„DENK AN DEINEN LETZTEN, PETUNIA!"
Wie vom Donner gerührt starrte die versammelte Familie Dursley auf das zu Boden schwebende Stück Papier. Petunia fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie zitterte trotz des warmen Sommerabends. In der Zeit, die Dumbledores heulender Brief brauchte, um auf den Teppich zu fallen, liefen die Bilder des vergangenen Abends wie eine Filmrolle vor ihren Augen ab: Dudley, der blass, schweißüberströmt und sprachlos ins Wohnzimmer wankte. Gestützt auf Harry, der in einem Fort von magischen Monstern und Verteidigungsflüchen erzählte. Eulen über Eulen mit Post für den Jungen voller kluger Ratschläge seiner durchgeknallten Zaubererfreunde. Petunia fühlte sich an die Zeit erinnert, als sie Harry aufgenommen hatte und folglich ebenfalls von ekelhafter Eulenpost überrannt worden war. Lauter gut gemeinte Ratschläge und Nachrichten völlig Fremder, die sich nicht einen Tag um den Jungen gekümmert hatten oder auch nur im Traum daran dachten, aufzutauchen oder sie in irgendeiner Weise wirklich zu unterstützen.
Vernon hatte schließlich verständlicherweise die Nerven verloren, doch selbst Petunia war überrascht über die endgültige Verbannung, die er Harry androhte. Schon als Harry vor zwei Jahren nach dem … Zwischenfall mit Magda einfach davongelaufen war, hatte sie sich Sorgen um seinen Schutz gemacht, obwohl sie natürlich auch unglaublich wütend auf ihn war und, soviel sie wusste, keine konkrete Gefahr bestand.
Doch heute war alles anders. Jedenfalls wenn es stimmte, was Harry erzählte: Lord Voldemort, der Mörder ihrer Schwester, war zurückgekehrt. Und seine Handlanger, denn dies waren die schrecklichen Dementoren so wie sie das verstanden hatte, machten bereits Jagd auf den Jungen. Wie konnte er es wagen, ohne ein Wort davon in den sicheren Schoß ihrer Familie zurückzukehren, und sie alle großer Gefahr auszusetzen?
Sie hatte es immer gewusst, in den Potters glomm kein einziges Fünkchen Empathie, ganz zu schweigen von gesundem Menschenverstand. Und ausgerechnet Dudley, ihr Engel, ihr Lebensinhalt, musste den schrecklichen Preis bezahlen. Er saß nun, immer noch schlotternd, in einem Sessel und lutschte mit abwesendem Blick an einem Eis Lolli, den Vernon ihm zugesteckt hatte. Ihr armer Schatz …
Hatte sie es nicht schon zu beginn vorhergesagt? An dem Morgen, als sie den Jungen eingewickelt in eine Decke und mit nichts als den Kleidern, die er trug, auf ihrer Türschwelle gefunden hatte, schon damals hatte sie sofort gewusst, dass sie nicht als Ärger mit ihm haben würde. Dass das Drama, die Unsicherheit, die allgemeine Abartigkeit des Lebens, das ihre Schwester für sich gewählt hatte, langsam, aber sicher, in ihr eigenes sickern würde.
Und wozu? Damit die zweifelhafte Theorie eines alten Zaubermeisters – oder was auch immer er war – sich nach all den Jahren doch noch als blanker Unsinn herausstellte? Von wegen ‚Schutz durch Lilys Blut, dein Blut'! Wenn das stimmte, warum war Harry dann angegriffen worden? Warum war Dudley angegriffen worden?
Was war diese Theorie anderes als eine faule Ausrede, mit der sich diese Leute ganz einfach die Bürde eines besitzlosen, elternlosen Kindes vom Hals geschafft hatten? Und der Witz ging mal wieder, wie immer, auf die Kosten ihrer Familie.
Ihrer Familie von normalen Leuten, die es wagten, ein gewöhnliches, gesellschaftskonformes, komfortables Leben zu führen. Während diese … Freaks kopflos herumrannten und arglosen Leuten Schweineschwänze, ewig wachsende Zungen verpassten oder ihre Kamine in die Luft jagten. Welche Art von Beistand war von ihnen zu erwarten?
Am liebsten hätte Petunia Dumbledores unverfrorenen Brief in tausend Stücke zerrissen. Was dachte dieser Mann denn, worum ihre Gedanken seit Jahren pausenlos kreisten? Sie dachte stets an seinen letzten Brief und was sie wohl hätte anderes tun können, als seinen Anweisungen Folge zu leisten. War sie denn dumm genug, sich mit Menschen anzulegen, die einen im besten Fall aufbliesen wie einen Ballon, und im schlimmsten Fall einfach umbrachten?
Wie es aussah, hatte sie nun die Wahl, welcher dieser Schreckgestalten sie in die Hände spielen sollte: Dumbledore oder Lord Voldemort.
Beides bedeutete Zwang und Gefahr, doch ließ sie den Jungen tatsächlich gehen, hatten sie und ihre Familie vielleicht doch noch die Chance auf ein glückliches Leben fern aller Zauberei. Sie spürte die Blicke im Raum auf sich ruhen und wusste, sie musste eine Entscheidung treffen.
Da spürte sie ein sanftes Zupfen an ihrem Hosenbein. Neben ihr stand Deborah und sah mit flehenden grünen Augen zu Petunia auf. Deborah, das Kind, das sie nie gehabt hatte. Gegen das sie sich bewusst entschied, weil das Schicksal ihr eine andere Aufgabe zugeteilt hatte. Das vielleicht auch magisch gewesen wäre. Das sie jeden Tag schmerzlich vermisste. Das wahre Opfer, das sie für die Sicherheit Harrys und ihrer ganzen Familie gebracht hatte.
Lily war nicht die Einzige, die sich für andere hergab. Harry hatte seine Mutter verloren, doch Petunia hatte für ihn ihr Kind aufgegeben. Dieses Opfer durfte nicht umsonst gewesen sein. Schickte sie Harry jetzt fort und riskierte damit seine Sicherheit, wäre ihr und auch sein Leid der letzten Jahre umsonst gewesen. Sie spürte, dass dies die Einsicht war, zu der Deborah sie bringen wollte.
Petunia verstand, dass sie schon lange nicht mehr aufgrund von Dumbledores Anweisungen handelte. Sie hatte so viel geopfert und riskiert, sie war nicht bereit, all das für nichtig zu erklären.
Der Brief berührte den Boden als sie mit fester Stimme sagte: „Nein! Der Junge geht nirgendwohin. Er bleibt hier."
