Seit diesem Vorfall vergingen selten mehr als zwei Wochen, in denen sie das Kind nicht in irgendeiner Form wahrnahm.
Es blickte ihr aus reflektierenden Oberflächen entgegen, was Petunias ständigen Drang, das Haus zu putzen, noch verstärkte. Manchmal versteckte sich das kleine Mädchen, nunmehr an Rock mit Bluse zu erkennen, hinter Gardinen oder Blumentöpfen. Oft saß es auch gut sichtbar mitten auf dem Rasen, auf dem Wohnzimmerteppich oder einem Fenstersims, was Petunia Gelegenheit gab, es näher zu betrachten. Obwohl das Kind ihr immer noch bekannt vorkam, konnte sie nun entschieden feststellen, dass sie es noch nie in einem anderen Kontext, etwa in Dudleys Kindergarten oder auf der Straße, gesehen hatte. Es sprach nie ein Wort oder gab sonst ein Geräusch von sich. Es musste etwas jünger als die beiden Jungen sein, konnte aber schon gut stehen und gehen und etwas in seinem Blick wirkte sehr erwachsen. Das Mädchen war durchaus hübsch, niedlich mit den rosigen Pausbäckchen und hellroten Ringellocken. Allein die grünen wissenden Augen weckten ihr Unbehagen.
Denn, so seltsam das klang, sie fürchtete sich sonst nicht im Geringsten vor der unerklärlichen Erscheinung, die wie ein Geist zu allen möglichen Zeiten überall auftauchte und die sich nur Petunia zeigte. Sie fragte sich sogar manchmal, wenn sie das Mädchen schon länger nicht gesehen hatte, ob es ihr gut ging, dort, wohin sie immer wieder verschwand. Petunia hatte das Gefühl, dass dieser Ort womöglich irgendwo in ihr selbst lag, im Ziehen ihres Unterleibs, in einer dunklen Ecke ihres Geistes oder zwischen den Erinnerungen an ihre tote Schwester. Die Ähnlichkeit, die das Kind mit Lily hatte, war nicht zu leugnen. Besonders der schelmische Zug um den Mund und die Art, wie es manchmal lange Zeit bewegungslos dasaß, um fallende Regentropfen oder wirbelndes Herbstlaub zu betrachten, versetzten Petunia in ihre eigene Kindheit zurück.
Sie hatte mit Vernon nie über diese Erscheinung, den Spuk, die Heimsuchung, gesprochen. Zu groß war ihre Angst, dieser letzte Beweis ihrer genetischen Verkorkstheit könnte ihn doch noch dazu bewegen, sie zu verlassen. Und was würde dann aus ihr und Dudley, wohl oder übel auch Harry und … dem Kind?
Abgesehen von dieser Sorge gab es auch keinen Grund, Vernon zu behelligen. Das Mädchen, welches sie insgeheim Deborah getauft hatte, stellte keine Bedrohung für irgendjemanden dar. Sicher, die ersten paar Male, als Petunia sie gesehen hatte, war sie erschrocken, doch mittlerweile hatten ihrer Besuche etwas Tröstliches und brachten mehr Farbe in ihren Alltag. Nur einmal erwog sie, sich jemandem wegen Deborah anzuvertrauen.
Dudley war bereits vier und durfte zum ersten Mal mit Vernon in den Baumarkt fahren, wo sein Vater ohnehin gern seine Samstage verbrachte. Da ihr Sohn sich zurzeit mitten in einer intensiven Trotzphase befand, war Petunia nicht allzu erpicht darauf gewesen, die beiden zu begleiten. Strahlend ob der ungeteilten Aufmerksamkeit seines Vaters war Dudley aus dem Haus marschiert und beinahe ohne Hilfe in seinen Kindersitz geklettert.
Harry winkte durchs Küchenfenster, bevor Petunia ihn ins Wohnzimmer abkommandierte, wo bereits eine Kiste voll Silberbesteck darauf wartete, poliert zu werden.
Petunia schaltete munter summend das Radio in der Küche ein und lauschte eine ihrer Lieblingsshows während sie Kartoffeln für das Mittagessen schälte. Sie dachte an nichts bestimmtes, ließ ihre Gedanken über die Ereignisse der kommenden Woche streifen. Dudley brauchte unbedingt neue Hosen. Aus allem, was sie ihm kaufte, wuchs er nur allzu schnell wieder heraus. Außerdem hatten sie einen Arzttermin, für den sie ihn im Voraus mit guter Zurede und vermutlich viel Schokolade bestechen mussten. Sie und Vernon wollten einen Urlaub auf den Malediven buchen, hatten aber noch nicht das richtige Hotel gefunden, geschweige denn eine geeignete Bleibe für Harry während dieser Zeit.
Sie überlegte gerade, doch noch einmal Magda um Hilfe zu bitten, als die Stimmen aus dem Radio stockten, schließlich ganz abbrachen und in ein knisterndes Rauschen übergingen. Nur vereinzelte verzerrte Gesprächsfetzen waren zu hören. Ungehalten gab Petunia dem kleinen Gerät einen Klaps und drehte am Senderknopf, doch nichts half. Sie nahm sich vor, Vernon das Problem anzuvertrauen, als sie in der eintretenden Stille ein neues Geräusch wahrnahm.
Es war Harrys Stimme, die aus dem Wohnzimmer drang. Neugierig ließ Petunia ihre Kartoffeln zurück und nährte sich leise der angelehnten Tür.
Durch den Spalt sah sie Harry, der seine Arbeit ebenfalls niedergelegt hatte und vor dem Kamin stand. Erst sah es so aus, als würde er sich mit den gerahmten Fotos auf dem Kaminsims unterhalten, doch dann bemerkte Petunia das zweite, kleinere Kind. Deborah war, anders als die Jungen, über die Jahre nicht gewachsen, sondern glich immer noch einem etwa einjährigen Mädchen. Nun stand sie dicht neben Harry und schien seinen Ausführungen aufmerksam zuzuhören.
Zu verblüfft, um einzugreifen, beobachtete Petunia wie Harry nacheinander auf die Fotos deutete und Deborah seelenruhig die abgebildeten Personen benannte und beschrieb. „Und das ist Tante Magda, sie hat viele Hunde und ist fies.", erklärte er gerade nüchtern. Auf ein Bild von Petunia, Vernon und Dudley deutend, sagte er: „Das sind nochmal Onkel und Tante und Dudley. Sie haben sich sehr lieb. Und Dudley hat die tollsten Spielsachen." Mit leiser Stimme fügte er hinzu: „Aber ich darf nicht damit spielen, sonst wird Tante Tuna sehr böse." Deborah nickte ernst und drehte den Kopf, um Petunia direkt anzusehen, so als hätte sie ihre Anwesenheit gespürt.
Ihr stechender Blick löste eine Wut in Petunia aus, wie sie sie noch nie verspürt hatte. Sie war eifersüchtig, weil Deborah sich nun auch jemand anderem gezeigt hatte. Noch dazu Harry, das Balg, dass ihr, solange es lebte, das Leben vermiest und ihr alles weggenommen hatte: Ihre Schwester, ihre Familie, ihren Seelenfrieden und nun auch noch Deborah. Noch dazu konnte er mit ihr sprechen und Reaktionen von ihr provozieren, was Petunia nie gelungen war. Zu sehen, wie die beiden zu den Fotos aufblickten und mit kindlicher Ehrlichkeit selbstgerecht über ihre Familie urteilten, traf Petunia bis ins Mark. Sie wusste, dass sie Dudley bevorzugte. Natürlich, sie war seine Mutter und wer würde es sonst tun? Doch zu hören, wie Harry diesen Unterschied ganz selbstverständlich feststellte, führte ihr die Ungerechtigkeit ihres Handelns vor Augen.
Sie hatte nie grausam und bitter sein wollen, nie die Rolle der bösen Pflegemutter angestrebt. Wusste sie doch, dass der Junge nichts für sein Schicksal und seine Herkunft konnte und dennoch verabscheute und fürchtete sie seine Andersartigkeit zutiefst. Sie verabscheute die Heimlichtuerei, das Stigma und die Peinlichkeit, der sie seinetwegen ausgesetzt war. Die zusätzliche Last, die er ihr aufbürdete und die sie mit niemandem teilen konnte. Die Ironie des Schicksals, die sie für immer mit seiner Abartigkeit verband, Jahre nachdem sie den geheimen Wunsch, so zu sein wie seinesgleichen, in sich abgetötet hatte.
Warum konnte Harry Deborah sehen? War es, weil er … anders war? Konnte das der Grund sein, weshalb Petunia selbst sie wahrnahm? Und war Deborah dann etwa auch … anders? Petunia wusste nicht, was sie getan hätte, hätte ihr eigenes Kind magische Fähigkeiten gezeigt. Wäre dann alles anders gekommen?
Harry hatte mittlerweile bemerkt, dass Deborah ihm nicht mehr zuhörte und folgte ihrem Blick. Sein Gesicht versteinerte als er die wütende Miene seiner Tante sah. Er war schon klug genug, um zu verstehen, dass Vernachlässigen seiner häuslichen Pflichten sowie üble Nachrede hart bestraft wurden. Und wie sonst sollte sie ihn auch kontrollieren? Wie konnte sie hoffen, ihre Familie zu schützen, wenn er nicht mehr Angst vor ihr hätte?
Ohne recht zu wissen, was sie tat, packte Petunia Harry am Arm und schleifte ihn grob in den Flur. Er schrie vor Schmerz und strampelte um sich, doch es kümmerte sie nicht. Sie riss die Tür zum Schrank unter der Treppe auf und stieß Harry hinein. Deborah folgte ihm wie ein Schatten und das letzte, was Petunia sah, bevor sie die Tür zuschlug, waren zwei Paare weit aufgerissener grüner Augen, die sie angsterfüllt anblickten.
