„Petunia? Liebes?"
Langsam kehrte die Geräuschkulisse des kleinen Restaurants, das Vernon für ihren Jahrestag ausgesucht hatte, zurück in ihr Bewusstsein. Normalerweise liebte Petunia ihre kleinen Traditionen, die kitschigen Aufmerksamkeiten und den Trubel, den Vernon um ihre wenigen gemeinsamen Abende veranstaltete. Wenn sie eine Babysitterin für Dudley organisierten, Harry bei einer älteren Dame aus der Nachbarschaft absetzten, das neue Auto nahmen und in die Stadt fuhren, um sich vom Alltag zu erholen. Wenn Petunia sich ein schönes Kleid anzog, Vernon ihr galant allen Türen aufhielt, die Bedienung herumkommandierte und seiner Frau auf holprige Art verständlich machte, wie sehr er sie liebte.
Doch dieser Abend wurde von zwei Entwicklungen beeinflusst, die Petunias Gedanken in Beschlag nahmen … Außerdem war sie so müde wie zuletzt nach Dudleys Geburt und ersten Wochen. Vor Kurzem war sie mit einem hartnäckigen Läusebefall fertiggeworden, den Dudley sich bei einem Kindergeburtstag eingefangen haben musste. Besonders auf Harrys unbändigem Schopf hatten die kleinen Biester sich sehr wohl gefühlt. Sie war aus dem Kinder baden, Betten beziehen, Haare und Wäsche waschen gar nicht mehr herausgekommen, alles mit einer enganliegenden Badekappe, aus Angst selbst zum Opfer zu werden. Entsprechend abgekämpft fühlte sie sich nun an ihrem ersten freien Abend seit Monaten und es fühlte sich an, als würde die Stunden verpassten Schlafs sie alle auf einmal einholen. Sie fand es schwierig, sich auf das Gespräch mit Vernon zu konzentrieren und ihre Gedanken drifteten immer wieder zu quälenden Grübeleien ab.
Zum einen hatte Vernon ihr das besorgniserregende Ergebnis seines letzten Arztbesuchs offenbart. „Der Quacksalber wollte keine Ruhe geben, bevor ich ihm nicht hoch und heilig verspreche … kürzer zu treten.", nuschelte er durch seinen Schnauzbart. Alarmiert und mitfühlend war Petunia mit ihm die Liste an Lebensmitteln und Aktivitäten durchgegangen, die ihr Mann ab jetzt tunlichst meiden sollte. Für jemanden wie Vernon, der sich alles selbst erarbeitet hatte und es gewohnt war, sein eigener Chef zu sein, waren Einschränkungen wie diese nur schwer zu ertragen. Er war eben ein Genussmensch, der sich mit seinem hart verdienten Geld einen luxuriösen Lebensstandard eingerichtet hatte, wozu unter anderem teurer Brandy, kubanische Zigarren und regelmäßige Steakhousebesuche gehörten. Dinge, die in der Geschäftswelt mittlerweile zum guten Ton gehörten. Petunia konnte sich wirklich verwerflichere Laster vorstellen. Aber da ihr natürlich viel an der Gesundheit ihres Mannes lag, wollte sie ihn tatkräftig beim Einhalten der vielen Regeln unterstützen. Ihr zuliebe hatte Vernon an diesem Abend schon auf seinen gewohnten Aperitif verzichtet und begnügte sich stattdessen mit einem faden Tonic Water. Dass auch sie keinen Alkohol trank, entschuldigte sie nervös mit ihrer solidarischen Verpflichtung als liebende Gattin.
Die andere Angelegenheit, die Petunia sogar noch mehr beunruhigte, lag nämlich schon seit drei Tagen in einem gut verschlossenen Frischhaltebeutel in ihrem Nachtschrank. Immer wenn sie in einem unbeobachteten Moment mit zitternden Fingern die Schublade öffnete, wurde ihr fast schlecht von den widerstreitenden Emotionen, die sie beim Anblick der zwei blassrosa Streifen überkamen. Sie hatte Vernon noch nichts von ihrer schrecklichen Gewissheit erzählt. Noch nicht. Sie hatte erwogen, es an diesem Abend zu tun, und fühlte sich deshalb schon seit sie aufgebrochen waren, hundeelend.
Das Essen kam, Lachsnudeln für ihn, panierter Kohlrabi für sie, und Vernon hatte natürlich prompt etwas auszusetzen. Gerührt und beeindruckt von der Selbstsicherheit ihres Gatten, beobachtete sie wie Vernon sich aufopferungsvoll mit der etwas zu kecken Bedienung anlegte, weil die Panade auf dem Teller seiner Frau nicht knusprig genug aussah. Obwohl sie ihm stillschweigend zustimmte, hätte sie allein nie so viel Zauber um solch eine Kleinigkeit gemacht. Doch für Vernon gab es, im Bezug auf sie, eben keine Kleinigkeiten. Während Petunia seit ihrer Kindheit die Kunst des „im Hintergrund Verschwindens" perfektioniert hatte und stets bemüht war, kein Aufsehen zu erregen, störte es Vernon nicht, Blicke auf sich zu ziehen, wenn er sich im Recht fühlte. Was ihn beschäftigte, wurde er nicht müde, anzupreisen oder zu verdammen. Bei Geschäftsessen brachte er seine lautstarke Rede ebenso gerne auf die Kochkünste seiner Frau, die Bekannten aus dem Golfclub oder den unmöglichen Feierabendverkehr. Petunia hingegen war eher verschlossen und hatte sich angewöhnt, in der Öffentlichkeit so gut wie nie zu sagen, was sie wirklich dachte. Vernon von ihrer verkorksten Familiengeschichte zu erzählen war ein großer Schritt für sie gewesen und wie durch ein Wunder hatte die Diskretion, die dieses sensible Thema verlangte, sich sofort auch auf sein Verhalten übertragen. Die beiden sprachen so gut wie nie von Petunias Vergangenheit. Bis vor wenigen Monaten …
Vernon hatte sich mittlerweile in Rage geredet und sein Gesicht nahm einen besorgniserregenden Rotton an. „Liebling …", versuchte Petunia es zaghaft. Doch es schien schon zu spät. Die Adern, die Vernons Handrücken und Schläfen durchzogen, waren dick angeschwollen. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und einzelne Spucketropfen entkamen seinem Mund bei jedem Wort. Ganz wie wenn Dudley sich in einen seiner jähzornigen Wutanfälle versteifte, würde es Vernon erfahrungsgemäß nicht gelingen, sich selbstständig wieder zu beruhigen, was furchtbare Folgen haben konnte. Petunia wusste, dass auch sein Vater schon cholerisch gewesen war – das andere Thema, über das ihr Mann sich konsequent ausschwieg –, und konnte nur schwer mit den Auswirkungen, die die Krankheit auf ihn hatte, leben.
Dank Dudley wusste sie allerdings nur zu gut, wie sie mit diesen Anfällen umzugehen hatte: Sie befahl der stotternden Bedienung harsch, ein Glas Wasser zu bringen und legte Vernon entschieden eine kühle Hand auf den Arm. Mit etwas zu schriller Stimme sprach sie beschwörend auf ihn ein: „Reiß dich jetzt zusammen, Liebling. Sonst bestellen wir nachher keinen Nachtisch." Gemessen an der Tatsache, dass Vernon anders als sein Sohn kein Kleinkind war, zeigte diese simple Drohung große Wirkung. Sie kam in gewisser Weise Liebesentzug gleich und es schmerzte Petunia, zu solch drastischen Mitteln greifen zu müssen.
Stirnrunzelnd beaufsichtigte sie, wie Vernon krampfhaft das Wasser hinunterwürgte. Er sah müde und abgekämpft aus, was nach einer 60-Stunden Woche nicht überraschen konnte. Die Tränensäcke unter seinen Augen waren geschwollen, während sein erschlafftes Gesicht nach dem Abklingen der Röte aschfahl wirkte. Seit Harrys Erscheinen waren seine Anfälle häufiger geworden, da war sie sich sicher. Anders als nach Dudleys Geburt, die Vernon mit Freude und Stolz erfüllt hatte, merkte Petunia in letzter Zeit, wie oft ihr Mann sich die letzten Kontoauszüge ansah, Rechnungen aufhob und länger im Büro blieb als gewöhnlich.
Spielen auf dem Wohnzimmerteppich, das ausgedehnte Sonntagsfrühstück und gemeinsame Ausflüge am Wochenende kamen immer seltener vor. Immer war Harry dabei und brachte ihr Gleichgewicht durcheinander. Gab Dudley Anlass zur Eifersucht und Vernon Grund zur Ungeduld. War ein Fremdkörper in ihrem Gefüge.
Wie konnte sie auch nur daran denken, ihr Leben, ihre Familie, ihren Mann und ihre Beziehung durch ein weiters Kind zu belasten? Durch die zusätzliche finanzielle Last würden sie sich ihren gewohnten Lebensstandard unmöglich weiterhin leisten können. Keine Urlaube in der Türkei, keine erstklassige Betreuung für Dudley und sicherlich später keine Privatschule. Ganz zu schweigen von Vernons fragiler Gesundheit, von der letztendlich der Lebensunterhalt ihrer Familie abhing. Und bei der Vorstellung eines Säuglings, der schutzlos Harrys unvorhersehbaren Streichen ausgeliefert war, wurde ihr fast schlecht vor Angst.
Mit glasigem Blick registrierte sie, wie Vernon der nunmehr kleinlauten Bedienung ein großzügiges Trinkgeld zusteckte und spürte Tränen der Rührung in sich aufsteigen. Sie fühlte das überwältigende Bedürfnis, das letzte bisschen Glück und Vertrautheit, das ihr seit dem Tod ihrer Eltern, ihrer Schwester und der Ankunft des ungewollten Kindes geblieben war, zu bewahren.
Später im Auto war Vernon wieder der Alte und scherzte vergnügt vor sich hin. „Du bist so still, Liebes.", bemerkte er schließlich. „Bedrückt dich was? Was treiben die Kinder?" Schuldbewusst löste Petunia die Hand von ihrem Bauch, wo sie sie unbeabsichtigt abgelegt hatte. Betont sorglos antwortete sie: „Nichts, gar nichts. Bei den Kindern ist alles wie immer."
