Liebe Petunia,
Ich hoffe dieser Brief erreicht Dich und Deine junge Familie in bester Gesundheit. Seit unserem letzten Briefwechsel ist viel Zeit vergangen und ich bedauere sehr, Dir nun keine bessere Botschaft überbringen zu können. Mit großer Trauer und tiefstem Schmerz muss ich Dir von dem Tod Deiner lieben Schwester Lily und ihrem Mann James Potter berichten. Sie starben durch die Hand Lord Voldemorts, der die beiden nach monatelanger Suche ausfindig machen konnte. Lily und James waren unendlich aufopferungsvolle, talentierte und geschätzte Mitglieder der magischen Gemeinschaft sowie des Widerstandes gegen die dunkle Seite und ihr Verlust reißt ein großes Loch in unsere Mitte.
So schrecklich und bedrückend diese Nachricht auch ist, will ich Dir dennoch die freudige Botschaft überbringen, dass auch Lord Voldemort die letzte Nacht nicht überdauert zu haben scheint. Wie es dazu kam, ist die eigenartigste und unglaublichste Geschichte: Lilys Sohn, Dein Neffe Harry, ist wie durch ein Wunder vom Todesfluch Voldemorts unberührt geblieben und von dem abscheulichen Angriff ist nur noch die Narbe auf Harrys Stirn zu sehen. Voldemort selbst wurde durch seinen blinden Hass unschädlich gemacht und ist keine Gefahr mehr für den Jungen – oder irgendjemanden sonst. Meiner Theorie zufolge hat das selbstlose Opfer, das Lily für ihren Sohn gebracht hat als sie ihr Leben für das seine gab, einen machtvollen magischen Schutz über Harry gelegt, den kein Fluch durchdringen kann. Deshalb bringe ich Harry auch zu Dir, in die schützende Fürsorge seiner leiblichen Verwandten. Solange Lilys Blut, Dein Blut, in Harrys Nähe ist, wird der Schutz des Opfers anhalten.
Ich weiß, auch Dir wird hier ein gewaltiges Opfer abverlangt, doch ich könnte mir keinen besseren Platz für Harry vorstellen. Ich weiß, dass Dein mütterlicher Instinkt und Dein scharfer Verstand dich leiten und dabei unterstützen werden, das Richtige zu tun. Vergiss nicht, es ist von größter Wichtigkeit, dass Harry, solange er sich noch nicht selbst verteidigen kann, unter dem Schutz Deines Hauses bleibt. Seine Unversehrtheit ist von höchster Bedeutung, so wie auch Harry selbst eines Tages von höchster Bedeutung für meine und auch Deine Welt sein wird. Ich bitte Dich, Petunia, lass das Opfer deiner Schwester nicht umsonst gewesen sein und nimm Dich des Jungen an!
Hochachtungsvoll
Professor Albus Dumbledore
Schulleiter der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei
Petunias tränenverhangener Blick wanderte von dem Brief in ihrer zitternden Hand, über die unordentliche Küche, zu ihrem Mann, der – noch im Schlafanzug – Dudley auf dem Arm trug. Außerdem redete er beruhigend auf das fremde Kind in seinem Hochstuhl ein, wo sie es, in Ermangelung einer besseren Idee, erstmal zwischengeparkt hatten. Dudley gefiel es verständlicherweise überhaupt nicht, seinen Thron von jemand anderem besetzt zu sehen und er wand sich widerwillig in den starken Armen seines Vaters, die roten Pausbäckchen von Tränen überströmt. Erst jetzt drang der Lärm der zwei schreienden Kinder und des stöhnenden und schnaufenden Vernon wieder an ihre Ohren. Normalerweise konnte Petunia Dudleys Weinen nicht lange ertragen, zu sehr liebte sie es, ihn zu trösten und wieder lachen zu sehen, doch in diesem Augenblick zwang ihr emotionaler Ausnahmezustand sie – ganz untypisch – aus dem Zimmer zu hasten, um einen Moment für sich zu haben.
In ihrem Schlafzimmer lehnte sie sich bebend an die geschlossene Tür und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Sie konzentrierte sich fieberhaft auf all die schönen Dinge, die sie und Vernon seit seiner Beförderung zum Leiter der Firma gekauft hatten: Die teuren, auf charmante Weise stillosen, Geschenke, mit denen ihr Mann sie besonders seit Dudleys Geburt überschüttete. Die vergoldeten Bilderrahmen auf dem Nachtschrank, die ihr Familienglück in kompakter und unmissverständlicher Weise zur Schau stellten. Die vielen Nippes und Parfums auf dem Frisiertischchen, kostbarer Schmuck in einer Schatulle … Doch es wollte alles nichts helfen …
Mit trotzig vorgeschobenem Kinn griff sie zum Telefon neben dem Bett und wählte die letzte Nummer ihrer Schwester, an die sie sich erinnern konnte. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt versucht hatte, Lily anzurufen. Warum auch? Ihre Leben waren vollkommen unterschiedlich und boten keinerlei Berührungspunkte, wenn man von dem Begräbnis ihrer Eltern vor einem Jahr einmal absah. Dort war Lily nur sehr kurz und nach langem Hin und Her erschienen, das Gesicht die ganze Zeit hinter einem beinahe blickdichten Schleier verborgen. Petunia, die selbst nach Dudleys Geburt an Schlafmangel und dunklen Augenringen litt, konnte gut verstehen, warum eine junge Mutter ihr Gesicht so effektiv verbergen wollte. Doch wenigstens zur Begrüßung hätte Lily doch wenigstens einmal ihre sture, an Ignoranz grenzende, Eigenartigkeit ablegen können. Das tutende Geräusch am anderen Ende der Leitung riss Petunia aus ihrer Erinnerung. Niemand nahm ab. Seltsam … Aber eigentlich auch nicht. Wer wusste schon, ob die Potters sich ein neues Telefon zugelegt, ob sie mal wieder umgezogen waren oder sogar, aufgrund ihrer technik-skeptischen Macken, mittlerweile gänzlich auf solcherlei „Muggelartefakte" verzichteten. Erschrocken über ihre eigenen Gedanken, ließ Petunia das immer noch tutende Telefon auf das zerwühlte Bett fallen.
Ihre Schwester Lily, perfekte, liebenswerte, freundliche, verständnisvolle und „aufopferungsvolle" Lily sollte selbst Opfer eines Mordes geworden sein? Und ihr nutzloser Mann gleich mit? War das Kind in der Küche wirklich ihr Sohn Harry, den Petunia noch nie leibhaftig zu Gesicht bekommen hatte? Ausgeschlossen! Jemand erlaubte sich einen geschmacklosen Scherz mit ihnen, da war sie sich sicher. Dunkle Magier, Flüche und Schutzzauber! Ihre Schwester hatte in den Schulferien von solchen Dingen erzählt, allerdings hatte Lily sich auch Geschichten über sprechende Gemälde, lebendige Schachfiguren und fliegende Besen ausgedacht.
„Petunia? Liebling?", dröhnte Vernons Stimme die Treppe hinauf. Sie war über das Kindergeschrei hinweg fast nicht zu hören und mit einem Mal fragte sie sich panisch, was die Nachbarn bei dem sonntäglichen Lärm wohl denken würden. Mit wehendem Morgenmantel eilte sie zurück in die Küche, wo Vernon die Kinder hilflos mit Haferschleim stillzustellen versuchte. Petunia nahm Dudley auf den Arm, der sofort sein kleines Gesicht an ihrem Hals vergrub und an ihren Haaren riss, um zu zeigen, wie unglücklich er ohne sie gewesen war. Dudley war es nicht gewohnt, mit lauwarmem Haferschleim abgespeist zu werden, während seine Mutter verschwand. Schon gar nicht an einem Sonntagmorgen, der für gewöhnlich der einzige Tag war, an dem sie alle zusammen frühstückten, sich Zeit nahmen, Pfannkuchen und Faxen machten. Doch heute war alles anders. Petunia probierte eine Löffelspitze des Breis. „Mehr Zucker, sonst isst er ihn nicht.", wies sie ihren Mann an, der sichtlich erleichtert über ihre Rückkehr anfing in den Küchenschränken zu wühlen. „Unten links, Liebling." Petunia setzte sich mit Dudley auf dem Schoß an den noch ungedeckten Tisch.
Das fremde Kind hatte mittlerweile aufgehört zu schreien und sah sie mit großen runden Augen an. Die Farbe dieser Augen versetzte Petunia einen unerwarteten Stich. Ein so intensives Grün hatte sie bisher nur bei Lily …
„Hier kommt auch schon der Zucker für meinen kleinen Naschhasen." Vernon häufte einen ganzen Esslöffel in die kleine Schale. „Nicht doch, zu viel!", schnaubte Petunia, bevor sie seufzend umrührte, und begann ihrem Sohn den übersüßten Schleim zu füttern. War er wirklich so pummelig wie der Kinderarzt nicht müde wurde zu bemängeln? Das war doch höchstens Babyspeck, der sich rasch verwachsen würde. Und sollte sie etwa, wohlhabend wie sie doch waren, ihrem Augapfel auch nur einen Genuss vorenthalten? Das Leben war zu kurz, um sich derart alberne Fragen zu stellen. Schönheit beschützte einen noch lange nicht vor allem, wie man an ihrer Schwester sehen konnte … Klirrend fiel der Löffel in die Breischüssel und verspritzte Milch und Haferflocken. Dudley lachte vergnügt, hob den Löffel auf und pfefferte ihn erneut in die Schale. „Petunia?" Vernon ergriff besorgt ihre Hand. „Was stand in dem Brief, Liebes? Und was ist das für ein Kind?" Ihre Unterlippe begann zu zittern. „Das ist Lilys Sohn."
„Verdammtes Pack, die können was erleben." Vernon blätterte ruppig durch die Seiten eines dicken Telefonbuchs. „Beruhig dich, Vernon, das ist bestimmt alles nur ein dummer Scherz und heute Abend holen sie den Jungen wieder ab." Besagtes Kind saß mittlerweile auf dem Wohnzimmerteppich und beobachtete Dudley beim Bauklötze spielen. Petunia fragte sich, ob sie sich wegen der großen blitzförmigen Narbe auf der Stirn des Kindes Gedanken machen sollte. Sie konnte sich keinen Unfall vorstellen, der solche eine seltsame Verletzung verursachen würde. Mittlerweile hatte Vernon gefunden, wonach er suchte und wählte. „Du hast doch wohl keine Nummer für Hogwarts gefunden?", fragte Petunia entgeistert. „'türlich nicht.", antwortete ihr Mann barsch. „Diese Hinterweltler laufen in Capes herum, die wissen wahrscheinlich nicht mal, was ein Telefon ist. Ja hallo? Dursley hier, spreche ich mit dem Jugendamt?" Schnell fuhr er fort: „Ich habe hier ein Kind, Eltern: Lily und James Potter. Nein, die Adresse hab ich nicht." er warf Petunia einen fragenden Blick zu, doch auch sie konnte nur den Kopf schütteln.
Sie hatte Lily nie besucht und die letzte Adresse, die sie von ihr besaß, war noch von der Zeit, bevor sie diesen Potter geheiratet hatte. Um ihren neuen Wohnsitz hatte Lily in ihren Briefen, die sie selten aber regelmäßig schickte, ein großes Geheimnis gemacht, damit Petunia nur ja nicht auf die Idee kam, sie zu besuchen, um ihr Bilderbuchleben zu stören.
„P – O – T – T – E – R. Ja, genau, ein kleiner Junge. Etwa ein Jahr alt, schwarze Haare, grüne Augen und eine große Narbe im Gesicht. Geburtsdatum …" Wieder sah er seine Frau fragend an. „Einunddreißigster Juli 1980.", hauchte Petunia tonlos.
Für Zahlen und Fakten hatte sie seit jeher ein gutes Gedächtnis gehabt, doch was hatten ihre guten Noten in Algebra und Geschichte zwei Eltern interessiert, die ganz verzaubert auf eine stinkende Maus glotzten, den ihre jüngste Tochter soeben in einen Teekessel verwandelt hatte?
„Haben Sie's gehört?", blaffte Vernon nun ins Telefon. Er begann sichtlich die Geduld zu verlieren. „Holen Sie das Kind nun ab oder nicht? Na also, das dachte ich mir." Bestimmt legte er den Hörer auf die Gabel und legte seiner blassen Frau einen Arm um die Schulter. „Mach dir nichts draus, Liebes. Dieser Spuk geht gleich vorbei. Sie werden den Bengel abholen, deine vermaledeite Schwester muss sich bei dir entschuldigen und alles kommt wieder in Ordnung." Er drückte ihr einen tröstenden Kuss auf die Locken. Petunia lehnte sich an seinen breiten, schweren Körper und für einen kurzen kostbaren Moment meinte sie tatsächlich, dass alles wieder in Ordnung kommen könnte.
