Der Junge, der überlebte – Die Gerüchte über das Verschwinden Jenes-dessen-Namen-nicht-genannt-werden-darf sind wahr. Es war in der Nacht des 30. Oktobers als ein weiterer Anschlag auf unschuldige Zivilisten dem Anführer der dunklen Seite zum Verhängnis wurde: Die in Godric's Hollow lebende, dreiköpfige Familie Potter hielt sich bereits seit mehreren Monaten aufgrund subversiver Aktivitäten vor den Angriffen der Todesser verborgen, bevor eine Lücke im Sicherheitszauber schließlich zu ihrer Entdeckung in ihrem Zuhause führte. Eine Spur, die die Geschehnisse mit der Festnahme des gefährlichen Massenmörders Sirius Black nahelegt, wird ermittelt. Sowohl James Potter (21) als auch seine Frau Lily (21) wurden nach dem gewaltsamen Eindringen Jenes-dessen-Namen-nicht-genannt-werden-darf überwältigt und getötet. Ihr einjähriger Sohn Harry blieb zurück. Doch der Todesfluch, der das Baby traf, zeigte keine Wirkung und wandte sich stattdessen gegen seinen Herrn. Führende Experten und Gelehrte der Zauberkunst, unter ihnen kein geringerer als Albus Dumbledore, arbeiten an Theorien, um den Vorfall zu erklären. Harry Potter ist unversehrt und wurde der Obhut von Verwandten übergeben. Er hat in dieser Nacht zwar seine Eltern verloren, doch dem Rest der Zaubergemeinschaft hat er die Freiheit wiedergebracht …

Petunia ließ den Artikel mutlos sinken. Sie hatte in den vergangenen Tagen mehrere dieser bräunlichen Zeitungsausschnitte, die ihr in Pergamentumschlägen voller Vogeldreck überliefert wurden, erhalten. Sie wusste nicht, wie diese Gesten ihr Mut machen sollte. Der Tod ihrer einzigen Schwester war mittlerweile wohl oder übel in ihr Bewusstsein gesickert und verursachte ihr latente Übelkeit und schlaflose Nächte – daran musste sie nicht erinnert werden. Und auch Harrys Anwesenheit in ihrem Haus, in ihrer Küche, in Dudleys Kinderzimmer hatte sich zu einer unheilvollen kräftezehrenden Normalität entwickelt, an die sie sicherlich nicht von außen erinnert werden musste. Ein zweites Kind zu füttern, ein zweites Kind, das nachts weinte und zu allem Überfluss langsam zu begreifen begann, dass seine Mutter nicht zurückkehren würde. Auch an das junge Alter des verstorbenen Paares, das Petunia an das vor- und gleichzeitige Ableben ihrer eigenen Eltern erinnerte, wollte sie lieber nicht denken. Und stimmte es denn, was dieses auf Tierhäuten gedruckte Klatschblatt schrieb? Drohte ihr und ihrer Familie auch wirklich keine Gefahr von diesem durchgeknallten Mörder, dessen Name sie nur aus Dumbledores Brief kannte? War er derjenige, der ihnen diese Artikel zu Beginn beinahe täglich, später wöchentlich zukommen ließ? Oder womöglich andere … seiner Art? War es ihnen ein leichtes gewesen, ihre und Vernons Adresse ausfindig zu machen, um sie mit Briefen zu belästigen oder sie gar zu beobachten?

Diesen Gedanken wies Petunia entschieden von sich. Zu unerträglich wäre ihr das weitere Eindringen in ihre Privatsphäre, die Komfortzone ihrer Familie, die sie mit Sorgfalt aufrecht zu halten versuchte. Die neugierigen Blicke und Fragen der Nachbarn und die penetranten Besuche des Jugendamtes waren mehr als genug, sie konnte sich nicht zusätzlich mit den unsichtbaren Blicken und Annährungsversuchen von irgendwelchen Verrückten beschäftigen, die sich vielleicht – vielleicht auch nicht – beobachteten. Dennoch schloss sie stets die Vorhänge, bevor sie die Zeitungsartikel in den Kamin steckte. Erwarteten die Sender etwa, dass sie eine Art Scrapbook damit anlegte, um dem Jungen, wenn er lesen konnte, die abstruse Geschichte des Todes seiner Eltern zu präsentieren?

Dazu war sie unter keinen Umständen bereit. Niemand hatte sie um ihr Einverständnis gebeten, bevor sie Harry auf ihrer Fußmatte entdeckt hatte. Sowohl Dumbledore als auch das Jugendamt glaubten, in ihr die perfekte Lösung für das verwaiste Kind gefunden zu haben und waren nur allzu froh gewesen, ihr diese Verantwortung, ohne Chance zum Widerspruch, aufzubürden.

Natürlich war in keinem der Briefe je ein Hinweis auf das Testament ihrer Schwester, etwaige Hinterlassenschaften oder gar bares Geld enthalten. Nicht dass es da viel zu holen gäbe … Petunia war überzeugt, dass Lilys ausweichende Antworten, wenn die Rede auf ihren oder James' Beruf kam, nichts als eine Beschönigung von Arbeitslosigkeit und Schmarotzertum war. Scheinbar waren die Potters so gut betucht, dass keiner der Beiden einen Finger krum zu machen brauchte. Wo sich dieses sagenhafte Vermögen oder die dazugehörige Schwiegerfamilie nun befand, ließ sich natürlich auch nicht herausfinden.

Petunia hatte Vernon gerade noch davon abhalten können, einen Privatdetektiv anzuheuern, der die zweifellos existierenden Angehörigen der Potters ausfindig machen sollte. Sie sagte, je mehr man sich mit dieser Familie beschäftige, desto mehr häuften sich die Probleme. Doch in Wahrheit glaubte sie nicht, dass irgendein … normaler Mensch Erfolg bei einer solchen Suche haben würde. Und falls doch würde es endlose Fragen zu … übernatürlichen Erscheinungen geben, die sie genauso wenig beantworten wollte, wie konnte.

Dagegen erschienen ihr der große Fettfleck auf ihrer Schürze, der ungemähte Rasen und die quengelnden Kinder wie sehr lösbare Probleme. Sie zog sich das schmutzige Tuch über den Kopf und warf es auf den großen Wäschehaufen, den sie später mit in den Keller nehmen würde. Dann entriss sie Harry, der neben ihrem Sohn auf einer Krabbeldecke auf dem Wohnzimmerboden saß, eins von Dudleys Spielzeugen aus der Hand. „Hat der böse Junge meinem Duddy mal wieder alles weggenommen?" Behutsam hob sie den tränenüberströmten Dudley auf, lehnte ihn wieder gegen das Sofa und drückte ihm das kleine Auto in die Hand.

Dass Harry im Vergleich zu ihm schon so gut sitzen, sich an Möbeln hochziehen und sogar schon etwas laufen konnte, brachte nicht nur sie zur Weißglut, sondern würde sicherlich dazu führen, dass Dudley Komplexe entwickelte. Es brach ihr fast das Herz, wenn sie beobachten musste, wie der schwarzhaarige Bengel ruhig in einer Ecke saß und mit Bauklötzen spielte, während Dudley, der noch nicht viel mit solchen Geschicklichkeit-erfordernden Beschäftigungen anfangen konnte, ihn eifersüchtig beobachtete und schließlich anfing zu weinen, weil er sich langweilte.

Was konnten er, Vernon oder gar sie dafür, dass Dudleys Entwicklung eben etwas langsamer verlief als die anderer Kinder? Machte ihn das zu einem weniger liebenswertem Baby? Einem weniger süßen Schatz, der sie so oft zum Lachen brachte?

Und abgesehen davon, wer wusste schon, ob Harrys schnelle Auffassungsgabe und sein motorisches Geschick Resultat der Gene ihrer Schwester, ihrer mütterlichen Fähigkeiten oder aber irgendwelcher übernatürlicher Tricks waren? Das sähe ihr ähnlich: Perfektionistin durch und durch wäre es Lily sicherlich ein Dorn im Auge, wenn ihr Sohn anderen Kindern nicht um einiges voraus wäre und wenn sie dazu etwas nachhelfen musste, sollte es ihr recht sein. Was im Leben dieser Leute war überhaupt noch echt?

Geistesabwesend strich Petunia etwas Staub von den Blättern ihrer künstlichen Orchideen. War es zu viel verlangt, dass sie sich, nachdem sie ihre Jugend als Mauerblümchen zurückgelassen hatte, von nun an mit schönen Dingen umgeben wollte, die sie selbst ausgesucht hatte? Geblümte Vorhänge, staubfreie Sofabezüge, ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen, rostfreies Besteck und inmitten alle dieser Schätze ihr pausbackiger, blondgelockter Engel.

Das blasse Kind mit den widerspenstigen schwarzen Haaren und der großen Narbe erinnerte sie dagegen an ein unheilverkündendes Omen, einen Schandfleck auf ihrem makellosen Leben, einen Unglücksraben dessen stechend grünen Augen ihr mitten in die Seele zu sehen schienen. „Starr nicht so!", fuhr sie das Kind an und drehte es mit dem Gesicht zur Wand.


So sehr Petunia Dreck verabscheute, seit etwas mehr als zwei Wochen wünschte sie sich nichts mehr als endlich einen vertrauten dunkelroten Fleck auf ihrem Laken, ihrem Nachthemd oder ihrer Unterhose vorzufinden. Ihre Regel kam ohnehin nur unregelmäßig, was wie ihr Arzt sagte, auf ihr leichtes Untergewicht zurückzuführen sei. Dennoch war es leichtsinnig von ihr und Vernon gewesen, das Thema für abgeschlossen zu betrachten, auch weil es so lange gebraucht hatte, bis sie mit Dudley schwanger geworden war. Welch eine kranke Fügung des Schicksals, welch einen grauenhaften Scherz erlaubte ihr Körper sich da?

Um sich abzulenken konzentrierte Petunia sich auf das Stück Spitzengardine, an dem Dudley sich gestern den Mund abgewischt hatte, und versuchte verbissen, den Fleck aus dem feinen Stoff zu waschen.

Wie konnte sie ihm böse dafür sein? Sie war überzeugt, diese Unartigkeiten waren ein hilfloser Schrei nach Aufmerksamkeit, den ihr Sohn, von Harry eingeschüchtert, nicht anders artikulieren konnte. Sie hoffte, die Betreuung bei der Tagesmutter, die ihn halbtags von diesem schädlichen Einfluss wegbrachte, würde bald ihre Wirkung entfalten. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken daran, dass sie gezwungen war, ihr eigenes Kind außerhaus betreuen zu lassen, weil es in Gegenwart von Harry stets unzufrieden und weinerlich war. Amanda Snitcher, eine von Petunias engsten Freundinnen und Dudleys Betreuerin, sagte jedenfalls, dass er sich in Gesellschaft anderer Kinder ganz prächtig entwickle und sowohl sein Selbstbewusstsein also auch Durchsetzungsvermögen schnell zunähmen.

„Richtig so, mein kleiner Prinz." Petunia kniff ihrem pausbackigen Liebling, der wenige Meter von ihr entfernt auf dem Teppich saß und fernsah, in die Wange. Es war erstaunlich, wie lange die Programme und Shows ihn fesseln konnten. Dudley hatte wirklich eine ungewöhnlich lange Aufmerksamkeitsspanne für sein Alter. Anders als Harry, der sich schon nach wenigen Minuten vor dem Fernseher langweilte und davonlief, meistens geradewegs über Petunias frischgewischte Böden. Dudley dagegen war der reinste Engel, wenn er sich seine Lieblingssendungen anschauen durfte und verlangte auch lautstark nach dem abendlichen Ritual, wenn seine Mutter vorsichtig alternative Pläne vorschlug.

Beim Anblick seines runden Kopfs mit den goldenen Ringellocken, traten Petunia Tränen in die Augen. Wie sehr würde sie sich auf ein zweites Kind, einen zweiten Goldschatz, freuen. Ein zweiter Engel, den sie und Vernon verwöhnen, nett anziehen und beschenken konnten. Vielleicht ein kleines Mädchen, das Dudley Gesellschaft leisten und das er beschützen könnte, wenn er älter war …

Sie rümpfte die Nase, weil sie glaubte, Rauch zu riechen. Hastig wischte sie die Tränen fort, erhob sich von ihrem Sessel und eilte in die Küche, wo sie die Quelle des Geruchs vermutete. Tatsächlich entdeckte sie dort den vermaledeiten Jungen, der eine der unteren Schubladen leergeräumt und einige Duftkerzen und Räucherstäbchen zu Tage gefördert hatte. Andächtig hielt er einen lavendelfarbenen Stängel in die Flamme einer Kerze und zündelte vor sich hin.

„Du kleiner Bengel!", fauchte Petunia ärgerlich und löschte das Feuer mit Daumen und Zeigefinger. Erst jetzt fiel ihr auf, dass nirgends die Quelle der Flamme zu sehen war, ganz abgesehen davon, dass Harry mit seinen zweieinhalb Jahren wohl kaum Streichhölzer oder Feuerzeug benutzen konnte. Sie war sich auch ziemlich sicher, dass sie derartig gefährliche Gegenstände in einer der oberen Schublade, außerhalb der Reichweite neugieriger Kinderhände, aufbewahrte. Sie ignorierte das beleidigte Schluchzen des Kindes und packte ihn entschlossen am Arm. „Wo hast du das Feuer her?", verlangte sie streng. Harry schüttelte nur verwirrt den Kopf, seine moosgrünen Augen schwammen in Tränen. Was war er doch verstockt! Petunia schüttelte ihn leicht. „Wie hast du das Feuer gemacht?" Die Unterlippe des Jungen zitterte zu stark als dass er sprechen konnte und so ließ sie es schließlich gut sein, räumte die Schublade wieder ein warf die abgebrannten Räucherstäbchen weg.

Harry drückte sich zwischen den Schränken herum und beobachtete sie dabei. Obwohl er sich mittlerweile wieder gefasst hatte, fragte Petunia nicht mehr, wie er das Feuer gemacht hatte. Ein Teil von ihr fürchtete sich vor der Antwort. War es möglich, dass der Junge … nicht ganz normal war? Wie seine Eltern? Sie erinnerte sich an ähnliche unerklärliche Szenen aus Lilys Kindheit, die sie schon damals vor Angst und Neid zur Weißglut getrieben hatten. Sie war noch einmal mit dem Schrecken davongekommen, wenn Lily Federn fliegen ließ, mit ihrer Umgebung verschmolz oder versehentlich die Katze versengte.

Doch was, wenn Harry sich eines Tages seiner … Andersartigkeit bewusst wurde und lernte, sie gezielt einzusetzen? Womöglich gegen Dudley? Sie schauderte bei dem Gedanken daran und nahm sich einmal mehr vor, die beiden nie unbeaufsichtigt im selben Zimmer zu lassen. Doch was sollte sie schon gegen ein verrücktes Kind ausrichten, das Feuer aus dem nichts heraufbeschwören und gewiss noch schlimmere Dinge aushecken konnte? Ihre Eltern hatten es nie für wichtig gehalten, Lily besondere Regeln und Grenzen aufzuerlegen, auch wenn dies bitter nötig gewesen wäre. Ohnehin schon ein Wildfang, hatten ihre … besonderen Fähigkeiten sie nur noch unbändiger gemacht.

Petunia griff wieder nach Harrys Arm und hockte sich diesmal vor ihn hin. Sie schlug einen ruhigen wenn auch unmissverständlichen Ton an: „Du darfst auf keinen Fall wieder mit Feuer spielen. Wenn ich dich noch einmal an einer Küchenschublade erwische, werde ich mir eine schlimme Strafe ausdenken. Hast du das verstanden?" Harry nickte unsicher. „Und ich will auch nicht, dass du irgendwelche Dinge herumfliegen lässt, Sachen versteckst oder sonst wie … unnormalen Dinge machst.", fuhr sie fort, wobei sie merkte, dass ihre Stimme mit jedem Wort schriller wurde. Harrys stechender Blick brachte sie ganz aus der Fassung. „Und du sollst nicht so starren! Los, ab ins Wohnzimmer!"