Es war an ihrem ersten Weihnachten mit Harry, als Petunia sie zum ersten Mal sah.
Schon seit Tagen hatte Dudley bemerkt, dass seine Eltern sich anders verhielten, geheimnisvoll tuschelten und Dinge vor ihm verbargen. Neugierig und scharfsinnig, wie er war, versuchte er mit verbissenem Durchhaltevermögen das Geheimnis der Feiertage zu lüften. Vernons Versuche, ihn mit der Idee eines Weihnachtsmanns vertraut zu machen, hatte Petunia im Kern erstickt. Es gab in ihrem Leben wahrlich genug alte haarige Männer mit langen Mänteln und fliegenden Gefährten, die die Lorbeeren für ihre Mühen einheimsten. Die verkorkste Ansicht, Magie und fleißige Elfen könnten ehrliche Arbeit ersetzen, sollte auf keinen Fall Eingang in Dudleys Erziehung finden.
Weshalb sie besonders streng darauf achtete, Harry auf jede erdenkliche Art in die Hausarbeit einzubinden. Er war mit seinen anderthalb Jahren genau im richtigen Alter, um Schuhe zu putzen, Socken zu sortieren oder Staub zu wischen. Er passte auch problemlos in den Schrank unter der Treppe, wo Petunia Putzmittel und Kutterschaufel aufbewahrte.
Am Nachmittag des 24. Dezember war sie gerade dabei, ihren Großputz zu beenden. Dudley spielte friedlich auf dem Wohnzimmerteppich mit dem neuen Feuerwehrauto, welches eigentlich für Weihnachten gedacht gewesen war, das Petunia ihm aber schon einen Tag vorher gegeben hatte, da er nicht aufhören wollte zu weinen.
Harry dagegen hatte sie losgeschickt, um Holzpolitur zu holen. Vernon sollte innerhalb der nächsten Stunde nach Hause kommen, um seine wohlverdiente Weihnachtspause zu beginnen. Würde er wieder einen Stollen aus dieser deutschen Bäckerei, wo er gerne seine Mittagspause verbrachte, mitbringen? In dem Fall bräuchte sie sich keinen Gedanken um den Nachtisch ihres sorgfältig geplanten Weihnachtsessens zu machen. Obwohl der weiß glasierte Kuchen bereits seit Wochen in ihrer Gefriertruhe stand und darauf wartete, von ihr und Dudley verziert zu werden. Doch vielleicht würden sie sich das auch für den Besuch von Tante Marge aufheben …
Wo blieb nur dieser Junge mit der Politur? Sie richtete sich aus ihrer übers Spülbecken gebeugten Position auf, wobei sie darauf achtete, die Bauchmuskeln nicht zu stark zu beanspruchen. Es war mehr ein Drehen als ein Hochziehen des Oberkörpers. Ein Vermeidungsverhalten, das sie sich angewöhnt hatte, um die hin und wieder auftretenden Unterleibsschmerzen zu vermeiden. Ihr Körper gewöhnte sich an die Umstellung.
Ihre Hände an der Schürze abtrocknend ging sie in den Flur und fand die Tür zum Schrank unter der Treppe geschlossen. Stirnrunzelnd zog sie sie auf und spähte in den staubigen Verschlag. Sie tastete nach dem Drehschalter und eine kleine Glühbirne erhellte den Raum. So oft Petunia auch versuchte, Spinnweben und Wollmäuse aus dem Kabuff zu entfernen, sie tauchten innerhalb kürzester Zeit wieder unverändert auf. Es war wie verhext … Der Junge war offensichtlich nicht da. Vermutlich hatte er unterwegs seinen Auftrag vergessen und drückte sich irgendwo im Haus herum.
Petunia griff nach einer Flasche Holzpolitur und war drauf und dran das Licht zu löschen, als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Bevor sie ihre Finger bremsen konnte, erlosch das Licht. Hektisch fummelte sie an dem Schalter herum, doch als sie wieder etwas sehen konnte und in den Winkel starrte, wo sie etwas gesehen hatte, fand sie keine Spur von einem … war es ein Gesicht gewesen? Das Gesicht eines Kindes? Sie fühlte ein Ziehen im Unterleib und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. „Harry! Harry, wo steckst du?", keifte sie. Einen Moment herrschte Stille, dann hörte sie ein Geräusch hinter sich.
„Dada, Una!" Erschrocken fuhr sie hoch, stieß sich den Kopf an der niedrigen Decke und hielt sich den schmerzenden Bauch. Wütend schaltete sie das Licht aus und knallte die Tür zum Schrank unter der Treppe ins Schloss. In der Tür zur Küche stand Harry und winkte stolz mit einer angebrochenen Flasche Holzpolitur. Petunia schnappte sie ihm aus der Hand und stapfte wortlos an ihm vorbei.
Sie war sich sicher, ein Gesicht gesehen zu haben. Grüne Augen wie die Harrys. Doch wie sollte der Junge an zwei Orten auf einmal sein? War das möglich? Für seinesgleichen? Aber war es wirklich Harry gewesen? Oder ein anderes Kind? Es war ihr bekannt vorgekommen…
„Frohe Weihnachten!", dröhnte es in diesem Moment von der Tür. Dudley sprang auf und rannte auf seinen Vater zu während Harry sich hinter einen Sessel verzog. Vernon stand beladen mit Mantel und Schirm, Stollen und Truthahn im Flur und empfing seinen Sohn mit offenen Armen. Auch Petunia holte sich ihren Begrüßungskuss ab und freute sich über die tröstliche Stabilität, die ihr Mann mit sich brachte. Sie setzte eine festliche Miene auf und nahm ihm die Einkäufe ab. An das Kind im Schrank dachte sie nicht mehr.
„Der Trifle war mal wieder herrlich, Petunia! Wirklich, ganz wunderbar. Hätte noch ein bisschen mehr Sherry vertragen." Magda zwinkerte schelmisch, während sie sich noch ein Glas genehmigte. Vernon kicherte leicht beschwipst und prostete ihr zu.
Sein Gesicht war bereits gerötet, doch Petunia brachte es nicht übers Herz, ihn an Weihnachten zurechtzuweisen. Zumal sie sich selbst zum ersten Mal seit langem eine Auszeit von ihrer Aufgabe als ewige Aufseherin und Bestimmerin gönnte. Dudley war nach einem langen Tag voll Süßigkeiten, Weihnachtsliedern und Geschenken erschöpft auf dem Sofa eingeschlafen und Harry verbrachte den Abend bei Mrs Figg, um Dudley nicht die Laune zu verderben. Petunia wusste nicht, ob die alte Dame ihn beschenkt hatte, doch mehr als trockenen Früchtekuchen würde sie ihm wohl kaum anzubieten haben. Froh, Teil einer erwachsenen Runde zu sein, anstatt sich den lieben langen Tag in Babysprache zu unterhalten, lauschte sie Vernons Schwester, die es verstand, gewöhnliche Begebenheiten und Bekanntschaften komisch überspitzt wiederzugeben. Ihr Humor war schneidend und oft etwas boshaft, doch das störte Petunia nicht. Oft wünschte sie sich selbst, so offen und schlagfertig wie ihre Schwägerin zu sein.
Nur Magdas Hund, der nur ein Exemplar ihrer zahlreichen reinrassigen Bulldoggen war, konnte sie nicht leiden. Er sabberte auf den Teppich, bettelte am Tisch und leckte jedem ungefragt die Hand.
Verstohlen wischte Petunia mit einer Serviette den gläsernen Couchtisch ab, der unter der Liebe des Hundes gelitten hatte. Sie beugte sich vor, um flüchtig ihr Spiegelbild zu überprüfen und stutzte. Das Gesicht, das ihr entgegenschien, war nicht ihres. Rote Locken umgaben den runden Kopf und grüne Augen sahen sie mit stechendem Blick an. Sie fühlte das vertraute Ziehen im Bauch und stieß ein überraschtes Glucksen aus.
„Arme Petunia, du hast eben noch nie viel vertragen.", lachte Magda amüsiert. Vernon legte seiner Frau einen Arm um die Schultern. „Alles in Ordnung, Liebling?" Das Gesicht, das Kind, war verschwunden. Petunia gluckste erneut und knetete um Fassung ringend ihre Serviette in den Händen. „Du bist sicher hundemüde, nach dem Tag mit dem kleinen Racker.", bemerkte Magda mit Blick auf ihren schlafenden Neffen. „Dudley hat damit nichts zu tun!", widersprach Petunia spitz. Vernon und Magda tauschten vielsagende Blicke. „Ich bringe ihn ins Bett, es ist schon längst Zeit."
Sie wehrte Magdas Versuche, Dudley einen Gutenachtkuss zu geben, erfolgreich ab, und trug ihn schnaufend die Treppe hinauf. Mühsam zog sie seine speckigen Arme und Beine aus dem kleinen Anzug mit Fliege, die er anlässlich des Feiertags trug. Sie fuhr mit den Fingern durch seine goldblonden Locken und dachte, wie ähnlich sie den Locken des Kindes waren.
Es war wohl ein Mädchen gewesen, auch wenn sich das in einem so jungen Gesicht noch schwer sagen ließ. Was hatte das zu bedeuten? Konnten ihre Augen ihr einfach einen Streich gespielt haben? Oder war es ein Trick? Allerdings konnte sie den Vorfall dieses Mal nur schwer mit Harry in Verbindung bringen, der sich mehrere Häuser entfernt von ihr aufhielt und bestimmt schon schlief. Sie legte eine Hand auf den immer noch schmerzenden Bauch und lehnte sich gegen die geschlossene Tür zu Dudleys Kinderzimmer.
Wer war das fremde Kind?
