtwendung genommen, so schien es zumindest. Warum und wie war es dazu gekommen? Warum war er Arzt geworden? Was hatte er in den letzten Jahren erlebt? Warum lebte er bei den Muggeln? Wo war seine Mutter? Und warum hatte Malfoy ihm geholfen, ja ihn gerettet? Diese Fragen liessen Harry keine Ruhe.

Er grübelte darüber nach, fand aber keine befriedigenden Antworten.

Seit ihrem ersten Tag hatten sie kaum ein Wort mehr mit einander gewechselt. Sie hielten sich an ihre Vereinbarung sich gesittet zu verhalten, sie assen meist zusammen und bevor Harry ins Bett ging rieb Draco ihm den Rücken ein. Sonst hatten sie keine Berührungspunkte und das war genau, was Harry störte. Er versuchte mit Draco ins Gespräch zu kommen, bis jetzt allerdings vergeblich.

Eines Abends sassen sie wieder einmal zusammen vor dem Kamin, beide in ein Buch vertieft. So schien es zumindest, denn Harry konnte sich ganz und gar nicht auf die Buchstaben vor ihm konzentrieren. Immer wieder lugte er unauffällig über den Buchrand zu seinem Gegenüber. Malfoy war hinter seinem Buch über Wachstumszauber versunken und schenkte Harry keine Aufmerksamkeit.

Die immer gleichen Fragen brannten Harry auf der Zunge. Konnte er es wagen, oder würde er damit eine Linie überschreiten? Hatte er überhaupt das Recht zu fragen? Würde er eine ebenso persönliche Frage Malfoy beantworten. Wahrscheinlich nicht, musste er zugeben. Aber wenn nicht jetzt, wann dann? Und plötzlich fragte er in die Stille hinaus: „Warum, warum hast du mich gerettet?"

Draco sah verwundert von seinem Buch hoch, ihre Blicke trafen sich. Er zögerte keine Sekunde bevor er mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen antwortete: „Du weißt doch, ich liebe Herausforderungen."

Harry hielt Dracos Blick stand, als ob er versuchte, noch mehr aus ihm herauszukitzeln, leider vergeblich. Harry war etwas enttäuscht, aber hatte er wirklich erwartet, dass Malfoy ihn aus Nächstenliebe geheilt hatte? So sehr hatte er sich nicht verändert. Das stand fest. Er senkte seinen Blick wieder in sein Buch.

Draco wusste, dass er Harry nur die halbe Wahrheit erzählt hatte, aber das wollte er Potter sicher nicht auf die Nase binden. Es stimmte, seine Verletzungen waren schwer, und ohne zu übertreiben, konnte Draco nur eine handvoll Heiler nennen, die in der Lage waren, solche zu heilen. Es war wirklich eine Herausforderung gewesen, keine Frage. Aber Draco wusste, dass noch mehr dahinter steckte. Denn als er den Verletzten erkannte, der zu ihm gebracht wurde, setzte sein Herz einen Schlag aus. In diesem Augenblick wurde Draco bewusst, dass er mit seiner Vergangenheit doch noch nicht abgeschlossen hatte. Aber diese Erkenntnis ging nur ihn etwas an.

Harry traute sich nach dieser Abfuhr nicht noch einmal etwas zu sagen. Sie schwiegen den ganzen Abend und erst nachdem Malfoy Harry eingecremt hatte, wünschten sie sich gute Nacht.

Am nächsten Morgen als Harry zum Frühstück herunter kam, hörte er wie Malfoy schon fleissig im Behandlungszimmer arbeitete. „Guten Morgen, Malfoy", grüsste Harry schlaftrunken durch die geschlossene Tür. „Wohl eher schon Mittag", kam es von diesem tadelnd zurück. Harry lächelte, dieser Dialog war so etwas wie ein Ritual geworden, wenigstens etwas. Harry schlurfte in die Küche, um sich frischen Tee und ein Brot zu machen. Er setzte sich an den Tisch und griff sich die Tageszeitung – die Muggelausgabe natürlich, was den sonst in bei Neu-Malfoy. Er blätterte durch die Artikel, aber keiner fesselte seine Aufmerksamkeit.

„Harry, ich hab hier noch deine Sachen." Malfoy stand plötzlich in der Tür, mit beiden Händen trug er eine Schachtel. Er stellte sie auf den Tisch.

„Ich hatte ganz vergessen, sie dir zurückzugeben." Und mit diesen Worten hob er einen alten halb zerfetzten Rucksack in Harrys Blickfeld.

„Meine Sachen?" fragte Harry verwirrt. Am frühen Morgen liefen seine Hirnzellen noch nicht auf Hochtouren.

„Ich sehe du erkennst deinen eigenen Besitz nicht wieder. Hast du dich schon so sehr an meinen Luxus gewöhnt?" Draco grinste unverhohlen.

„Was?" Harry konnte sich immer noch keinen Reim auf Dracos Worte machen.

„Bei Merlin, wenn das so weiter geht, muss ich wohl doch noch mal deinen Kopf untersuchen", bemerkte Draco zynisch und grinste nur noch breiter als er erklärte:„Diese Dinge hattest du bei dir, als du zu mir gebracht wurdest."

Harry warf einen Blick auf den verschlissenen Rucksack. „Danke" war alles, was er über die Lippen brachte. Zu stark waren die Gefühle, die in ihm hochstiegen. Langsam griff er nach dem Rucksack, seine Hand zittert.

„Leider ist dein Tarnumhang völlig zerfetzt. Vielleicht kannst du ja noch was machen. Flicken ist nicht so mein Ding."

Harry nahm den Umhang, oder mehr was von ihm noch übrig war. Er hatte wirklich was abbekommen. Er zweifelte, ob er die einzelnen Stoffstreifen wirklich wieder zu einem Ganzen zusammenfügen konnte.

„Hier deine Kleider. Die hattest du an, als du zu mir gebracht wurdest." Malfoy überreichte ihm einen Stapel frisch gewaschener ordentlich zusammengelegter Wäsche.

„Und natürlich das Wichtigste für jeden Magier, dein Zauberstab." Malfoy hielt in triumphierend in die Höhe.

Harry griff reflexartig danach. Seine Hand umschloss das Stück Holz und unbändige Energie schoss durch seinen Körper wie ein Blitz. Harry stöhnte auf, den Stab immer noch in der Hand. Er atmete schwer. Und plötzlich traf ihn die Erkenntnis, fast noch schlimmer als der Energiestoss.

Mit diesem Stab, mit Hilfe dieser Utensilien hatte er Snape getötet. Es traf ihn wie ein Schlag: er konnte sich an Nichts mehr erinnern.

Alle Kraft wich aus seinem Körper, er sackte auf die Knie.

Das Schockierende war nicht, dass er Snape getötet hatte. Endlich hatte er sein Versprechen bei Dubledore einlösen können. Ausserdem hatte er im Kampf schon zahllose namenlose Todesser getötet, ohne auch nur einmal Reue zu empfinden. Es war Krieg, entweder sie oder er, lautete die Devise.

Er hatte Snape all die Jahre aus der Ferne beobachtet, seine Taktiken analysiert, seine Schwächen erforscht. Er war wie ein Jäger hinter seiner Beute her gewesen. Er musste nur genügend Geduld haben, den passenden Moment abzuwarten, um zu zu schlagen. Und er hatte es getan, er hatte Snape kaltblütig abgeschlachtet. Ein eiskalter Mord, dessen Plan über die Jahre durch seinen Hass gereift war.

Das schockierende war, dass Harry sich jetzt nicht besser fühlte. Er fühlte sich nicht von einer Last befreit, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Er hatte kein schlechtes Gewissen, aber auch die gewünschte Erleichterung über Snapes Tod blieb ebenfalls aus.

Tränen der Verzweiflung stiegen in seine Augen.

Malfoy beobachtet die Szenerie aus nächster Nähe. Er konnte sich nicht erklären, was plötzlich mit Harry los war. Hatte ein snape'scher Zauber in getroffen? Aber er hatte den Stab doch vorher gründlich untersucht. Er sah Harry Tränen und er fühlte sich unbehaglich. Sollte er ihn trösten? Oder sollte er galant die Tränen und Harrys Schwäche übersehen? Das wäre ja lächerlich! In den letzten Wochen hatte er Harry in noch viel erbärmlicherem Zustand gesehen. War es seine ärztliche Pflicht ihn zu beruhigen? Oder sollte er sich über ihn lustig machen? Draco war hin und her gerissen. Noch unschlüssig räusperte er sich.

Harry erwachte durch das Geräusch aus seiner Starre und blinzelte die Tränen aus seinen Augen, als er Malfoy erkannte. Unsicher stand er auf und setzte sich, ohne einen Blick zu Draco, an den Tisch. Er trank einen Schluck Tee, um sich zu beruhigen.

„Was war das eben?" fragte Malfoy. Seine Stimme zeigte weder Neugier noch Besorgnis, es klang wie eine reine Höfflichkeitsfloskel.

„Eine Herausforderung", antwortete Harry lakonisch und wandte sich wieder der Zeitung zu.

Malfoy war der Bezug natürlich nicht verborgen geblieben, aber Harrys teilnahmslose Ausdrucksweise sagte ihm, dass er hier momentan nichts verloren hatte. Er verliess die Küche und ging in sein Arbeitszimmer.

Harrys Gefühle und Gedanken rasten hinter seiner kühlen Fassade. Er konnte sich nicht erinnern: an rein gar nichts, keinen Fluch, keine Szene, keine Schmerzen, nichts. Wie konnte er etwas, das ihn jahrelang getrieben hatte, vergessen? Und Malfoy? Hätte er diese Bemerkung nicht machen sollen? Hatte er damit zuviel seiner Absichten offenbart?

Harry beschloss erst mal Schwimmen zu gehen. Dafür, dass der Tag gerade angefangen hatte, fühlte er sich schon ziemlich erschöpft. Die Erfrischung würde ihm gut tun.