Kapitel 17: Eine Kreatur die kriecht und lügt und zerreißen muss, was immer sie liebt
Zur großen Verwunderung aller Bediensteter im Schloss von Krolock, wurde der Fremde gastfreundlich aufgenommen. Jedermann hatte erwartet, der Hausherr würde ihn ohne viel Federlesen vor die Tore setzen lassen. Sie alle hätten behauptet, ihr Herr sei ein gefühlskalter Mensch, der sich nur an Bestimmungen und alte Gesetzestexte klammerte, sich aber kaum für ihre Auswirkungen auf seine Untergebenen, geschweige denn für irgendjemand, interessierte. Keine der Personen, die gegenwärtig beim Grafen in Lohn und Brot standen, hatte die Zeit erlebt, in der er nicht der einzige Bewohner des Schlosses war. Es wurde zwar noch immer gemunkelt, es gäbe einen Sohn, der nichts mit seinem Vater zu schaffen haben wolle, aber niemand von den Leuten im Schloss hatte ihn je gesehen. Seine Exzellenz war schweigsam und düster, verschlossen an seinen guten Tagen und sarkastisch, kalt und hart an den meisten anderen. Noch dazu konnte seine Kälte sehr schnell in Zorn und Ungeduld umschlagen. Niemand hätte dem ‚kaltherzigen Bastard' zugetraut, dass ihn die missliche Lage eines anderen Wesens berühren könnte.
Und doch war er es, der die abgerissene Gestalt des Fremden stützte, als die beiden aus der Wachstube des Torhauses heraus traten. Die Gaffer an den Fenstern staunten nicht schlecht, aber es war nichts im Vergleich zu dem, was diejenigen erlebten, die sich zum Schwatzen in die Halle des Schlosses zurückgezogen hatten. In gebeugter Haltung, da er den kleineren Mann stützte, trat Graf von Krolock ein. Einen Arm des Fremden hatte er sich um den Nacken gelegt und hielt dessen Handgelenk fest. Der andere Arm des Grafen umfing die Taille des jungen Mannes, denn der zerlumpte und entkräftete Neuankömmling hätte sich alleine kaum auf den Beinen halten können. Die hellen Augen richteten sich sofort auf die versammelten Schwätzer, die sogleich erschrocken verstummt waren, als ihr Herr unverhofft und leise hereingekommen war. Er warf ihnen unter gerunzelten Brauen einen missbilligenden Blick zu. Aber das war der Wunder nicht genug – an diesem Abend blieb es bei dem anklagenden Blick und einem herrischen Befehl, der sofort auf dem Fuße folgte.
„Für Euch habe ich Arbeit – die Zeit zum Tratschen ist vorbei! Heizt Wasser! Ein Bad für meinen Gast ist bereit zu machen. Außerdem soll eines der besten Gästezimmer für ihn vorbereitet werden. Aber rasch! Desweiteren muss er mit allen notwendigen Kleidungsstücken versorgt werden. Ihr werdet also die Bestände im Schloss durchsuchen und sehen, was sich an halbwegs Passendem finden lässt. An die Arbeit mit euch!" Leben kam in die versammelten Dienstboten, und wie eine Ameisenschar eilten sie davon, um seine Befehle auszuführen – sichtlich froh, seinem Zorn dieses Mal so leicht entkommen zu sein.
Victor von Krolock brachte seinen Gast nicht ohne Mühe die Treppen hinauf in den Salon im zweiten Stock, wo er vor einer Weile noch am Fenster gestanden hatte, um in den Regen hinaus zu starren. Der Hausherr führte den geschwächten jungen Mann zu einem Lehnstuhl nahe beim Feuer, das in dem großen, offenen Kamin brannte und dieser ließ sich dankbar hinein sinken. „Verzeiht, dass ich Euch solche Unannehmlichkeiten bereite, Exzellenz", brachte er schließlich mühsam und mit heiserer Stimme hervor, als er einen Moment zu Atem gekommen war. „Unsinn!", antwortete Victor bestimmt und winkte mit einer nachlässigen Geste ab. „Die Regeln der Gastfreundschaft sind recht eindeutig." Jean-François Rochefort lachte bitter auf. Ein Laut, der viel zu düster klang und so gar nicht zu seiner Jugend passte. „Ihr würdet staunen, Eure Exzellenz, wie wenige Regeln dieser Tage noch bestand haben!", brachte er schließlich tonlos hervor und dränge sich noch dichter in die Ecke seines Sessels. Victor betrachtete ihn einen Moment lang eingehend, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen ein wenig verengt. Was auch immer den jungen Mann vor die Mauern seines Schlosses geführt hatte, es musste ein schreckliches Ereignis gewesen sein. „Das mag sein", erwiderte der Graf dann ruhig. „Aber das muss deswegen nicht überall der Fall sein." Er betrachtete die in dem Sessel zusammengekauerte Gestalt noch einige Herzschläge länger und nahm dann in einem Sessel ihm gegenüber Platz. „Seid versichert, dass Ihr an diesem Ort eine sichere Zuflucht gefunden habt und auf meine Gastfreundschaft zählen könnt," fuhr er dann fort. „Schon die alten Griechen erachteten es als eine Ehre, einen weitgereisten Gast aufzunehmen. Es hieß, es bringe Glück. In anderen Kulturen ist es fast so etwas wie ein Recht." Victor zuckte leicht mit den Schultern und schenkte seinem Gast ein charmantes Lächeln. Aber es verblasste schnell wieder, als er bemerkte, wie ein Schauder den Fremden überlief. „Ihr friert?" Der junge Mann, der trotz der Nähe zum Feuer die Arme fest um sich geschlungen hatte, nickte schwach. Ohne darüber nachzudenken, stand Victor auf und streifte den schweren Mantel aus dunklem Stoff ab, den er trug. „Hier!", sagte er dann auffordernd. „Er wird Euch sicher zu groß sein, aber behaltet ihn einstweilen." „Ich kann unmög…", begann der junge Mann schwach, wurde aber von einer herrischen Geste zum Schweigen gebracht. „Keine Widerrede, ich bestehe darauf!" beharrte der Ältere und verschränkte die Arme vor der Brust. „Erzählt mir, was Euch hierher geführt hat, sobald Ihr dazu in der Lage seid. Berichtet mir von Euren Erlebnissen. Das ist einem einsamen, alten Mann vollkommen genug. Es kommen selten Besucher in diese Hallen." Die Stimme des Grafen klang bestimmt und resolut. Sei es nun, dass er begriff, dass es keinen Sinn hatte, sich gegen die Großzügigkeit seines Gastgebers aufzulehnen, oder, dass er die Regeln kannte, welche die angemessene Reaktion diktierten, der junge Rochefort nahm den Mantel mit einigen gemurmelten Dankesworten entgegen. Victor quittierte es mit einem knappen Kopfnicken, zupfte dann die Hemdsärmel und den Saum seiner langen Weste zurecht und strich das durch den Abend mittlerweile sichtbar verwirrte lange Haar über seine Schultern zurück, bevor er sich elegant in den Sessel gleiten lies. Er hatte dem Gast etwas Zeit verschafft, sich in die Leihgabe zu kleiden, aber er war noch immer damit beschäftigt, sich mit deutlicher Mühe in das Kleidungsstück einzuhüllen, das in der Tat zu groß für ihn war. Victor war ihm dabei nicht behilflich, konnte er es doch nur allzu deutlich wahrnehmen, dass es dem jungen Menschen schwer genug fiel, all die Gaben und freundlichen Aufmerksamkeiten anzunehmen, gleichgültig wie nötig er sie auch haben mochte. Er schien einen natürlichen Stolz zu haben, sein Gebaren zeigte ordentliche Manieren. Das gefiel Victor von Krolock. Auch seine Muttersprache schien ein Indiz dafür, dass es sich bei ihm nicht um einen dahergelaufenen Landstreicher oder Tunichtgut handelte. Die nächste Zeit versprach, kurzweilig zu werden, und allein dafür hatte er sich die ihm gewährte gastfreundliche Aufnahme in diesen Haushalt verdient, dachte der Adlige bei sich. Als habe er den Blick gespürt, in dem sich distanziertes Wohlwollen und Interesse mischten, und beides war dieser Tage bei seinem Gegenüber nicht allzu häufig, blickte der junge Mann auf. Als er den auf ihn gerichteten Augen begegnete, sah er jedoch rasch wieder zu Boden, ehe er erneut sprach, diesmal deutlicher. „Habt Dank, Exzellenz. Ihr seid zu freundlich – und ich kann es Euch nur damit vergelten, dass ich Euch in einer solchen Nacht Eurer Ruhe beraube!" Victor schüttelte langsam den Kopf und schlug gelassen ein Bein über das andere. „Keineswegs, Herr Rochefort. Eine seltene Krankheit zwingt mich schon seit vielen Jahren dazu, die Nacht zum Tage zu machen. Eure späte Ankunft bereitet mir daher viel weniger Unbill als Ihr glaubt. Aber seid gewarnt: man wird versuchen, Euch allerhand wilde Geschichten über mich zu erzählen." Victor lachte spöttisch auf und schüttelte in Missbilligung den Kopf, die nur halb gespielt war. „Ein kaum erklärbares, seltenes Leiden wie meines hat in unserer abgelegenen Gegend schon immer haarsträubende Gerüchte ausgelöst. Vielleicht ist es die Abgeschiedenheit der Berge, wer weiß?" Er machte eine hilflose Geste mit einem Arm. „Wenn Ihr länger gebraucht hättet, die Mauern meines Schlosses zu erreichen, so wäret Ihr gewiss in den ersten Schnee geraten. Er wird sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen", erzählte Victor ernst weiter. Wieder warf ihm der junge Mann beschämt einen kurzen Blick zu, ehe er die Augen rasch wieder abwandte, bevor er sprach. „Ich habe keine Ahnung, wo ich mich hier befinde, Exzellenz. Ich habe auf der … langen Reise vollkommen die Orientierung verloren", entgegnete Jean-François verlegen, senkte den Kopf und zupfte befangen an dem geliehenen Mantel herum, als wollte er dessen Sitz richten. Der Graf lehnte sich ein wenig tiefer in seinen Sessel zurück und legte die Fingerkuppen zu einer Spitze zusammen, ehe er antwortete. „Ihr befindet Euch in einer entlegenen Ecke Transsylvaniens, inmitten der Ländereien, die seit Jahrhunderten der Familie von Krolock gehören. Nahe der Außengrenze des von Österreich regierten Gebietes. Einst gehörten wir dem stolzen Königreich Rumänien an – aber das ist sehr lange her und Ihr seid wohl kaum an einer Geschichtsstunde interessiert, nehme ich an. Grob gesagt, im tiefsten Hinterland zwischen dem einstigen Königreich Ungarn und den von den Osmanen kontrollierten Gebieten." Der Graf erhob sich, ging zu einer Kordel nicht weit entfernt von ihm hinüber, zog zweimal daran und setzte sich dann mit einem entschuldigenden Lächeln wieder zu seinem Gast. „Woher stammt Ihr, wenn Ihr mir diese eine Frage gestatten und verzeihen wollt? Es ist hier in der Gegend üblich, einem fremden Gast das ihm entgegengebrachte Interesse zu bezeugen, indem man ihn ausführlich über sein Leben ausfragt. Aber seid versichert, dass ich Euch damit verschonen werde. Anders als meine Untertanen ist es mir bewusst, dass allzu viele, neugierige Fragen weder Höflichkeit noch freundliche Anteilnahme ausdrücken. Aber es ist so ungewöhnlich, hier einem Menschen zu begegnen, von dem man in französisch angesprochen wird, dass Ihr mir meine Neugier sicher nachsehen könnt. Ihr dürft Euch selbstverständlich so kurz fassen, wie Ihr möchtet, ich werde es gewiss weder als unhöflich noch als beleidigend empfinden."
„Aus Frankreich, Herr. Meine Familie stammt aus einem Ort an der Westküste. Aber ich hatte eine gute Stellung in Paris, die… die mich am Ende in diese missliche Lage brachte, in der Ihr mich nun vor Euch seht." Der junge Mann sprach langsam und ein wenig stockend. Es war allzu deutlich, dass er keine Kraft für lange Äußerungen hatte und Victor erhob seine Hand in einer abwehrenden Geste. „Haltet ein, dass ist vorerst genug. Ihr müsst einstweilen nicht darüber sprechen. Dass hatte ich Euch zugesagt." „Wenn Ihr die Bemerkung verzeihen wollt, Ihr sprecht wirklich ausgezeichnet französisch, Eure Exzellenz." „Tatsächlich? Nun, dass wundert mich. Ich habe kaum Anlass, sie tatsächlich zu benutzen, vom Lesen einmal abgesehen." „Nein, wirklich. Euer Akzent ist zwar ausgeprägt und ein wenig ungewohnt, aber das ist alles." Es klopfte. ,,Herein!", rief Victor in gebieterischem Ton und wandte sich zur Tür um. Ein livrierter Diener trat ein und versank in einer tiefen Verbeugung. Der Hausherr wartete nicht auf das Ende dieser Respektbezeugung, ehe er zu sprechen begann. „Eine Kanne Tee und einen Wein für meinen Gast. Süß und nicht zu schwer. Das ist alles." Der Tonfall war knapp und streng und wurde von einer herrischen Geste begleitet. Der Mann nickte und verließ unter einer weiteren Verneigung den Raum. Graf von Krolock richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Besucher, den er dieses Mal dabei ertappte, wie er ihn stirnrunzelnd betrachtete. „Stimmt etwas nicht, Herr Rochefort?", fragte er leicht belustigt und schenkte ihm die Andeutung eines Lächelns. „Nein. Nur… Ich habe zwar kein Wort von dem verstanden, was ihr dem Mann gerade gesagt habt, aber ich vermute, Ihr macht Euch noch mehr Aufwand."
„Unsinn!" Der Graf schnaubte abfällig. „Dafür wird das Personal schließlich entlohnt. Jeder, der für mich arbeitet, kennt meine ungewöhnliche… Tageseinteilung. Sie werden nicht gezwungen, in meine Dienste zu treten. Abgesehen davon, könnten sie nicht behaupten, besonders viel Mühe mit einer umfangreichen Herrschaft zu haben", bemerkte er sardonisch und rollte mit den Augen. „Eure Familie ist nicht groß, Herr?" fragte sein Gegenüber schüchtern, mit einem weiteren dieser hastig, fast verschämt hingeworfenen Blicke. „Nein, es gibt nur noch meinen Sohn und mich", entgegnete Victor mit einem Tonfall, in den sich ehrliche Traurigkeit mischte." Bevor der junge Mann reagieren konnte, wurde erneut geklopft. „Ja!" Der Graf klang ein wenig ungehalten über die Störung, aber er war fürs Erste recht froh darüber, auf diese Weise nicht von seinen Sohn sprechen zu müssen. Der Diener trat ein und stellte ein Tablett mit einem vollen Weinglas, einer Teekanne und zwei Tassen auf den Tisch. Victor bedeutete ihm mit einer Geste, dass er nicht weiter gebraucht wurde, und der Bedienstete zog sich nur allzu gerne zurück. Victor nahm das Weinglas und reichte es mit einer eleganten Bewegung und einem milden Lächeln an den jungen Franzosen weiter. Der Geruch verriet seinen scharfen Sinnen, dass seine Anordnung sehr genau befolgt worden war. „Hier, das ist eigentlich ein Dessertwein, aber in Eurem Zustand hielte ich alles andere für nicht ratsam. Er wird Euch ein wenig stärken, hoffe ich."
„Ergebensten Dank, Exzellenz." Jean-François Rochefort nahm das Glas entgegen und probierte vorsichtig einen Schluck. Der Geschmack schien ihm zu behagen und er leerte es rasch. Erst dann schien ihm aufzufallen, dass es kein Glas für seinen Gastgeber gab und er stellte es betreten zurück auf das Tablett. „Ihr trinkt keinen Wein, Herr Graf?", fragte er vorsichtig und schaffte es diesmal dem Blick seines Gegenübers ein wenig standzuhalten. „Nein, nicht mehr," entgegnete Victor. Dann runzelte er ein wenig die Brauen und legte nachdenklich den gekrümmten Zeigefinger an die Lippen. „Mir war schwerer, roter Wein früher ohnehin viel lieber", warf er dann nachdenklich ein.
„Wie kommt das?" Der Graf hob eine Augenbraue und zuckte mit den Schultern. „Mein Krankheit gestattet es mir nicht", entgegnete er nüchtern. „Bedauerlich, aber leider eine Tatsache", fügte er dann noch hinzu.
„Sehr bedauerlich, in der Tat!" warf der Franzose mitfühlend ein. „Schränkt Euch diese Krankheit sehr ein, Herr?", fragte er dann mit deutlicher Anteilnahme.
„Mehr als mir lieb ist. Wie man so schön sagt: ‚Die beste Krankheit taugt nichts!'", bemerkte Victor dann trocken mit einem leicht erheiterten Zug um die Lippen. „Aber sorgt Euch nicht, es wird mich nicht umbringen", sagte er dann leichthin, mit einem zynischen Lächeln und goss betont Tee in die beiden Tassen ein, von denen er eine seinem Gesprächspartner reichte. Der junge Mann nahm die Tasse dankbar an und umfing sie Wärme suchend mit den Fingern. Victor nahm seine eigene Tasse und hob sie an. „Auf neue Bekanntschaften", sagte er dann zuvorkommend und mimte einen Schluck aus der Tasse zu trinken. Nach all der Zeit war der Geruch nicht unangenehm, auch wenn er sich mit der Wärme und dem Duft der Flüssigkeit begnügen musste. Nichts desto trotz lehnte er sich entspannt zurück, die Tasse mit nachlässiger Eleganz in der Hand. „Was tut Ihr hier so ganz allein, Herr Graf? Es klingt fürchterlich einsam, der einzige Bewohner eines so großen Anwesens zu sein", erkundigte sich der junge Mann mit einem Blick der vielsagend durch den großen Raum streifte, und in seiner Stimme lag mehr als nur die Andeutung, dass er wusste, was es bedeutete, wahrhaftig einsam zu sein. Victor zuckte nonchalant mit den Schultern. „Es gibt für mich in meiner Stellung immer genug zu tun. Außerdem habe ich meine Bücher und ich bin nicht gezwungen hier zu bleiben. Ich kann jederzeit eine Weile in einer Stadt verbringen, wenn die Ruhe hier mir zu viel wird", erwiderte er gelassen. „Aber das ist doch gewiss nicht dasselbe, wie…" Der Franzose machte eine hilflose Geste. Der Graf sah ihn wissend unter gehobenen Brauen an. „Es ist wie es ist", sagte er dann seufzend mit einem ironischen, kleinen Lächeln und tat erneut, als nähme er einen Schluck Tee. „Dann gibt es da auch meine Untertanen, die mir mit ihren Ansichten über meine Person Zerstreuung bereiten," warf er dann ironisch ein. „Ihr müsst nur einen Ruf haben, weniger Steuern zu erheben als Eure Nachbarn. Seid Ihr dann gezwungen, Euch den herrschenden Gegebenheiten anzupassen und erhöht die Steuern, seid Ihr für sie gleich ein Blutsauger", plauderte er pathetisch weiter und gestikulierte lebhaft mit seiner Teetasse. „Was Euch dann noch fehlt, sind wechselnde Oberherren, deren Wünsche Ihr schließlich auch nicht ignorieren könnt, und Ihr dürft sicher sein, dass es Euch selbst auf einem abgelegenen Schloss ganz gewiss nicht langweilig wird!" Das entlockte dem jungen Mann tatsächlich ein schüchternes Lachen. „Sollte die Tatsache, dass Ihr nur zu ungewöhnlichen Zeiten verfügbar seid, nicht dafür sorgen, dass weniger Personen es auf sich nehmen, Euch persönlich aufzusuchen?", fragte er dann mit unaufdringlichem Interesse. „Oh, mein lieber Herr Rochefort, Ihr wärt überrascht, wie wenig ungewöhnliche Amtszeiten ausmachen", antwortete Victor mit einem vielsagenden Blick und einem spöttischen Tonfall. Er beugte sich verschwörerisch ein wenig vor und senkte ein wenig die Stimme als er weiter sprach und sein Gegenüber tat es ihm mit verhaltener Neugier gleich. „Wenn sie von etwas wahrlich überzeugt sind, dann…" Ein lautes Klopfen erklang von der Tür her und wieder folgte die herrische Aufforderung zum Eintreten. Diesmal war es eine Dienerin, die hastig knicksend eintrat. „Verzeiht, Herr Graf. Aber für Euren Gast ist jetzt alles vorbereitet. Ein leichtes Mahl und ein heißes Bad stehen bereit. Zwei Diener warten vor der Tür, um den Gast zu seinem Zimmer zu geleiten und ihm zur Hilfe bereit zu stehen, so lange er diese benötigt." Der Graf nickte anerkennend, ausnahmsweise einmal zufrieden mit der Ausführung der Anordnung. „Schicke die Männer herein, dann darfst du gehen", entgegnete er kühl und machte eine Geste zur Tür hin. Die sichtbar nervöse Frau knickste erneut und verließ dann den Raum so rasch sie konnte, ohne unhöflich zu wirken. Victor wandte sich erneut an sein Gegenüber. „Schreckt nicht davor zurück, Hilfe anzunehmen oder danach zu fragen. Das ist keine Schande, junger Mann!", sagte er fest und blickte ihn dabei durchdringend an. Der Angesprochene nickte verlegen, dann traten die beiden kräftigen Diener bereits ein. „Nun, Herr Rochefort, hier ist Eure Eskorte. Ich wünsche Euch eine gute Nacht. Meine Diener stehen zu Eurer Verfügung. Zögert nicht zu fragen, um zu erhalten was auch immer Ihr benötigt. Ich hoffe, Ihr findet Ruhe."
„Habt abermals vielen Dank, Exzellenz. Ich bin Euch sehr verbunden." Victor schenkte ihm ein leichtes Lächeln und ein huldvolles Nicken. Dann winkte er die beiden Diener herbei. „Helft Herrn Rochefort zu seinem Gemach und haltet Euch in seiner Nähe, bis er zu Bett geht. Ich bin sicher, er wird der Hilfe bedürfen", befahl er. Dann nickte er seinem Gast noch einmal aufmunternd zu, was dieser mit einem schüchternen Lächeln erwiderte. Dann erhob sich der Franzose und die beiden Diener hielten ihn zu beiden Seiten fest, um ihn zu stützen. Langsam verließen die drei Männer den Salon und ließen Graf von Krolock alleine dort zurück, der mittlerweile nachdenklich in die Flammen im Kamin starrte.
Der französische Gast verbrachte die ersten Tage fast durchgehend schlafend und aß nur wenig von den leichten Speisen, die ihm auf Befehl des Grafen gebracht wurden. Gleich am ersten Morgen nach seiner Ankunft ritt ein eiliger Bote los, um aus der nächsten Kleinstadt einen Schneider herbei zu holen. Zwar hatte man eine einstweilen ausreichende Auswahl der nötigsten Kleidungsstücke für den jungen Mann gefunden, die nicht all zu sehr an seiner abgemagerten Gestalt herum schlotterten, aber diese konnten nur einen Übergang zu etwas Angemessenerem sein. Es war offensichtlich, dass der Fremde nicht so bald im Stande sein würde, weiterzuziehen. Er war so ausgehungert, dass es ihm erst einmal schlechter zu gehen schien, als er wieder regelmäßig Nahrung erhielt. Diejenigen der Dienstboten, die bei seinem Eintreffen zugegen gewesen waren, mutmaßten bereits, dass er wohl nicht durchkommen würde. Aber er reagierte tatsächlich gut auf die ihm verabreichten Hausmittel und war offensichtlich von besserer Konstitution, als man es ihm bei seinem Anblick zugetraut hatte. Als der Schneider zum Maßnehmen kam, ging es dem jungen Mann sogar gut genug, um dafür auf den Beinen zu sein und sich anschließend eine Weile im herrschaftlichen Salon aufzuhalten und mit seinem Gastgeber zu plaudern. „Ich fühle mich nicht wohl dabei, Euch derart zur Last zu fallen, Exzellenz", äußerte der junge Mann beschämt, nach dem der Gewandmacher gegangen war. Victor winkte ab. „Unsinn!" erwiderte er bestimmt. „Ist Nächstenliebe nicht ein christliches Gebot? Wenn Ihr Euch Gedanken wegen der Kosten machen solltet, seid versichert, das ist nicht nötig. Selbst wenn ich nicht vermögend wäre, pflege ich keinen so verschwenderischen Lebensstil wie Ihr das vom Adel aus dem Westen Europas sicher gewohnt seid. Ich unterhalte keinen ausladenden Hofstaat und mein Haushalt ist klein. Ich halte es lieber mit Büchern und den Naturwissenschaften. Es sollte also keine Bürde darstellen, einen Bedürftigen in meinem Haushalt aufzunehmen." „Ihr seid zu großzügig, Herr Graf", murmelte Jean-François geniert. „Seid versichert, dass ich Euch so kurz wie möglich behelligen werde." „Oh, nicht doch. Ihr seid weder eine Störung, noch eine Belastung!", widersprach Victor entschieden. „Seit Ihr hier seid, habt Ihr keine Ansprüche gestellt und ich höre Ihr seid ein höchst bescheidener Gast. Abgesehen davon steht der Winter vor der Tür. Es kann nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fällt. Ihr könnt kaum darauf hoffen, wieder recht bei Kräften zu sein, bis es soweit ist." „Aber dann würde ich Euch den ganzen Winter zur Last fallen", protestierte der junge Mann. Victor wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite.
„Hört auf damit, Herr Rochefort! Es reicht," entgegnete er bestimmt mit strenger Miene. „Auch wenn es Euch schwerfällt, dies anzuerkennen: Ihr habt meine Gastfreundschaft bereits angenommen. Akzeptiert es einfach statt Euch deshalb zu winden wie ein Wurm am Haken! Ich bin vermögend, nage also nicht am Hungertuch und kann es mir ohne Mühe leisten, Euch gastfrei hier aufzunehmen. Können wir das Thema also hiermit endgültig als erledigt betrachten?" Der junge Mensch hatte mit gesenktem Kopf betreten und überaus verlegen genickt. Aber es war das letzte Mal geblieben, dass er diesen Protest vorgebracht hatte.
Nach Ihrer Unterhaltung in jener ersten Nacht, hatte Victor viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Es war seltsam angenehm, dieses junge Wesen im Haus zu haben, selbst während er zu krank war, um aufzustehen und er ihn deshalb nicht zu Gesicht bekam. Aber seine bloße Anwesenheit hatte etwas… verändert.
Nach einigem Hin und Her hatte der Graf sich das Offensichtliche endlich eingestanden: er fühlte sich einsam. Seine Opfer konnten daran nichts ändern. Wenn er von der Jagd zurückkehrte, war das Schloss ebenso leer, wie vor seinem Aufbruch. Und auch alle seine geschätzten Bücher konnten die Einsamkeit nicht lindern. Er war selbst Vater und jahrhundertelang war er es gewohnt gewesen, seinen Sprössling um sich zu haben. Nun war Herbert fort und würde gewiss nicht wieder kommen. Doch nun war ihm der Zufall seit langem einmal wieder gewogen. Warum nicht die Gelegenheit ergreifen, die sich ihm hier darbot? Es war offensichtlich, dass es dem Burschen alles andere als gut ging. Zudem stand der Winter tatsächlich kurz bevor. Es waren die perfekten Gründe, den jungen Mann zu bewegen, hier zu verweilen, um sich auf dem Schloss seines Gönners zu erholen und so Victors Einsamkeit zu verringern. Um nichts in der Welt würde er zulassen, dass sich ihm diese Möglichkeit so rasch entwand.
„Hört mich an, mein junger Freund", fuhr er milde fort und sein ganze Körperhaltung wirkte mit einem mal viel weicher. „Ihr kennt die hiesigen Verhältnisse nicht, also lasst mich erklären. Unsere Winter hier sind lang, sehr kalt und schneereich. Die Wälder sind voller Bären, Wölfe und anderen Raubtieren. Den Bären werdet Ihr wohl noch entgehen, da sie sich jetzt zur winterlichen Ruhe begeben – aber die anderen Raubtiere werden nur allzu gern einen verirrten Reisenden reißen. Viele Pässe werden zudem gar nicht mehr passierbar sein, bevor Ihr sie erreicht. In Eurem Zustand ist ein solches Unterfangen der reinste Selbstmord. Glaubt Ihr, Eure Familie in Frankreich wird es Euch danken, wenn Ihr nicht wieder heimkommt?" Victor sprach in sanftem, schulmeisterlichem Tonfall. Er sah die widerstreitenden Emotionen nur zu deutlich, die sich in den Augen des jungen Mannes spiegelten und legte noch einmal nach. „Mein Sohn mag von mir halten, was er will, aber wäre er an Eurer Stelle, würde ich mir wünschen, dass er den Winter an einem sicheren Ort verbringen würde, um die Reise dann fortsetzen, wenn Aussicht auf ihr erfolgreiches Ende besteht", erklärte er nachdrücklich. Dann seufze er laut und schüttelte missbilligend den Kopf. „Junge Menschen, es ist immer das Gleiche!", schnaubte er in leicht bitterem Tonfall. „Aber nur zu", fuhr er fort und machte eine weit ausholende Armbewegung. „Euch stehen zwei Möglichkeiten offen. Ihr könnt den Winter behaglich und sicher verbringen und dabei noch ein gutes Werk tun, in dem Ihr einem einsamen, alten Mann bis zum Frühjahr Gesellschaft leistet, während Ihr Eure Kräfte für den langen Heimweg sammelt. Oder Ihr könnt Euch überstürzt auf die Reise machen und dem sicheren Tod entgegen gehen. Ihr habt gesehen, wie die einfachen Leute hier sind." Victor macht eine vielsagende Geste zum Fenster hin. „Eher geneigt einen bedürftigen Fremden in abergläubischer Furcht fort zu scheuchen, wenn er zu einer dunklen oder ‚unglücklichen' Stunde an die Tür klopft! Seid gewiss: hätten meine Bediensteten selbst die Entscheidungsgewalt, wäret Ihr mit Geschichten über Unglücksorte fortgeschickt worden, ohne dass sie gefragt hätten, ob es nicht unglücklicher für Euch wäre, weiter hilfesuchend herum zu stolpern. Aber nur zu, es ist natürlich Eure Entscheidung!" erklärte der Graf und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Die Schultern des jungen Mannes sanken herab, es schien als ob er insgesamt in sich zusammen fiel und er sah plötzlich sehr unglücklich aus. „Ihr habt gewiss recht, Exzellenz. Es ist nur so, dass… dass…" Er bekam die Worte nicht über die Lippen und schluckte schwer, ehe er von neuem begann und Victor dabei direkt anschaute. „Meine Familie weiß noch nicht einmal, dass ich noch lebe", stieß er in klagendem Ton hervor. Victor erkannte seine Chance und ergriff sie ohne zu Zögern. „Könnt Ihr schreiben?", fragte er neugierig. „Natürlich, Herr Graf." Victor nickte anerkennend und beugte sich ein wenig vor. „Nun, es mag zu spät im Jahr für Euch sein. Aber es ist noch nicht zu spät, einen Brief zu senden, wenn Ihr ihn rasch schreibt. Ich kann alles Nötige veranlassen, damit morgen ein schneller Reiter mit Eurem Brief aufbricht, um ihn entsprechend weiterzuleiten, damit er das Land noch verlässt, ehe bestimmte Straßen unpassierbar sind", bot Victor großzügig an. „Das würdet Ihr wirklich tun?" Jean-François rutschte auf seinem Sessel ganz nach vorne und sah ihn hoffnungsvoll an. „Ich hätte Euch diesen Vorschlag nicht gemacht, wenn es nicht in meiner Absicht läge, diesen auch auszuführen, Herr Rochefort", versicherte der Adlige mit einer angedeuteten Verbeugung. „Ihr seid mir hier willkommen. Kommt wieder zu Kräften und erholt Euch vom Schicksalsschlag, der Euch zu meiner Schwelle geführt hat. Es wird mir eine Freude sein, den langen Winter über einen Gefährten zu haben. Im Gegenzug werdet Ihr allen Beistand meinerseits haben, wenn die Zeit für Euch kommt, den weiten Weg nach Hause anzutreten. Wenn der Moment da ist, werde ich alle meine Verbindungen nutzen, und Ihr werdet alle Unterstützung haben, die ich Euch geben kann."
„Dann möchte ich Euer großzügiges Angebot von ganzem Herzen annehmen!", erwiderte sein Gegenüber mit einem plötzlich Lächeln. Victor erwiderte es fast triumphierend, während er sich im Stillen zu diesem einfachen Sieg beglückwünschte.
Der Schneider, der für seine Dienste außerordentlich gut entlohnt wurde, schaffte es tatsächlich, die bestellte Ausstattung für den französischen Gast des Grafen zu liefern, bevor der große Wintereinbruch kam. Der Winter begann zunächst mit wenigen und regional begrenzten Schneefällen, wie sie sonst in der Region seltener vorkamen. Nach all dem Unglück, das er durchlebt hatte, schien Jean-François ein Glücksstern zu leuchten, seitdem er das Schloss gefunden hatte. Oder so kam es ihm zumindest vor, als der große Schneefall erst einsetzte, nachdem alle bei Schneider und Schuster bestellten Kleidungsstücke im Schloss eingetroffen waren. Er zeigte seine überschwängliche Dankbarkeit damit, dass er dem Grafen so oft Gesellschaft leistete, wie dieser nicht beschäftigt zu sein schien. Zu diesem Zweck übernahm er die seltsame Tageseinteilung seines Gönners, wie die Dienstboten mit scheelen Blicken beobachteten. Mehr noch, ihr launenhafter Herr behandelte seinen jungen Gast ausnahmslos freundlich und zuvorkommend. Es war bald nichts Ungewöhnliches mehr, die beiden in der Bibliothek oder im Salon zusammen sitzen zu sehen, vertieft in angeregte Gespräche. Tatsächlich sonnte sich Victor in der Aufmerksamkeit des jungen Mannes, der keinen Hehl daraus machte, wie sehr ihn sein belesener Gastgeber beeindruckte. Natürlich hatte er keine Ahnung über das wirkliche Wesen des Mannes, der ihn so großzügig aufgenommen hatte. Anders als die misstrauischen Menschen dieser Gegend, schien der junge Franzose die kleinen Anzeichen nicht einmal zu bemerken. Er glaubte einfach all die Lügen, die ihm aufgetischt wurden und nur dazu dienten, zu verschleiern, dass Victor keineswegs ein Mensch war. Der junge Mann hinterfragte es nicht, dass sie nie miteinander speisten, dass Victor an manchen Tagen viel dünner und blasser war als an anderen, dass er zuweilen ruhelos war und ohne sichtbaren Grund zitterte. Auch bemerkte er es nicht, wenn sein Gastgeber für eine Weile ohne sein Wissen außer Haus war, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
Tatsächlich handelte es sich bei Jean-François um ein Paradebeispiel eines der magischen Anziehungskraft des Vampirs erlegenen Sterblichen. Am Anfang waren es hauptsächlich Victors Freundlichkeit und sein natürliches Charisma gewesen, die den Franzosen anzogen. Die bestimmte, väterliche Art, wie er mit ihm umging, ohne jemals den Eindruck zu erwecken, dass er ihm irgendwelche Vorschriften machte. Doch auch der Vampir war nicht unempfänglich für die Reize seines Hausgastes. Eine Aura von Trauer und Bitternis umgab diesen Sterblichen, der noch viel zu jung war, als dass etwas derartiges natürlich gewesen wäre. Mit den übernatürlichen Sinnen des dunklen Jägers hätte er diesem Rätsel jederzeit mühelos auf den Grund gehen können, aber vom ersten Abend an hatte Victor sich dazu entschlossen, es nicht zu tun. Stattdessen hatte er sich vorgenommen, Jean-François allmählich dazu zu bewegen, ihm seine Geheimnisse von selbst zu offenbaren. Er war entzückend leichtgläubig und naiv, und obwohl er auf die Zwanzig zuging, hatte er noch immer etwas von einem Kind an sich, das man einfach gern haben musste. Dieser Umstand, kombiniert mit ausgezeichneten Manieren und offensichtlicher Bekanntschaft mit einem gewissen Maß an Bildung, ergab eine Mischung, die Victor von Krolock nicht weniger an dem jungen Mann faszinierte, wie es umgekehrt der Fall war. Er blieb bei der Maskerade des scheinbar perfekten Gastgebers und Gönners: freundlich, unaufdringlich und einnehmend.
Und schon kurz nachdem die heftigen Schneefälle eingesetzt hatten, war es soweit und Jean-François begann bei einem Wein beim Feuer im Salon zu erzählen. „Es ist immer noch seltsam, das Objekt solcher Aufmerksamkeit zu sein," durchbrach er die Stille nach einem angeregten Gespräch über ein Buch, bei dessen Lektüre er den Grafen beim Eintreten unterbrochen hatte. „Wieso das?" entgegnete dieser nun mit einem amüsierten Lächeln. „Solltet Ihr Euch nicht allmählich hier eingelebt haben?" fragte Victor, legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete sein Gegenüber von der Seite. „Das ist es nicht," seufzte dieser und strich ein wenig nervös mit dem Finger über den Bezug der Armlehne seines Sessels. „Ihr behandelt mich, als wären wir vom selben Rang," erklärte er dann verlegen. „Ihr seid mein Gast. Als solcher habt Ihr die selben Ansprüche an mich wie jede andere Person, der ich die Gastfreundschaft meines Hauses gewähre," entgegnete Victor gelassen lächelnd, das Kinn auf eine Hand gestützt. „Und der Gastgeber, der keinen Hofstaat unterhält, muss selbst für die Unterhaltung seines Besuches sorgen. Das ist sicher nichts Ungewöhnliches. „Das mag ja sein, aber… es ist vielmehr so, dass ich es gewohnt bin, meine Aufmerksamkeit darauf zu richten, es anderen möglichst angenehm zu machen. Und nicht diese Aufmerksamkeiten selbst zu erhalten." Der junge Mann klang verlegen bei diesen Worten. „Wie kommt das? Ihr seid doch offensichtlich nicht ohne Bildung", erkundigte sich Victor interessiert. „Oh, meine Familie hat auf meine Erziehung viel Wert gelegt, dass ist wahr, aber da gab es Grenzen," erwiderte der junge Mann mit einem versonnen Lächeln. „Wir hatten nie Rang oder Namen, aber wir waren ehrbare Leute. Doch die Geschäfte meines Vaters reichten nicht aus, um uns alle zu versorgen. Mein ältester Bruder wird ihm einmal nachfolgen. Es war jedoch immer klar, dass mein jüngerer Bruder und ich uns selbst etwas aufbauen müssen", kam die verlegene Antwort. „Wofür habt Ihr Euch entschieden?," fragte Victor verständnisvoll nach. „Oh, das hatte nichts mit Entscheiden zu tun." Jean-François lachte ein wenig, aber es klang fast entschuldigend. „Ich bin nie ein Draufgänger gewesen und auch kein bisschen mutig. Aber ich war schon immer recht ansehnlich und konnte mich höflich und geistreich unterhalten. Zu Hause sagten sie immer, dass sei perfekt, um als Dienstbote eine Anstellung in besseren Kreisen zu finden, wo man nach genau diesen Eigenschaften sucht." Er machte eine hilflose Geste mit den Händen und zuckte mit den Schultern. „Mein Vater konnte mich deshalb gut als Diener im Haushalt eines Kunden unterbringen. Er meinte, wenn ich mich anstrengen würde, sei mir der Erfolg sicher und ich könnte es einmal bis zum Haushofmeister bei einer angesehenen Familie schaffen." Ein wenig verlegen zuckte der junge Mann mit den Schultern. „Vermutlich hatte er da auch nicht ganz unrecht. Denn mein Herr hatte irgendwann einen Besucher, dem ich angenehm aufgefallen bin und der mich in seine Dienste zu nehmen wünschte. Ich habe natürlich zugestimmt, da die Stellung besser entlohnt wurde und mich der Gedanke an das Stadtleben reizte," rechtfertigte sich Jean-François ausweichend. „Das klingt ganz so, als ob Ihr Euch mit Eurer Art nach oben gearbeitet hättet, junger Freund," bemerkte der Graf. „In der Tat, Herr Graf, aber ich hätte nie damit gerechnet, dass ich bei einem Dîner die Aufmerksamkeit eines hochgestellten Gastes erregen würde. Aber genau das ist geschehen – und schließlich fand ich mich in der Rolle des persönlichen Pagen des Kaisers wieder. Gewiss, er hat einen Ruf dafür, ein Auge für gute Arbeit zu haben, aber…"
„Seid nicht zu bescheiden, Jean-François. Ihr habt Potenzial, das ist offensichtlich. Hat es Euch denn gar nicht gefreut, bemerkt zu werden?", tadelte der Graf milde und beugte sich ein wenig in seinem Sessel vor.
„Gewiss, es hat mich gefreut. Aber im Nachhinein, bin ich mir nicht sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, mein Herr hätte mich nie bemerkt", erwiderte der junge Mann niedergeschlagen und hielt sich die Hände vor die Augen. „Warum? Hat er Euch so schlecht behandelt? Aber wieso seid Ihr dann so bekümmert?", wollte Victor überrascht und verwirrt wissen. Jean-François ließ die Hände rasch wieder sinken und schüttelte bestimmt den Kopf. „Im Gegenteil. Der Kaiser hatte natürlich seine Gewohnheiten und Schrullen. Aber er war ein guter Herr! Wer die Arbeit nicht scheute und die seine gut verrichtete, hatte unter ihm nichts zu befürchten", verteidigte er seinen ehemaligen Herrn nachdrücklich. „Mein Lieber, Ihr verwirrt mich immer mehr. Weshalb bedauert Ihr dann Napoleon Bonaparte begegnet zu sein, wenn er Euren Worten nach als Herr und Meister ein solcher Ausbund an Tugend war? Nach all seinen Ruhmestaten müsste allein das einen jungen, empfänglichen Geist wie Euch begeistert haben. Weshalb dann dieses Lamentieren?" entgegnete Victor mit einem verständnislosen Kopfschütteln. „Weil ich mir dann keine Gedanken darüber machen müsste, was aus meinem Herrn geworden ist," antwortete der ehemalige Page niedergeschlagen und ließ den Kopf hängen. Seine ganze Körperhaltung sank zu einem Bild des Jammers zusammen und dann begann er zu erzählen. Von den großen Plänen seines Herrn und der großen Armee. Von dem großen persönlichen Gefolge, das mit den großen Persönlichkeiten reiste, und wie er als Page seinen Herrn auf jenen unglückseligen Russlandfeldzug begleitete. Der katastrophale Marsch ins Feindesland. Tote Pferde in Massen, Regen, sumpfige Wege und Straßen, auf denen die Fuhrwerke bald zurück blieben, ohne die Möglichkeit, Wasser mittels Branntwein sicher trinkbar zu machen, und die Krankheiten, die bald um sich griffen. Von Männern, die in Scharen desertierten, und was mit jenen geschah, die dabei erwischt wurden. Die schreckliche Seite der erlebten Kriegszüge, und das Grauen dessen, was in den eingenommenen Städten mit Überlebenden auf beiden Seite geschah. Und dann das Desaster. Die Niederlage, welche die Überreste der Großen Armee in die Flucht vor dem Winter schlug, in den Tiefen eines Landes, das jenen, die gekommen waren, es zu erobern, nichts auf dem Weg zum Leben übrig gelassen hatte. Wie Verwundete und Kranke zurückgelassen wurden. Wie auch er unter die solchen geriet, da es immer weniger zu essen gab und die Kälte immer schlimmer wurde. Wie sie flüchten mussten, selbst noch vor dem gemeinen Volk der Gegenden, durch die sie kamen, denn die Neuigkeiten reisten schneller, als sie selbst es konnten. Wie sich die zusammengeschrumpften Überreste der Gruppe, mit der er gereist war, verirrt hatten und am Ende nur er alleine übrig geblieben war. Erschöpft, schon fest davon überzeugt, dass er auch bald sterben würde. Wie er sich weiter geschleppt hatte… Und wie er - wie durch ein Wunder! - die Lichter des Schlosses gesehen und sich mühsam dorthin gekämpft hatte, endlich am Ende seiner Kraft angekommen…
„Genug. Sprecht jetzt nicht weiter, Jean-François!", gebot ihm Victor schließlich Einhalt. Er hatte ernst und still zugehört, die langen Hände auf die Oberschenkel gestützt nur mit einem gelegentlichen Zeichen, dass er gehört und verstanden hatte, um den schrecklichen Bericht für den sichtlich mitgenommenen Pagen nicht noch schlimmer zu machen, der während seiner Schilderungen irgendwann begonnen hatte, bitterlich zu weinen. „Ich verstehe, warum Ihr diese schicksalhafte Begegnung zutiefst bedauert", versicherte er mit sanfter Stimme. „Ihr habt schreckliches erlebt und gesehen. Es ist eigentlich die Aufgabe des Anführers, ein Gefolge wieder sicher zurückzubringen. Mir ist Kriegsdienst nicht unbekannt und es scheint mir, als hätte man schlecht an Euch allen gehandelt. Tiere und Menschen so zu verschwenden! Ungeheuerlich!" Victor verzog missbilligend das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Aber mein armer Herr! Was mag wohl aus ihm geworden sein?", klagte der junge Mann untröstlich schluchzend weiter. „Hört auf damit!", fuhr Victor nun scharf auf und kam auf die Beine. „Junger Mann, hört Ihr Euch eigentlich selbst noch reden? Ihr wart nicht derjenige, der ihn zurückgelassen hat, nicht wahr? Außerdem könnt Ihr sicher sein, dass große Männer wie er immer dafür sorgen werden, dass sie ganz sicher wieder zurückkommen - koste es, was es wolle! Wenn der Frühling kommt und Ihr die Heimreise antretet, bin ich mir sicher, das Ihr hören werdet, dass Monsieur Bonaparte wieder sicher in Frankreich angekommen ist und sich nicht mit dem Schicksal des jungen Mannes belastet, den er als Diener mit ins Feindesland gebracht und dort bedenkenlos zurückgelassen hat!" „Aber er hatte so große, noble Ziele! Es bedeutete ihm so viel!", klagte der junge Mann ungerührt weiter. „Ich hätte bei ihm sein sollen, um ihn zu unterstützen, stattdessen bin ich…"
„Ihr könnt froh sein, mit dem Leben davongekommen zu sein, begreift Ihr das nicht?" entgegnete Victor bestimmt und sah fassungslos auf das Häufchen Elend herab, das da vor ihm saß. Doch Jean-François blieb untröstlich, ganz gleich, was Victor auch sagte. Schließlich setzte er sich auf die Sessellehne und legte sanft einen Arm um die Schulter des Jungen. „Er hat Eure Trauer nicht verdient", sagte er leise. Doch der Angesprochene antwortete nicht, sondern ließ nur am Boden zerstört seinen Kopf gegen Victors Schulter sinken und weinte. Der Graf ließ ihn gewähren, in dem instinktiven Wissen, dass kein Wort jetzt ein Trost sein würde. Niemand konnte ihm bei der Bewältigung des Erlebten behilflich sein. Aber die Trauer des jungen Mannes perlte seltsam an ihm ab. Die Sinnlosigkeit all dessen erfüllte ihn mit Wut – aber das war alles. Jedoch war es nur die Wut eines Wesens, das wusste, wie es war, schuldlos in eine solche ausweglose Situation gestoßen zu werden, nicht wirkliche Anteilnahme für Jean-François selbst. Eine Barriere blieb zwischen ihnen, eine gewisse kühle Distanz, mit der Victor von Krolock echte emotionale Nähe in letzter Konsequenz nicht zuließ.
Doch je länger er blieb, desto mehr verfing sich der junge Mann in dem dunklen Zauber des Vampirs, war geblendet von seinem Wissen und der düsteren Tristesse, die ihn umgab.
„Habt Ihr die alle gelesen?", war seine Frage, als er zum ersten Mal mit staunenden Augen in der umfangreichen Bibliothek stand. Victor hatte nur mit den Schultern gezuckt, seinen Blick kurz über die von Büchern übersäten Wände gleiten lassen und leichthin geantwortet, „Die meisten. Es sind auch Werke darunter, die eher dem Geschmack meines Sohnes entsprechen als meinem. Den Rest, ja, allerdings." „Aber es sind so viele!", hauchte Jean-François beeindruckt. „Oh, wenn man alleine lebt, lässt das sehr viel Raum zum Lesen, dass kann ich Euch versichern", erwiderte Victor mit einem zynischen Lächeln. „Wie kommt das, Exzellenz?" platzte Jean-François verblüfft heraus. „Wie kommt ein zuvorkommender, geistreicher Mann wie Ihr dazu, ganz alleine in einem so großen Schloss zu leben?"
Von der ehrlichen, offenen Frage überrascht, fand sich Victor bei einer zur Abwechslung ehrlichen Antwort ertappt. „Das war nicht immer so", sagte er leise und senkte den Blick. „Was hat sich verändert?", verlangte sein Gesprächspartner zu wissen. „Nun, was so eben geschieht. Die unerwarteten Schläge des Schicksals", antwortete Victor mit einem bitteren Lächeln und starrte ins Leere. „Ich wurde krank und meine Frau ist gestorben." „Aber sagtet Ihr nicht, Ihr habt einen Sohn?", bohrte Jean-François vorsichtig nach. „Was ist mit ihm geschehen?" Der Graf bewegte unbehaglich die Schultern. „Nichts. Mein Sohn hat mich verlassen", erwiderte Victor dann tonlos. „Er zieht es vor, keinen Umgang mit mir zu pflegen. Das ist alles," bei diesen Worten sah er sein Gegenüber wieder direkt an und die Traurigkeit die sich darin spiegelte, war nicht vorgetäuscht. „Er ist einfach fortgegangen? Ohne ein Wort?" Der junge Rochefort klang ein wenig empört von so viel Gleichgültigkeit. „Oh, ohne ein Wort würde ich das nicht nennen. Aber er ist gegangen und er wusste, dass ich es nicht gut heiße, ja." Victor verzog missbilligend den Mund, als er an Ihren Streit vor so langer Zeit zurück dachte... „Hört Ihr manchmal von ihm?", erkundigte sich Jean-François und erhielt ein melancholisches Kopfschütteln. „Nein, aber da er die Zustellung meiner Unterhaltszahlungen noch immer annimmt, habe ich allen Grund zu der Annahme, dass es ihm gut geht, was auch immer er gerade tut", entgegnete Victor ohne zu erwähnen, dass er seinerseits auch nichts weiter von sich hören ließ. „Das ist nicht besonders freundlich, wenn Ihr mich fragt!" empörte sich der junge Mann. „Euch nicht einmal wissen zu lassen, wie es ihm geht, dass ist schon allerhand!" Erneut machte Victor eine Bewegung, die einem scharfen Beobachter klar gemacht hätte, dass ihm das Gespräch unangenehm war, dem ehemaligen Pagen jedoch entweder nicht auffiel oder die er vollkommen anders interpretierte. „Er hat seine Meinung recht deutlich gemacht. Was hätte ich anderes tun sollen, als sie zu akzeptieren?", entgegnete Victor gefasst. Er machte eine hilflose Geste und bewegte unbehaglich seine Schultern. „Dieses Schloss war sein Zuhause – nicht sein Gefängnis. Wenn es ein Fehler ist, dem anderen den ersten Schritt überlassen zu wollen, dann wohl einer, den wir beide begehen, denn wie ein Narr habe ich stets darauf gewartet, dass Er eines Tages von sich Nachricht geben würde." „Ihr scheint allen Grund zu haben, dass zu erwarten, Herr Graf", versicherte Jean-François. „Es ist wie es ist", murmelte Victor wehmütig und betrachtete angelegentlich die Ringe an seiner rechten Hand, um den jungen Mann nicht ansehen zu müssen. Er war sich durchaus bewusst, dass der ehemalige Page glaubte, er selbst sei vollkommen schuldlos an allem, was ihm widerfahren war. Doch er unternahm nichts, um diesen Umstand zu ändern. „Ich finde es bewundernswert, wie großmütig Ihr das alles hinnehmt", bemerkte er dann auch in erstauntem Ton. Victor lachte leise und richtete sich wieder aus der leicht gebeugten Haltung auf, die er in den vergangenen Minuten immer mehr eingenommen hatte. „Mein lieber, junger Freund, das ist zu viel der Ehre. Ich habe oft genug mit meinem Schicksal gehadert, ich versichere es Euch. Abgesehen davon – was lässt Euch glauben, dass sich diese Tatsache geändert hat?" ER schenkte seinem französischen Gast ein ironisches Lächeln. „Es ist doch nichts verwerfliches, bei so viel persönlichem Verlust, Groll gegen das Schicksal zu verspüren!", widersprach Jean-François bestimmt. „Vielleicht nicht", antwortete Victor ausweichend, doch der junge Mann ließ sich nicht beirren. „Habt Ihr vor zu versuchen, an der Situation etwas zu ändern? Ihr klingt, als ob Ihr es bedauert." Victor ignorierte die Tatsache, dass diese Frage eigentlich ein wenig zu aufdringlich war. Er begriff, dass die Tatsache, dass der schüchterne Franzose sie zu stellen wagte, Bände darüber sprach, welchen Stellenwert er selbst mittlerweile für ihn einnahm. „Was soll sich schon daran ändern?", wehrte Victor ab. „Er hat bisher nicht den Weg zurück zu mir gefunden. Er hatte während vieler Jahre genug Gelegenheit dazu. Er ist mein einziges Kind und meine Hoffnungen waren groß, aber bis zum Ende meiner Existenz wird sich daran gewiss nichts mehr ändern." Er konnte die Enttäuschung nicht unterdrücken, die mit jedem Wort immer deutlicher wurde. „Auch Ihr werdet lernen, dass es Dinge gibt, die sich nicht verändern, wie sehr Ihr auch dagegen anrennt", erklärte er bitter, obwohl er bei diesen Worten schon gar nicht mehr an seinen Sohn dachte, sondern an seine gesamte ausweglose Situation. Jean-François lenkte die Unterhaltung taktvoll auf ein unverfängliches Thema und sie sprachen nicht wieder davon. Dennoch war sich Victor bewusst, dass der junge Mann glaubte, sein Sohn interessiere sich nur für das eines Tages zu erwartende Erbe und nähme es billigend in Kauf, dass sein Vater einsam und alleine in dem abgelegenen Schloss vor sich hin vegetieren musste. Seine stille Anteilnahme und sein unaufdringliches, wenn auch fehlgeleitetes, Mitgefühl waren äußerst wohltuend und Victor erlaubte sich, es zur Gänze auszukosten.
Während der langen Wintermonate wurde Jean-François so etwas wie ein Ersatz für Herbert. Zugegeben, es war nicht dasselbe wie den eigenen Sohn um sich zu haben, der noch dazu das Geheimnis kannte und teilte. Aber es war besser als nichts. Abgesehen davon, hatte der junge Franzose nicht von der Hand zu weisende Vorzüge. Er war von Natur aus schüchtern und seine Naivität war eine nicht endende Quelle stiller Belustigung für Victor. Dazu kam, dass der junge Bursche ein sehr angenehmer Gesprächspartner war: interessiert, begeisterungsfähig und lerneifrig, so linderte er die schmerzende Lücke, die Herbert in seinem Leben zurückgelassen hatte. Victor begann ihn auf seine Art wie einen zweiten Sohn zu lieben und zu verhätscheln. Die unbeholfene, fasst ängstliche Unsicherheit, die der junge Mann in so vielen Bereichen zeigte und die seinen beklagenswerten Mangel an Gelegenheiten für verschiedene Erfahrungen offenbarte, sprach bei Victor die Instinkte des Vaters an, den Wunsch, ihm beim Wachsen und Lernen zu helfen und in gewissen Maße auch, ihn vor Schaden zu bewahren.
Er hatte Jean-François beigebracht, Schach zu spielen und danach verbrachten die beiden endlose Stunden über Victors wunderschön gestaltetem Spielbrett aus Perlmutt und poliertem Ebenholz. Allein die Intarsien des Schachbretts hatten den jungen Mann anfänglich so abgelenkt, dass er kaum darauf achtete, was er eigentlich tun sollte. Hätte es jemand gewagt den Salon zu betreten, hätte er beide häufig an dem langen Tisch sitzen sehen, so wie an diesem merkwürdigen Abend. Der junge Mann saß mit dem Ellenbogen auf den Tisch gestützt, die Hand sein Kinn umfassend, während er nachdenklich auf das Spielbrett starrte, während ihm der Graf mit übereinandergeschlagenen Beinen entspannt in seinen Lehnstuhl zurückgelehnt gegenüber saß und ihn mit einem amüsierten Lächeln beobachtet. Als sich Jean-François endlich für einen Zug entschieden hatte, verzog Victor abfällig den Mund und schüttelte missbilligend den Kopf. „Auf gar keinen Fall, sonst seid Ihr in höchstens drei Zügen schachmatt", tadelte er ruhig. „Aber ich könnte Euch in meinem nächsten Zug Schach bieten!" Victor schüttelte erneut den Kopf und wippte mit dem Fuß. „Würdet Ihr nicht, Ihr hättet keine Gelegenheit mehr dazu. Lernt auch die mögliche Antwort Eures Gegners einzuplanen. Seht her, meine Antwort hierauf wäre folgende…" Er demonstrierte es ihm und Jean-François starrte entsetzt auf das Spielbrett herab. „Ich sehe, dass Ihr verstanden habt", bemerkte Victor trocken. Deshalb werdet Ihr diesen Zug auch nicht vornehmen." Er machte sowohl den Zug des jungen Mannes als auch seine eigene Antwort darauf rückgängig. Dann nahm er einen Offizier, den der Franzose unbeachtet gelassen hatte, und setzte ihn einige Felder entfernt ab. Sein Spielpartner betrachtete das Schachbrett einen Moment, begriff, hob den Kopf und starrte Victor verblüfft an. „Das ist unglaublich!", rief er dann beeindruckt aus. Der Vampir schnaubte belustigt. „Setzt niemals alles auf eine Karte für die Chance auf einen Angriff, den Ihr vielleicht niemals verwirklichen könnt. Merkt Euch das!", schärfte er dem Sterblichen ein, der eifrig nickte und sie fuhren in ihrer Partie fort. An diesem Abend hatte sein Schützling einen entscheidende Lektion gelernt, auch wenn er nie gegen seinen Lehrer gewann. Doch Victor war ein geduldiger Lehrer, unter dessen Anleitung Jean-François rasch Fortschritte machte und sich immer mehr für das Spiel der Könige begeisterte.
Der junge Sterbliche erweiterte auch seinen Wissensschatz in diesem Winter erheblich. Er nutzte die französischen Werke in der Bibliothek des Schlosses weidlich zum lesen und unterhielt sich danach angeregt mit Victor darüber, der ihm, während die Zeit verstrich, immer mehr zum väterlichen Freund wurde, dem er Dinge anvertraute, die er zu Hause niemandem gegenüber zu äußern gewagt hätte. So hatte er ihm, vermutlich durch die Lektüre einiger von Herbert Büchern ermutigt, zum Beispiel gebeichtet, dass er Frauen, anders als andere Männer seines Alters, gar nicht abgewinnen konnte. „Sie sind weder anziehen noch interessant," klagte er. „Ich kann einfach nicht begreifen, warum sich so viele junge Männer in meinem Alter etwas aus ihnen machen! Ich finde junge Burschen viel anziehender." „Nun, Jean-François, es ist nicht mehr und nicht weniger als die Präferenz von vielen, aber nicht von allen," hatte Victor darauf mit einem milden Lächeln geantwortet. „Ihr solltet allerdings vorsichtig sein und das nicht jedem offenbaren. Das ist im übrigen eine Warnung, die ich auch meinem Sohn eingeschärft habe," hatte er nachdenklich hinzugefügt und sich an lange vergangene Gespräche mit Herbert erinnert, denn nachdem dieser ebenfalls zum Vampir geworden war, hatten sie viel offener über dergleichen geredet. Das Gespräch mit Jean-François war bald darauf zu anderen Dingen abgedriftet und Victor hatte sich keine Gedanken gemacht, was der junge Mann von diesem beiläufigen Kommentar ableiten könnte.
Oft fand der junge Mann die hellen Augen des Adligen in stiller, freudiger Anerkennung auf sich gerichtet, wenn er erkennen ließ, wie sehr er bereits aufgeblüht war, seit er das Schloss betreten hatte. Den jungen Sterblichen beeindruckte Victors Toleranz und seine Aufgeschlossenheit. Doch anders als er glaubte, entstammten die scheinbar ungewöhnlich liberalen Einstellungen nicht ein paar Jahrzehnten menschlichen Lebens, sondern viel häufiger seiner Erfahrung als Vampir. In mehr als 200 Jahren hatte er viel gesehen und erlebt und dabei vieles an Vorurteilen und Moral hinter sich gelassen. Was er nicht sah - denn sein Gastgeber achtete sorgsam darauf, ihm ja nur seine positiven Seiten zu präsentieren - waren die deutlichen Schattenseiten seiner Haltung: dass er kaum Rücksicht auf andere nahm; dass ihn Konsequenzen kaum noch beeindruckten. Noch nicht einmal, dass er bei allem, was er durchaus von seinem Gastgeber erhielt, trotzdem derjenige war, der ausgenutzt und geschickt manipuliert wurde.
Bei aller Zuneigung für den jungen Mann, überschritt Victor eine letzte Distanz zwischen ihnen beiden niemals. Er genoss diese Beziehung, die ihm einen Ersatz für das bot, was er tatsächlich vermisste und gerne zurück gehabt hätte – seinen eigenen Sohn. Doch Jean-François war dabei kein gleichwertiger Partner, auch wenn er das Gefühl hatte, wie ein solcher behandelt zu werden. Da er das wahre Wesen Victors nicht kannte, hätte er niemals den Unterschied begreifen können. Doch der war so groß, wie zwischen einem Erwachsenen, der sich mit einem Kind unterhält und es dabei nicht spüren lässt, dass der Erwachsene sich auf seine Kosten amüsiert. Während er die Illusion genoss, die ihm für den Moment gab, was er haben wollte, waren Victors Gefühle für den Pagen viel weniger offen und ehrlich, als er es geglaubt hätte. Es war eine sehr selbstsüchtige Zuneigung, die weniger danach fragte, was für den jungen Mann das Beste war, sondern sich eher darauf konzentrierte, ihn im Schloss zu halten.
Als der Frühling sich anzukündigen begann und Schnee und Eis tauten, war der Aufbruch noch kein Thema zwischen ihnen. Victor vermied es gänzlich davon zu sprechen und da sein Gönner auf kleine Andeutungen nicht einging, beharrte Jean-François zunächst nicht darauf. Doch je mehr das weiße Leichentuch des Winters dahin schwand, desto mehr begann die Sehnsucht des jungen Mannes, nach seiner eigenen Heimat zu wachsen.
Immer häufiger kam er nun auf Frankreich zu sprechen. Die vertrauten Eigenarten der Leute, die ihn zu Hause oft irritiert und gereizt hatten und die er jetzt zuweilen tatsächlich vermisste. Von dem milderen Klima an der Küste des Meeres – und schließlich davon, wie es vor seinem Aufbruch in Paris gewesen war. „Es ist wahrlich die schönste Stadt der Welt!" schwärmte er und berichtete von den umfangreichen Bauarbeiten, die unter seinem Kaiser begonnen hatten. Die imposanten Gebäude, die entstanden; dem großen Park vor seinen Toren und dem Charme berühmter alter Bauwerke, die schon seit langer Zeit zur Stadt gehörten. Er berichtete von seinen verschiedenen, kaum bekannten Lieblingsorten in der Stadt und seine Erzählungen erweckten für Victor eine Stadt zum Leben, die er nur aus Erzählungen in Büchern kannte. Während er aufmerksam zuhörte und viele geistreiche Fragen zu dem stellte, was sein junger Freund zu erzählen wusste, hoffte er inständig, dass der Aufbruch seines Gefährten noch lange auf sich warten lassen würde. „Nun, ich kann nur allzu gut verstehen, dass Ihr diese großartige Stadt vermisst und Euren Aufbruch herbei sehnt. Aber das Wetter ist so früh im Jahr noch trügerisch. Die Straßen sind schlecht befestigt und durch das Tauwetter tief und schwer von Schlamm. Zusätzlich könnt Ihr darauf zählen, dass es bald anfangen wird ergiebig zu regnen und dazu kommen um diese Jahreszeit die Stürme, welche die letzten Reste des Winters zwar endgültig vertreiben, was aber das durchqueren der Wälder durch Windbruch umso gefährlicher macht. Wer weiß wie weit Ihr kommen würdet, ehe Ihr vielleicht an einem unwirtlichen Ort fest sitzt."
Geschickt nutzte Victor Worte, die dazu angetan waren, Schatten der Bilder aus jenem schrecklichen Kriegszug herauf zu beschwören und er sah den jungen Mann mit zufriedener Genugtuung erbleichen. „Ihr wäret besser beraten, noch eine Weile zu warten, bis die schlimmsten Stürme und das schlechteste Wetter in einigen Wochen vorbei sind! Ich hielte es für eine schlechte Idee, wenn Ihr Euch jetzt in diese Gefahr hinausstürzen würdet. Ihr wisst, Eure Gesellschaft ist keine Belastung für mich und Ihr seid mir auch weiter herzlich willkommen." Durch solche und ähnliche Worte beschwichtigte der Graf seinen Gast zunächst und das Thema wurde eine Weile nicht mehr angeschnitten, bis es sich in ähnlicher Weise wiederholte.
Als der Frühling fortschritt, begann Jean-François von seiner Familie und seinem zu Hause an der Westküste zu erzählen. Von der kleinen Stadt, an deren Rand das Geschäft seines Vaters lag und wo seine Eltern und sein ältester Bruder lebten. Von den Leuten in dieser Stadt und wie er dort aufgewachsen war.
Seine lebhaften Berichte erinnerten den Grafen einmal mehr an Herbert, der sich ähnlich für viele Dinge begeistern und so leidenschaftlich und herzlich darüber erzählen konnte. Es würde einfach unerträglich sein, wenn der junge Franzose gehen würde und Victor wieder alleine im Schloss zurückblieb.
„Gewiss freut Ihr Euch sehr auf Eure Rückkehr zu Eurer Familie?", erkundigte sich Victor artig. „Oh ja, ich hoffe die Briefe sind angekommen und sie sorgen sich nicht allzu sehr!", entgegnete Jean-François lebhaft und ein strahlendes Lächeln breitete sich über seine blassen Züge. „Gewiss sind sie das. Sicher wartet man ebenso ungeduldig auf den Zeitpunkt, an dem Ihr sicher aufbrechen könnt, um den Heimweg anzutreten, junger Mann." Victor seufzte tief und starrte versonnen ins Leere, den Kopf auf eine Hand gestützt. „Was ist mit Euch, Herr Graf?", fragte Jean-François eindringlich. „Seid Ihr unwohl?" „Nein. Es ist nur…" Er seufzte erneut und schüttelte den Kopf. „Es muss großartig sein, die Aussicht zu haben, dass ein lang vermisster Sohn zurückkehrt", sagte er schließlich leise, beugte die Schultern und ließ den Kopf sinken. Tatsächlich war die Bemerkung sogar ein wenig ehrlich. „Wahrlich - Eure Eltern können sich glücklich schätzen!" Er verharrte in derselben Haltung, ehe er sich aufrichtete und seinen jungen Gast mit einem aufgesetzten Lächeln wieder ansah. „Nun, natürlich freue ich mich mit Euch auf die baldige Wiedervereinigung – auch wenn mir dieses Schloss dann viel größer und leerer erscheinen wird", bemerkte er wehmütig und machte eine ausladende Geste mit der Hand in Richtung seiner Ländereien. „Ich habe mich sehr an Euch gewöhnt", gab Victor von Krolock leise zu und ließ die Hand in seinen Schoß zurückfallen. „Oh, das ist zu freundlich von Euch, Herr Graf!" erwiderte Jean-François heftig errötend. „Ich habe die gute Meinung, die Ihr von mir habt, nicht verdient, ganz bestimmt nicht! Aber ich bin mir sicher, niemand wird es mir übel nehmen, wenn ich noch einige Tage bleibe. Ich bedaure die Aussicht außerordentlich, Euch wieder alleine diesem großen, stillen Schloss zu überlassen!"
Mit solchen und ähnlichen Gesprächen schaffte es Victor ein ums andere Mal, dass der junge Mann, der allmählich begann, Karten zu studieren und sich Gedanken um die besten Reiserouten zu machen und ihn darüber auszufragen, seine Pläne immer wieder aufschob. Rein aus dem fehlgeleiteten Mitleid mit seinem väterlichen Freund, den er unweigerlich alleine zurücklassen musste, wenn er sich gen Heimat aufmachen würde. Um den Eindruck zu verstärken, dass ihm der näherrückende Abschied sehr zu schaffen machte, schränkte Victor sein Jagdverhalten stark ein und trank möglichst wenig. Das hatte den Effekt, dass er auch für seinen Gast, dem in dieser Hinsicht sehr wenig auffiel, merklich blasser und dünner aussah. Die sichtbaren Abstinenzerscheinungen, wie sein Zittern und die Unruhe, trugen ebenfalls zu dem Bild bei, das er darzustellen wünschte. Den Rest nahm er klaglos billigend hin. Zunächst ging sein Plan auf. Die Bäume zeigten schon die ersten Knospen und noch immer war Jean-François im Schloss, denn er hatte die letzten Schritte bislang nicht über sich gebracht. Doch seine Unruhe und Sehnsucht nach Heimat und Familie wurden stetig größer und so fasste er sich eines Abends endlich ein Herz. „Herr Graf, es ist mir äußerst unangenehm, wenn ich wieder davon anfangen muss. Das Frühjahr ist da und die Zeit der Stürme und des schlechten Wetters sind vorüber", begann der junge Mann höflich doch mit merklicher Entschlossenheit. Er hatte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor dem Lehnstuhl des Grafen aufgestellt und dafür offensichtlich allen Mut zusammen genommen. „Ich weiß, dass uns beiden der Abschied nicht leicht fallen wird, denn auch ich werde Euch vermissen, wenn sich unsere Wege trennen müssen. Doch es hilft nichts. Ich muss zu den meinen zurückfinden. Sie werden sich sicherlich Sorgen machen." Er holte die Hände hinter dem Rücken hervor und begann in der für ihn typischen Art an seiner Kleidung herum zu nesteln, während er weiter sprach. „In den Briefen habe ich von meinem Plan gesprochen, sobald es möglich wäre, nach Hause aufzubrechen. Stattdessen konnte ich mich wochenlang Euretwegen nicht dazu aufraffen. Doch ich bin zu dem Entschluss gelangt, dass es das Beste ist, wenn wir uns nichts vormachen. Keinem von uns wird es leichter fallen, wenn ich noch länger zögere. Auch möchte ich Euch nicht verschweigen, dass ich mich schmerzlich nach der Heimat und den meinen zurücksehne. Ihr, der Ihr selbst Vater seid, werdet das gewiss verstehen." Er war fast ein wenig außer Atem, als er geendet hatte und sah den Grafen eindringlich an. „Ich habe es befürchtet, dass Ihr mir das eines Tages sagen würdet", antwortete Victor traurig. „Ihr seid also fest entschlossen? Und ich kann euch nicht zum Bleiben bewegen?" „Das bin ich, Herr Graf. Aber sagt, wie steht es mit dem Versprechen, das Ihr mir vor dem Wintereinbruch gegeben habt?" entgegnete der junge Mann bestimmt. „Ihr hattet mir alle Unterstützung zugesagt, die Ihr zu leisten in der Lage seid. Das waren Eure Worte. Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Wie steht es mit Euch? Werdet Ihr Euer Versprechen einlösen?", beharrte Jean-François. „Natürlich werde ich das. Ein Ehrenwort ist bindend und muss in jedem Fall gehalten werden", antwortete Victor nicht ohne stillen Widerwillen und verschränkte die Arme vor der Brust. Es gefiel ihm gar nicht, dass das Ende Ihrer gemeinsamen Zeit gekommen war und er gezwungen sein würde, diese manipulative Ersatzbeziehung zu dem Sterblichen aufzugeben. Doch er hatte aufrichtige Achtung dafür, dass der junge Mann offensichtlich seinen ganzen Mut zusammengenommen hatte und nun auf diese schlichte, jedoch eindringliche Weise auf die Einhaltung des gegebenen Versprechens drängte. Er hatte sich in der Tat sehr weiterentwickelt. Was auch immer die Zukunft für ihn bereithalten mochte, Victor glaubte, dass er seinen Weg erfolgreich weiter beschreiten würde. Zum ersten Mal regte sich eine tiefere Empfindung in seinem Inneren. Er brachte es einfach nicht über sich, die Bitte um die zugesagte Unterstützung abzuschlagen. Zu sehr hatte er den einstigen Pagen ins Herz geschlossen.
Mit der absoluten Sicherheit des Jägers wusste er, dass jedes Wort der Wahrheit entsprach. Der junge Mann wollte nach Hause und ebenso deutlich wusste er, dass es darauf nur eine einzige Antwort geben konnte. Victor stand auf und trat ein paar Schritte auf sein Gegenüber zu. „Nun gut, Jean-François. Ich werde mein Wort halten. Ihr werdet von mir die Mittel erhalten, die Ihr für die Weiterreise brauchen werdet," versicherte er mit einem wehmütigen Lächeln. „Ihr sollt ein Pferd und alles notwendige erhalten. Des Weiteren werde ich Euch Briefe für die Angehörigen meines Standes mitgeben. Ich bin in dieser Gegend nicht ohne Einfluss und werde mich so weit als möglich für Euch verwenden. Man wird Euch jede nötige Hilfe zukommen lassen. Ich werde veranlassen, das Ihr von einem ortskundigen Führer zum Schloss des nächsten Adligen geführt werdet, der Euch gewiss ebenso weiterhelfen wird. Auf diese Weise werdet Ihr - bis die Grenzen unseres Landstrichs erreicht sein werden - in jedem Falle sicher vorankommen", versprach Victor bestimmt. „Auch wenn ich befürchte, dass ich übervorsichtig bin. Niemand würde in Euch heute einen Angehörigen der Großen Armee erkennen. Aber ich bitte Euch um ein paar Tage. Die nötigen Papiere werde ich heute noch aufsetzen, aber da ich auch mit meinem Bankier in Kontakt treten und auch sonst noch einiges arrangieren muss, wird es ein paar Tage dauern, alles in die Wege zu leiten." Ein glückliches Strahlen trat in die auf Victor gerichteten, dunklen Augen. „Bis wann, glaubt Ihr, dass alle Vorbereitungen getroffen sein werden, Herr Graf?", fragte Jean-François begierig, was Victor ein trauriges Lächeln abnötigte. „Natürlich. Ihr wollt Euch vorbereiten und Eure Angelegenheiten bis zu Eurer Abreise ordnen. Ich verstehe." Victor entfernte sich ein wenig von seinem Gast und begann langsam und scheinbar nachdenklich in dem Raum herumzugehen. „Nun, Jean-François, alle Wege und Verzögerungen einkalkuliert, sollten vier volle Tage genug sein, denke ich. Ist das in Eurem Sinne?", antwortete Victor freundlich.
Er gab sich wehmütig gefasst und schaffte es sogar, ein kleines, joviales Lächeln aufzusetzen, als der junge Mann ihm überschwänglich dankte. Seine Gedanken waren jedoch bereits anderswo, so dass er die eigentlichen Worte gar nicht hörte. Unweigerlich wandten sie sich seinem eigenen Sohn zu. Herbert war vor Jahrzehnten gegangen und nie zurückgekehrt. Kein Lebenszeichen und keine einzige Zeile hatte er von seinem Sohn in all den Jahren erhalten. Offensichtlich vermisste er seinen Vater nicht, dachte Victor wehmütig. Vielleicht war Ihre Beziehung zueinander nie so gut und innig gewesen, wie er es geglaubt hatte. War vielleicht alles immer nur Wunschdenken gewesen? Oder hatte er Herbert mit den Jahrhunderten soweit gebracht, dass er ihn so sehr zu verabscheuen begonnen hatte, dass es ihm so einfach gefallen war, jeglichen Kontakt abzubrechen und Victor einfach zu vergessen? Dieser Gedanke war schmerzhaft, denn allem verletzten Stolz zum Trotz hatte er selbst es nie fertiggebracht, die Zuneigung für Herbert aus seinem Herzen zu verbannen. Selbst jetzt noch würde er ihn wie ein Narr ohne mit der Wimper zu zucken wieder aufnehmen und kein Wort über die Trennung verlieren, wenn Herbert plötzlich ohne Erklärung vor der Tür stünde.
Dieser absolute Wille zur Rückkehr seines jungen Gastes bewegte ihn mehr, als er es eingestanden hätte. Mehr noch… Er wünschte sich inständig, sein eigener Sohn würde ebenso hartnäckig versuchen, zu ihm zurückzukehren. Es war eine bittersüße Vorstellung und Victor überließ sich seinem Wunschdenken, ohne zu bemerken, dass sich sein Hausgast taktvoll zurückzog, um es seinem Gönner zu gestatten, ungestört seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.
Seinem Wort gemäß, machte sich Victor noch in derselben Nacht an die Arbeit und schrieb die unvermeidlichen Briefe. Einige wurden direkt am anderen morgen von eiligen Reitern weitergeleitet. Andere, wie ein peinlich genau angefertigtes Vorstellungsschreiben, würde der junge Mann einfach bei sich tragen und bei Bedarf vorweisen können. Da er Jean-François nicht der Gefahr auszusetzen gedachte, mit einer großen Summe baren Geldes unterwegs zu sein, leitete er, wie er es angedeutet hatte, alles in die Wege, damit sein Bankier ein Depot anlegte, auf dass der junge Mann auf seiner Reise mittels eines Kreditbriefes zugreifen konnte. Zudem wurde auf Anweisung des Grafen ein geeignetes Pferd beschafft, dass ihn auf seine Reise in die Heimat begleiten sollte. Ein Tier einheimischer Zucht, das kräftiger und ausdauernder war, als man es ihm seines Äußeren wegens zugetraut hätte und das den jungen Mann nicht in Gefahr bringen würde, weil es in jedem, der es ansah, Begehrlichkeiten wecken würde. Wie Victor es vorausgeahnt hatte, kam es bei allem zu diversen Verzögerungen, zu denen nicht zuletzt die langen Wege beigetragen hatten. Er war froh, genug Zeit einkalkuliert zu haben, denn es war offensichtlich, dass Jean-François dieses Mal auf die Einhaltung Ihrer Abmachung bestehen würde. An dem letzten Abend der vereinbarten Frist, wurde Victor bereits ungeduldig erwartet, als er sein Arbeitszimmer verließ, nach dem er sein Tagewerk vollbracht hatte. Die Tür des Salons stand offen und er hörte, dass sein junger Freund unruhig auf und ab ging. Mit einem belustigten Zug um die Lippen trat er geräuschlos ein und beobachtete Jean-François einen Moment lang. „Schon so begierig auf Eure Abreise, dass Ihr nicht mehr ruhig an einem Ort verweilen könnt, mein junger Freund?", fragte er in amüsiertem Tonfall. Der Angesprochene zuckte erschrocken zusammen und Victor lachte leise, als er sich umdrehte. „Herr Graf! Es ist mir immer wieder ein Rätsel, wie Ihr es fertig bringt, Euch derart anzuschleichen!" Victor zuckte mit einem Lächeln auf den Lippen leichthin die Schultern. „Gewohnheit, nehme ich an. Sicher kennt Ihr Euer Elternhaus auch sehr gut. Stellt euch vor, Ihr lebt Euer ganzes Leben darin. Dann kennt auch Ihr jede einzelne knarrende Bodendiele und jede quietschende Tür und könnt sie jederzeit vermeiden, wenn Ihr es wünscht", bemerkte er gelassen. Jean-François schüttelte irritiert den Kopf. „Aber Ihr bewegt Euch immer so leise – Ihr seid wahrhaftig ein Phänomen!", beharrte er. Victor machte eine wegwerfende Geste und hob dann eine Hand, die mehrere Umschläge hielt, deren unterschiedliches Papier deutlich zeigte, dass sie nicht alle aus seiner Feder stammten. „Ich glaube, dies hier sollte Euch mehr interessieren", entgegnete er ruhig und hielt sie dem jungen Mann entgegen. Seine Augen leuchteten auf und er trat begierig auf Victor zu, der ihm die Umschläge galant überreichte. „Es ist also tatsächlich alles bereit?" fragte er und sah in freudiger Erwartung zu seinem Gegenüber hinauf. „Das ist es. Ihr könnt morgen beruhigt abreisen. Ein einheimischer Führer wird euch morgen früh im Gasthaus des nächsten Dorfes erwarten und euch zum Schloss von Baron Romanescu geleiten. Er wird Euch zum nächstgelegenen Angehörigen unseres Standes bringen lassen. Auf diese Art solltet Ihr rasch aus dieser entlegenen Region herauskommen und in Gefilde, in denen Ihr ohne Hilfestellung vorankommen werdet," erwiderte Victor mit einer ausladenden Geste. „Dieser cremefarbene Umschlag enthält ein Schreiben, das Euch Eurem jeweiligen Gastgeber vorstellen wird und ihm das Nötige in unserer Muttersprache erklärt", erläuterte er dann weiter. „Ich danke Euch von Herzen, Herr Graf!", entgegnete der junge Mann erleichtert und drückte die erhaltenen Umschläge fest an sich. „Der gesiegelte Umschlag ist ein Kreditbrief, mit dem Ihr auf ein für Euch eingerichtetes Depot zugreifen könnt. Ich hielt es für zu riskant, Euch mit einer zu großen Summe baren Geldes zu einer derartigen Reise aufbrechen zu lassen. Aber ich denke, das hier sollte für Eure Bedürfnisse unterwegs für eine Weile ausreichend sein", erklärte Victor weiter und reichte Jean-François einen kleinen Lederbeutel. Er begriff sofort, dass dieser Münzen enthielt, als er ihn entgegen nahm. „Ich danke Euch, für all die Großzügigkeit, die Ihr mir erwiesen habt, Herr Graf. Doch es fällt mir schwer, all das anzunehmen, jetzt da es soweit ist… Ihr habt bereits so viel für mich getan. Es fühlt sich nicht recht an, noch mehr von Euch anzunehmen", murmelte der junge Mann sichtlich geniert. „Seid nicht töricht, Jean-François! Wollt ihr wieder davon anfangen? Ich dachte das hätten wir schon vor Monaten geklärt!" entgegnete Victor ein wenig schroff und mit strengem Blick. „Abgesehen davon ist es ohnehin schon zu spät für derartige Bedenken", wehrte er entschieden ab und ließ sich elegant in einen Sessel sinken. Der junge Mann tat es ihm gleich und betrachtete ihn mit schüchterner Dankbarkeit. „Wie kann ich Euch all das nur je wieder vergelten", brachte er stockend heraus. „Ob Ihr das nun glaubt oder nicht, das habt Ihr bereits, mein junger Freund. Aber wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich Euch gerne auf einem Stück des Weges begleiten." „Natürlich, dieses Angebot nehme ich gerne an!", stimmte Jean-François erfreut zu. Victor nickte mit einem milden Lächeln. „Ist Euch bewusst, dass dies für Euch einen sehr frühen Aufbruch bedeutet, Jean-François?" fragte Victor mit gehobenen Brauen. Für einen Moment sah ihn sein Gegenüber nur irritiert und stirnrunzelnd an. Dann fiel es ihm scheinbar wie Schuppen von den Augen. „Oh!" Von seiner eigenen Ignoranz erschreckt, schlug sich der Franzose die Hand vor den Mund. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er die Hand wieder sinken ließ und verschämt weitersprach. „Verzeiht mir, Exzellenz, ich bin Eure ungewöhnliche Tageseinteilung mittlerweile viel zu sehr gewohnt, um noch oft daran zu denken!", rief er aus. „Aber natürlich, wie konnte ich das nur vergessen! Ihr habt mir ja erzählt, dass Ihr das Sonnenlicht so schlecht vertragt. Es wird mir nichts ausmachen, früh aufzustehen, wirklich! Immerhin gibt es uns sogar noch ein klein wenig mehr Zeit als gedacht, nicht wahr?" „Das tut es wohl", stimmte Victor mit einem wehmütigen Lächeln zu lehnte sich in seinen Sessel zurück und faltete die Hände. „Aber es bedeutet auch, dass Ihr Euch heute Nacht lieber ausruhen solltet, anstatt mit mir die ganze Zeit wach zu bleiben. Ihr habt morgen einen langen Tag vor Euch." „Aber ich kann gewiss Schlaf entbehren," protestierte der junge Mann. „Ich bin wirklich sehr ausgeruht, Herr Graf. Es wird mir kaum etwas ausmachen." Sein Gegenüber verschränkte jedoch nur mit einem strengen Blick die Arme vor der Brust. „Unsinn! Hat Euch denn niemand beigebracht, dass man keine große Reise ermüdet beginnt?" wehrte Victor dann entschieden ab und hob in einer ablehnenden Geste de Hände. „Aber ich könnte wirklich…" „Nein! Ausgeschlossen! Ab morgen müsst Ihr Euch wieder an eine normale Tageseinteilung gewöhnen", beharrte Victor bestimmt. „Deshalb solltet Ihr tun, was vernünftig ist, und Euch alsbald in Euer Gemach zurückziehen und Euch ausruhen. Belastet Euch nicht mit Gedanken an mich. Ich komme schon zurecht." Victor brauchte noch einige Zeit, um Jean-François zu überzeugen, der bei aller Begeisterung für seine bevorstehende Abreise gerne noch ein wenig mehr Zeit mit seinem Gastgeber verbracht hätte. Doch der Graf lehnte dies am Vorabend der Reise kategorisch ab, gab bestimmt zu bedenken, dass er ja zu nichts zurückkehren würde, dass er nicht schon lange gewohnt war. Schließlich folgte Jean-François der Anweisung und zog sich zurück, um noch einige Stunden Ruhe zu finden, bevor es Zeit zum Aufbrechen war.
Pünktlich zur vereinbarten Zeit trafen sich die beiden Männer im Schlosshof. Jean-François war von einem Diener geweckt worden, mit der Nachricht, seine Exzellenz erwarte ihn im Innenhof. Als er hinunter kam, saß Victor von Krolock bereits im Sattel seines braunen Wallachs, die Zügel eines weiteren Pferdes in einer Hand. Im Licht einiger Fackeln konnte Jean-François nur sehen, dass es dunkler, kleiner und stämmiger war, als das Reittier des Grafen. Zudem trug es noch ein paar voll bepackter Satteltaschen. Der junge Mann sah sich noch einmal um, ehe er näher trat, ganz so, als nähme er in Gedanken von dem Schloss Abschied, das ihm in den vergangenen Monaten eine sichere Zuflucht gewesen war. Dann trat er entschlossen neben das Pferd, das offensichtlich seines war und stieg in den Sattel. „Lasst Euch nicht von seinem Aussehen täuschen", warnte Victor. „Dieses Tier wird euch nicht enttäuschen dabei aber keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf Euch ziehen." Der Angesprochene nickte nur zustimmend und murmelte einige Dankesworte. Dann nahm er die Zügel auf und nickte zu Victor hinüber, um ihm zu bedeuten, dass er bereit war. Im gemächlichen Tempo durchquerten sie den Hof und passierten die bereits geöffneten Tore. Der frühe Morgen war noch recht kühl und sternenklar. Der nahezu volle Mond stand noch am Himmel und bot eine willkommen Lichtquelle zu dieser frühen Stunde. Das Mondlicht fiel durch die erst spärlich belaubten Zweige der hohen, alten Bäume des dichten Waldes, der sie bald umfing. Für eine Weile ritten die beiden Männer schweigsam nebeneinander her, die dumpfen Hufschläge auf dem weichen Boden das einzige hörbare Geräusch. Doch dann ließ sich schließlich die Stimme des Jüngeren vernehmen. „Mein Gott, hier ist man ja wirklich am Ende der Welt. Meilenweit entfernt von allen Menschen! Wieso fällt mir das erst jetzt auf? Lebt Ihr gerne auf diesem abgelegenen Schloss, Herr Graf? Vergebt die Frage, aber ich frage mich, warum sich jemand wie Ihr dazu entschließt, an einem so einsamen Ort zu leben, wo andere Menschen kaum einmal hinkommen. Es erscheint mir eher wie eine Strafe, ganz alleine an einem so gottverlassenen Ort zu leben!" Der junge Mann sprach halb entsetzt, halb entgeistert. Dem Grafen entlockte es nur ein trockenes Lachen. „Nun, genau diese Abgeschiedenheit war einmal die große Anziehungskraft. Als ich aufwuchs, zog mein Vater die Residenz in der Stadt vor. Einen Teil des Jahres verbrachten wir dennoch hier," die Zügel fest in einer Hand bedeutete er mit einer Geste die Umgebung um sie herum. „Ich war der einzige Sohn und hatte viele ältere Schwestern. Ich war noch sehr jung, als mein Vater starb und alle glaubten, ich hätte Ratschläge von jedermann nötig. Der Stammsitz war der perfekte Ort, um all dem zu entkommen. Zusammen mit meiner Frau und meinem Sohn habe ich hier nie etwas vermisst", berichtete Victor wahrheitsgemäß. „Doch jetzt schon?", wollte Jean-François wissen. „Manchmal," entgegnete Victor nachdenklich. „Aber ich habe zu lange hier gelebt. Von Zeit zu Zeit denke ich, ich bin wie einer dieser alten Bäume hier. Zu tief verwurzelt, um fort zu gehen." Victor drehte sich ein wenig zu seinem Gesprächspartner hinüber. „Aber Ihr seid noch so jung. Ich denke nicht, dass Ihr das verstehen werdet. Wartet ab, bis Ihr erst einmal die ersten fünfzig Jahre hinter Euch habt, dann werdet auch Ihr merken, dass bestimmte Gewohnheiten zu Euch gehören, wie der Schatten zum Licht." Victor klang ruhig und gelassen, als er dies sagte. Aber seinen Begleiter schien etwas zu beschäftigen. Er nagte an seiner Unterlippe herum, hielt die Zügel viel zu locker und schien den letzten Teil von Victors Aussage gar nicht gehört zu haben. Victor warf ihm einen nachsichtigen Seitenblick zu und ließ ihn dann gewähren. Aber er musste nicht lange warten, um herauszufinden, was den jungen Mann beschäftigte. „Was werdet Ihr jetzt mit all der Zeit anfangen, Herr? Der Gedanke verursacht mir noch immer Schmerzen, dass Ihr hier ganz alleine zurückbleibt", wollte er wissen. „Sorgt Euch nicht, Jean-François. Nach all der Zeit bin ich an das Alleinsein gewöhnt. Es gibt ja noch immer meine Bücher", antwortete Victor betont gelassen. „Wenn es mir zu ruhig wird, kann ich jederzeit ein paar unpopuläre Bestimmungen erlassen, das sorgt schon dafür, dass sich Gesellschaft im Schloss einfindet", fügte er sarkastisch als nachträglichen Gedanken hinzu. Das brachte seinen Begleiter zum Lachen. „Würdet Ihr das tatsächlich tun?" „Nein, wahrscheinlich nicht", schnaubte Victor belustigt. „Aber es ist ein tröstlicher Gedanke, oder nicht? Nun ja, kleine Reisen haben ebenfalls Ihren Reiz. Es gibt einige interessante Städte, die bei einem Aufenthalt recht kurzweilig sein können", plauderte er dann zwanglos weiter und die Unterhaltung wandte sich anderen Themen zu. Sie ließen die Pferde in einem zügigen Schritttempo gehen, das den Lichtverhältnissen angemessen war, kamen aber dennoch gut voran. Victor wusste, dass er bald würde umkehren müssen. Einige kleine Abkürzungen und eine größere Geschwindigkeit eingerechnet, würde er trotzdem mehr als eine halbe Stunde brauchen, um zum Schloss zurückzukehren, und sein Siebter Sinn warnte ihn bereits davor, dass der Sonnenaufgang näherkam. Als sie schließlich zu einer kleinen Weggabelung kamen, brachte er sein Reittier zum Stehen, und Jean-François tat es ihm hastig nach. Der junge Mann warf ihm einen leicht irritierten Blick zu. „Weshalb halten wir an?", fragte er unsicher. „Es wird Zeit für mich umzukehren, mein Freund. Wenn ich nicht mit den negativen Konsequenzen konfrontiert werden möchte, die meine Krankheit mir auferlegt, muss ich zurück sein, bevor die Sonne aufgeht. Ich muss mich hier von Euch verabschieden, Jean-François!", entgegnete Victor gefasst und stieg elegant vom Pferd. Sein Begleiter stieg ebenfalls ab und kam zu ihm herüber. Mit einem tiefen Seufzen sah er zu dem älteren Mann auf und schluckte schwer. „Ich wünschte, Ihr könntet mich begleiten", sagte er dann mit belegter Stimme. Victor schenkte ihm ein trauriges, schmales Lächeln. „Das ist unmöglich und Ihr wisst es. Wir haben beide stets gewusst, dass dieser Moment unausweichlich ist. Mein Platz ist hier und Eure Familie wartet anderswo auf Euch. Ihr könnt mir natürlich schreiben, wenn Ihr das noch möchtet, sobald Ihr nach Hause zurückkehrt." Der junge Mann schluckte erneut. „Ihr wart der beste Freund, den ich hätte finden können zu einer Zeit, in der jeder in der Fremde eine mögliche Gefahr war. Ich kann Euch nicht genug danken!" Victor schüttelte mit einem leicht vorwurfsvollen Blick den Kopf. „Das ist zu viel der Ehre und Ihr wisst das all zu gut. Ihr wart hier schon lange nicht mehr in Feindesland. Ihr wusstet es nur nicht. Es hätte viele andere gegeben, die Euch ebenso aufgenommen hätten, wie ich es getan habe", wehrte er freundlich ab. „Aber Ihr habt es getan, nicht jemand anders! Dieser Teil wird sich niemals ändern und Ihr habt mir mehr gegeben als Ihr jemals wissen werdet!" beteuerte der junge Mann nachdrücklich und fasste den Grafen mit leuchtenden Augen beherzt am Arm.
Victor schluckte, mit einem Mal selbst ein wenig beklommen. Er würde diesen empfindsamen, zaghaften jungen Sterblichen vermissen. Aber es war an der Zeit ihn gehen zu lassen. Er war nicht Herbert und er würde es nie sein. „Ich wünsche Euch eine sichere und erfolgreiche Heimreise, mein junger Freund. Mögt Ihr rasch an Eurem Ziel sein", entgegnete er mit erkennbar melancholischem Tonfall und legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Passt gut auf Euch auf, Jean-François! Ich werde Euch stets in guter Erinnerung behalten." Victors Stimme klang sanft, aber bestimmt und es schwang eine Endgültigkeit darin mit, die nicht zu überhören war. Er versuchte das Unvermeidliche so kurz wie möglich und nicht schwerer zu machen, als es sein musste. Sein Gegenüber spürte das offensichtlich. Tränen traten in die dunklen Augen und dann tat er etwas, womit Victor nicht gerechnet hatte und auf das er nicht vorbereitet war.
Mit einer impulsiven Bewegung überbrückte er die Distanz zwischen ihnen und umarmte den älteren Mann heftig. Victor blieb für einen Moment stocksteif stehen, ohne sich zu rühren. Dann löste sich die angespannte Haltung und er erwiderte instinktiv die Umarmung und ließ es geschehen. Es war ein ganzes Menschenleben her, dass jemand dies zuletzt getan hatte, denn Herbert war das einzige Wesen, das ihn aus eigenem Antrieb berührt oder gar umarmt hatte. Zuletzt irgendwann vor jenem unglückseligen Streit. Er wusste nicht mehr wieso, aber diese Erinnerung stand plötzlich deutlich vor seinem inneren Auge, vermischte sich mit der gegenwärtigen Situation, die ihn so jäh überfallen hatte und ohne darüber nachzudenken schloss er die Augen und ließ seinen Kopf gegen die Schulter des jungen Mannes sinken.
In all den Monaten hatte Victor nie diese letzte Grenze zwischen ihnen überschritten. Er hatte den Abstand gewahrt, während der Sterbliche sein Bedürfnis nach einer gewissen Nähe befriedigte. Warum auch immer, es wäre ihm nie in den Sinn gekommen diesen letzten Schritt zu tun. Dieser Tage fanden sich nur seine Opfer in seinen Armen wieder, in einer Parodie von etwas, das für ihn einmal selbstverständlich und vollkommen natürlich gewesen war. Jetzt erlebte er diese stürmische Umarmung wie ein Abschiedsgeschenk – und es überwältigte ihn. So etwas wie Zeit schien nicht mehr zu existieren, vielleicht war sie auch einfach stehen geblieben, eingefroren in diesem Moment, der alles andere ausschloss. Aber ebenso plötzlich wie sich seine Wahrnehmung auf ausschließlich diese Umarmung verengt und beschränkt hatte, genauso plötzlich überfielen ihn mit einem Mal alle anderen Eindrücke, die für einen aus der Zeit gefallenen Moment nicht da gewesen waren.
In der Aufregung der letzten Nacht war er nicht jagen gewesen, wie es in seiner Absicht lag und da er Jean-François in den vergangenen Wochen den vom nahenden Abschied gezeichneten Sterblichen vorspielte, war er von seinen nächtlichen Jagdgewohnheiten abgekommen. Der Hunger war dieser Tage stets gegenwärtig, so wie es in dem Jahrhundert gewesen war, auf das er mit solcher Geringschätzung zurückblickte. Die vertrauten Mangelerscheinungen und seine körperliche Reaktion auf den erzwungenen Verzicht, die noch vor ein paar Minuten vollkommen nebensächlich gewesen waren, übermannten ihn jetzt. Seine vampirischen Sinne waren für ihn seit langem gewöhnliche Realität geworden. Ein Meer verfügbarer Details das ihn umgab ohne ihn zu belasten. Einmal mehr oder weniger bewusst, ähnlich wie man die eigene Atmung zuweilen kaum registriert, um sich zu anderen Zeiten dessen vollkommen bewusst zu sein. Jetzt überwältigte ihn all das, wie es seit der ersten Zeit nach seiner Verwandlung nicht mehr der Fall gewesen war. Das Gefühl des Körpers, der ihn umschlungen hielt war so intensiv, dass er glaubte, jede Einzelheit zu spüren. Der Druck der um ihn geschlungenen Arme und des schmächtigen Oberkörpers, der sich gegen seinen presste. Die Hitze, die er ausstrahlte, und die Bewegungen seines Brustkorbes, der ihn beim Atmen streifte. Das stetige Geräusch des schlagenden Herzens war unerträglich laut, wie eine große Trommel, die direkt neben seinem Ohr geschlagen wurde. Noch stärker als alle anderen, fast unerträglich starken Wahrnehmungen, war der Geruch nach frischem Blut. Dieser schien so stark in der Luft zu liegen, wie der überwältigende Geruch eines Parfums, nachdem dessen Flasche zerbrochen wurde. Es raubte ihm schier den Atem. Das unterschwellige, kaum merkliche Beben begleitete ihn schon die ganze Nacht. Jetzt begann er heftig und unkontrolliert am ganzen Körper zu zittern. Mit einem Mal gab es nur noch das quälende, überwältigende Verlangen nach Blut.
Er brauchte es! Jetzt sofort! Er fühlte sich schwindelig und benommen. Verzweifelt, als würde er nie wieder einen Schluck bekommen. Er ertrank in seinem bezwingenden Bedürfnis nach Blut. „Herr Graf, was ist mit Euch?" Es klang dumpf, wie von weit her und er wusste nicht ob er es tatsächlich hörte. Die Arme des jungen Mannes begannen sich von ihm zu lösen, der Körper in seinem Arm wandte sich unmerklich und der Geruch nach Blut wurde - wenn das überhaupt möglich war - noch stärker. Waren seine Impulse kurz zuvor noch rein menschlich gewesen, geschah jetzt das Gegenteil. Seine Finger umspannten nun instinktiv den Nacken des jungen Burschen und bogen dessen Hals zur Seite, um ihn unnachgiebig und bestimmt zu überstrecken. „Was tut Ihr da? Lasst das bitte und lasst mich um Himmels Willen los." Der Franzose gestikulierte hilflos heftig mit den Armen, ohne dadurch etwas auszurichten. Er bekam keine Antwort. Er legte die Hände nun flach auf die Brust seines Gegenübers und versuchte, ihn von sich weg zu drücken, plötzlich von einem Zustand heftiger Angst gepackt, die er in der Gegenwart seines Begleiters nie empfunden hatte. Doch es war bereits zu spät. Schon im nächsten Moment gruben sich die scharfen Reißzähne in seinen Hals. Der erste Schluck hätte eine Erleichterung bedeuten sollen, aber das war es nicht. Nach dem ersten süßen Geschmack blieb nur die Gier nach mehr. Mehr! Im Geist des Opfers mischten sich fehlgeleitete Zuneigung für seinen Angreifer, Verwirrung, Schmerz und Angst mit dem sinnlichen Lustschmerz der Beute, die in ihrem Innersten bereits vollkommen ihrem Jäger verfallen war, zu einer berauschenden Melange. Jeder Schluck, ein verbotenes Vergnügen, dass dieses kaum erwachte Menschlein nicht begreifen und dem er sich doch nicht entziehen konnte. Die Versuche, sich zu entziehen, erstarben. Mit einem Erschauern fühlte Victor, wie sich sein Opfer begann, an ihn zu drängen und ihn damit die physischen Anzeichen seiner Wonne spüren ließ. Es war intensiver als die Erfahrung mit der Hure in der Stadt oder das Auskosten von Schmerz und Furcht, die er so oft mit seinen Opfern geteilt hatte. Dieses Schwanken seines Opfers zwischen der Hingabe und der Zuneigung für das Wesen, dem er sich so ahnungslos ausgeliefert und dessen dunkler Anziehungskraft er ohne es zu begreifen vollkommen erlegen war, und heftiger Ablehnung in Anlehnung tief verinnerlichter Moralvorstellungen, sein Unverständnis wie er diese Erfahrung gleichzeitig ablehnen und sie mit einem drängendem Hunger nach mehr begehren konnte. Der Vampir an seiner Kehle begriff es unterdessen nur allzu deutlich, lagen doch Jean-François' ganze Geheimnisse durch sein Blut vollkommen ausgebreitet vor ihm. Verstrickt in ein Netz von Erkenntnissen und Akzeptanzen seiner selbst, die nur halb vollzogen waren, hatte der junge Mensch den wahren Grund seiner Verehrung für seinen viel älteren Freund selbst nie wirklich durchschaut. Das ständig wechselnde Kaleidoskop aus Widersprüchen war so berauschend und verlockend, dass es keinen Gedanken an Widerstand aufkommen ließ. Victor kam erst wieder aus diesem Zustand taumelnder Verzückung zu sich, als er die Verbindung zwischen ihnen mit dem nahenden Tod abreißen fühlte. Schwer atmend wurde er sich des schlaffen Gewichts des leblosen Körpers in seiner Umklammerung bewusst – und was es bedeutete. In einem Moment des Grauens, das umso größer war, da es vollkommen lautlos geschah, sank Victor auf die Knie, Jean-François noch immer in seinen Armen haltend. Der Graf krümmte sich vor Seelenqual und vergoss blutrote Tränen. Der Schmerz den er fühlte war unerträglich und kaum zu beschreiben und zudem gesellte sich eine unentrinnbare Empfindung vom Scham und Schuld. Er wollte Schreien und toben aber war unfähig auch nur einen Ton von sich zu geben. In Stummer Qual wandte er die Augen zum Himmel, aber der Vorwurf tief aus seinem innersten blieb lautlos. ‚Warum? Ist es immer noch nicht genug?Was gibt es noch, dass mir geblieben ist? Warum nimmst du nicht endlich mich und nicht alle anderen um mich herum?' Aber wie so oft in all den Jahrhunderten erhielt er keine Antwort. Für einen flüchtigen Moment lang, erwog Victor es, zu versuchen einen Vampir aus ihm zu machen, aber ein Instinkt sagte ihm das es bereits zu spät warum Jean-François eine andere Art Leben zu ermöglichen. Das Herz hatte bereits vor Minuten aufgehört zu schlagen. Der junge Mann war heimgekehrt – auf eine andere Art als er es sich gewünscht hatte und Victor blieb zurück. Allein mit dem Vergehen, das er begangen hatte und der Aussicht, mit dieser Schuld und sich selbst leben zu müssen.
Minutenlang verharrte Victor in Stille und Erstarrung, den leblosen Körper noch immer umschlungen, während der Morgen unerbittlich näherkam. Entsetzt über sich selbst und von dem, was geschehen war. Nach all den Opfern, die er zur Strecke gebracht hatte, seitdem Herbert fortgegangen war, hätte er von sich selbst behauptet, ein so erfahrener und routinierter Jäger geworden zu sein, dass ihm die Ausrutscher seines ersten Jahrhunderts nicht wieder passieren könnten. Jetzt musste er, vor sich selbst zurückschreckend, erkennen, dass es einen Faktor in dieser Rechnung gab, der noch viel unbeherrschbarer war und dessen Existenz er bislang vor sich selbst verleugnet hatte. Er hatte genug Menschen gesehen, die von etwas abhängig waren, und er hatte tief in ihre Seelen geblickt, um die Anzeichen jetzt nicht entsetzt an sich selbst zu erkennen. Doch im Angesicht eines noch größeren Grauens schreckte er vor dieser aufkeimenden Erkenntnis zurück.
Ein Satz hallte endlos immer wieder durch seine Gedanken. Es war etwas, das Herbert an jenem letzten gemeinsamen Abend zu ihm gesagt hatte. ‚Das bist nicht mehr du!' Damals hatte er es vehement abgestritten. Die Erkenntnis, dass seine Sterblichkeit für immer unwiederbringlich verloren war, dass er nichts verbessern konnte, auch wenn er sich noch so sehr bemühte selbst als Vampir alle seine hohen Ideale aufrecht zu erhalten und weiter nach ihnen zu streben, hatte ihn glauben lassen, jenseits des Abgrunds würde alles besser sein. Er hatte geglaubt, wenn er es schaffen würde, durch und durch böse zu werden, ein Teufel oder ein Verbrecher zu sein, würde es endlich erträglich werden lassen, und ihm somit ermöglichen, endlich Frieden mit sich selbst zu finden. Er hatte geglaubt vollkommen im Recht zu sein und seinen Rachefeldzug gegen Gott, die Menschen und das Universum begonnen. Er hatte geglaubt, wenn erst einmal seine alten Empfindungen abgestorben wären, würde er sich nicht mehr fühlen, als würde seine Existenz ihn innerlich zerreißen. Jetzt musste er sich eingestehen, dass es niemals funktioniert hatte.
Eine Weile fühlte es sich gut an, er hatte es genossen, einmal nicht mehr so, wie man es ihm seit frühster Kindheit eingebläut hatte, in allem perfekt sein zu müssen. Allem zu widersprechen und zuwider zu handeln, was er jemals für richtig gehalten hatte. Für eine Weile war es gut gewesen, sich keinen Normen und keiner Moral zu unterwerfen, sich vor nichts und niemandem zu beugen. Aber es konnte tief in seinem Inneren nicht verändern, was und wer er war, so sehr er es auch versuchte.
Was hatten ihm die Jahre rücksichtsloser dunkler Rachsucht und gnadenloser Schlechtigkeit eingebracht? ‚Diese armseligen Kreaturen in dieser Ruine im Wald hast du dir einst unterworfen, damit sie nicht das machen, was du jetzt Nacht für Nacht selbst tust!' Wieder halten Herberts lange verdrängte Worte durch seine Gedanken. Was hatte er zugelassen? Was hatte es aus ihm gemacht? Nicht den unbekümmerten, selbstgefälligen gefallenen Engel, der er hatte sein wollen, erfüllt und ruhend in seiner Grausamkeit. Nur einen Schatten seiner selbst, der alles verriet, woran er immer geglaubt hatte. Er konnte nicht zum Heiligen aufsteigen, sein Dasein als Vampir machte das vollkommen unmöglich. Auf das Niveau eines Teufel herabzusinken und damit den Gegensatz seines einstigen Ideals auszuleben war ihm gleichwohl auch nicht gegeben. Es blieb nur ein beschmutzter, zerschlagener Überrest dessen, der er einst gewesen war, zerschunden und befleckt durch seine eigene Hand. Er konnte nur selbst verabscheuen was aus ihm geworden war, und er empfand tiefe Reue.
Statt sich einzugestehen, dass er einsam war und diese sinnlose, leere Existenz nicht mehr ertrug, hatte er einen unschuldigen Fremden manipuliert und ausgenutzt. Der Versuch, ihn unbeschadet und respektvoll gehen zu lassen, war auf kläglichste Art gescheitert.
Nichts von allem war je ein Ausweg gewesen. Er hatte alles nur viel schlimmer gemacht und noch dazu ein weiteres Leben zerstört, welches das Unglück gehabt hatte, von ihm berührt zu werden. Es brachte wahrlich kein Glück von ihm geliebt zu werden. Er wollte immer, dass was er nicht bekommen konnte, und zerstörte es in dem Versuch, es an sich zu binden. Wenn er die Finger nach einem anderen, einem besseren Leben auszustrecken versuchte, blieb nichts in seiner Hand – alles zerfiel zu Staub.
Noch immer halb benommen, sah er auf die leblose Gestalt des jungen Mannes herab und zum ersten Mal seit Jahrzehnten flossen die Tränen ungehindert. Eine Hand strich sanft über die fahle Wange des toten Pagen. Er bereute zutiefst, was geschehen war. Mehr noch, er verachtete sich dafür, dass er es hatte so weit kommen lassen. Herbert hatte die ganze Zeit Recht gehabt. All das hätte nicht geschehen müssen, wenn er ihm einfach zugehört und seine Worte zu Herzen genommen hätte, wie er es ihm einmal versprochen hatte.
„Das hätte nicht geschehen dürfen. Verzeihe einem blinden, alten Narren, wenn du es kannst. Jetzt wirst du nie zu den deinen zurückkehren. Du wirst noch nicht einmal ein richtiges Grab erhalten. Der Tag kommt immer näher und noch immer bin ich zu feige, um mich selbst zu vernichten, mein armer, junger Freund. Vielleicht wäre es gnädiger gewesen, du wärest vor Schwäche umgekommen, ehe du meine Schwelle erreicht hast", flüsterte er.
Doch es blieb keine Zeit mehr zum Weinen. Er konnte nicht begreifen, dass beide Pferde tatsächlich an Ort und Stelle geblieben waren. Keines kannte ihn gut genug, um eine solche Loyalität zu rechtfertigen. Er sah sich um. Sie waren noch eine gute Meile vom nächsten Ort entfernt. Der Wald und sein Unterholz hier in der Nähe waren dicht. Wehmütig hob Victor Jean-François auf seine Arme und trug ihn eilig tiefer in den Schutz der Bäume. Bald genug fand er ein Dickicht, das ihn gewiss verbergen würde. Das Gehölz bestand aus jungen Bäumen, die zu den ersten gehörten, die Blätter tragen würden. Ihr dichter Ring graubrauner, nur von Knospen besetzter Äste und Zweige, würde sein dunkles Geheimnis trotzdem vor menschlichen Augen verbergen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, den Sterblichen einfach so für die Aasfresser zurücklassen zu müssen. Gleichwohl war er sich dessen bewusst, dass ihm für den Moment nichts anderes übrig blieb, als Jean-François so gut es ging zu verstecken, und zu hoffen, dass das Raubzeug bis zu seiner Rückkehr in der kommenden Nacht einfachere Beute finden und den Toten verschonen würde.
Victor legte den jungen Mann vorsichtig nieder und nahm die Dokumente aus dessen Manteltasche, die ihn hätten kompromittieren können. Wenn er nur erst wieder im Schloss war, würde er sie alle verbrennen. Es musste so aussehen, als ob der fremde Besucher einfach auf der Reise spurlos verschwunden war. Dann bedeckte er ihn als provisorischen Schutz mit einer Schicht toter Äste und Laub, die sich im näheren Umkreis zur Genüge fanden. Mit einem geflüsterten Abschiedsgruß ließ Victor Jean-François an seiner einstweiligen Ruhestätte zurück, mit dem stillen Versprechen, dass er eine würdigerere letzte Ruhestätte erhalten würde, sobald die nächste Nacht anbrach.
Als nächstes wandte er sich dem Pferd zu. Er nahm ihm Sattel, Taschen und Zaumzeug ab, nachdem er sein eigenes Tier ein Stück entfernt angebunden hatte. Mit einem raubtierhaften Fauchen entblößte er seine Fangzähne und täuschte einen Angriff vor. Das Tier, das vor dieser Nacht keinen Kontakt mit ihm gehabt hatte, begriff plötzlich, was er war, scheute und lief davon. Genauso wie er es beabsichtigt hatte. Sollte sich irgendwo ein armer Bauer über das ihm zugelaufene Tier freuen. Den Sattel vergrub er noch in der Nähe an einer Stelle, wo der aufgewühlte Boden niemandem auffallen würde. Den Rest lud er seinem Pferd auf, ehe er selbst eilig davon ritt, wohl wissend, dass die Zeit knapp genug sein würde, sich auf dem Weg dem Zaumzeug und der Satteltaschen zu entledigen und trotzdem noch rechtzeitig den Schutz des Schlosses zu erreichen. Als er mit knapper Not wenige Minuten vor Sonnenaufgang im Schloss ankam und einem wartenden Burschen die Zügel zuwarf, waren seine Hände ebenso schmutzig wie seine Fingernägel. Aber er hatte keine Zeit mehr, um sie auf seine eigene Erscheinung zu verwenden und stahl sich so rasch er es, ohne Aufsehen zu erregen wagte, hinüber zur Gruft. Erst als ihn die dicken Steinmauern umgaben, fiel das zuvor nicht abzuschüttelnde, nagende Gefühl von Gefahr und der Drang zur Flucht von ihm ab, die wie ein bleierner Mantel auf ihm gelastet hatten. Nie, in seiner ganzen Existenz, war er der Vernichtung durch die aufgehende Sonne derart nahe gekommen.
Während er rasch die Stufen hinunter eilte, erkannte er, dass sein Hemd ihm klamm am Rücken hing und kalter Schweiß auf seiner Stirn stand. Er wusste, er hätte es verdient zu verbrennen, aber selbst nach mehr als zwei Jahrhunderten hatte die Vorstellung nichts von dem Grauen verloren, das ihn beim Gedanken daran überkam. Abgesehen davon – er hätte es Herbert gegenüber nie wieder gut machen können, hätte ihn der Sonnenaufgang heute morgen eingeholt. Das einzige Wesen, das ihm auf dieser Welt wirklich etwas bedeutete, hatte mehr von ihm verdient, als ein solches Ende nach jenem unsäglichen Streit und allem, was diesem gefolgt war. 'Wenn er mich denn überhaupt noch zurück haben will', dachte Victor und als er erschöpft in seinen Sarg sank und den schweren Steindeckel an seinen Platz zurück gleiten ließ.
Herberts Worte, gesprochen vor so langer Zeit, gingen ihm durch den Sinn. ‚Sobald du wieder zu dir selbst gefunden hast, kannst du mich jederzeit in der Stadtresidenz aufsuchen. Ich werde bereit sein, dir zuzuhören. Und wenn der Tag kommt, an dem du begriffen hast, wie sehr du dich selbst verloren hast, werde ich dich mit offenen Armen empfangen.' Wenn die Nacht kam, wurde es Zeit herauszufinden, ob sein Sohn es nach allem, was geschehen war, noch über sich bringen würde, sein Wort zu halten. ‚Es wird meine gerechte Strafe sein, wenn ich zu ihm komme, nur um herauszufinden, dass er es nicht kann,' war das Letzte, was er dachte, bevor er in der Dunkelheit versank.
Einige Nächte später, kam ein einsamer, in unauffällige dunkle Gewänder gekleideter Reiter in der Stadt an, die noch immer die Hochburg der Grafschaft war. Sein Reittier ließ er in einer der besseren Mietstallungen zurück. Danach verlor er sich in den Schatten zwischen den Häusern. Ohne Aufsehen zu erregen gelangte Victor zur Pforte seiner Stadtresidenz. Er hatte die notwendigen Schlüssel bei sich und sie passten noch immer. Herbert hatte die Schlösser in all der Zeit nicht auswechseln lassen. Vielleicht war das ein gutes Vorzeichen.
Leise schlüpfte er durch das schmiedeeiserne Tor und schloss es fest hinter sich. Dann erlaubte er sich für einen Moment, zu dem eleganten, dreistöckigen Gebäude hinüber zu sehen. Durch ein Fenster im zweiten Stock fiel Licht. Sein Sohn schien zu Hause zu sein. Victor ließ den Schlüsselring zurück in seine Manteltasche gleiten. Noch immer gehörte dieses Anwesen ihm selbst, aber nach all der Zeit, die er hier alleine verbracht hatte, war Herbert in seinen Augen der wahre Hausherr.
Es war eins, sich Zugang zu dem Areal zu verschaffen, um nicht doch noch von einem Sterblichen bemerkt zu werden. Aber einfach einzutreten, ohne herein gebeten zu werden, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Doch er würde auch nicht anklopfen, wie ein menschlicher Besucher.
Was er vorhatte, war persönlicher und - je nachdem wie Herbert reagierte - auch ein wenig riskanter. Victor schloss die Augen und spürte mit seinem siebten Sinn der lange vernachlässigten Verbindung nach, die seit der Nacht, in der Herbert zum Vampir wurde, immer zwischen ihnen bestanden hatte. Das Band des gemeinsamen Blutes - auf mehr als nur einer Ebene. Er reichte nun an der Verbindung entlang und erlaubte sich, seinen Sohn am anderen Ende zu spüren. Wohl wissend, dass Herbert es sofort fühlen würde, wenn er es tat. Eine Zeit lang tat er nicht mehr, als diese mentale Berührung aufrechtzuerhalten. Er spürte die ehrliche Überraschung seines Sohnes, die offene, wortlose Begrüßung, 'Ich stehe vor dem Haus. Wirst du mich hereinlassen?' Für einige Augenblicke eine weitere Welle fassungslosen und wortlosen Erstaunens. 'Warum bist du nicht einfach hereingekommen?', kam sodann Herberts verblüffte Reaktion. Du hast doch sicher nicht vergessen, den Schlüssel mitzubringen?' 'Nenn mich einen Feigling. Ich hatte Angst, du würdest das nicht wollen,' erwiderte Victor verlegen. 'War es nicht viel riskanter, mich auf diese Art zu rufen?' Sein Sohn klang fast ein wenig belustigt. 'Nun, wenigstens konnte ich mir sicher sein, dass ich eine Antwort bekommen würde - und wenn es nur wortlose Ablehnung gewesen wäre… Eine Tür, die verschlossen bleibt, wenn man endlos daran klopft, lässt sehr viel Raum für nagende Zweifel... Machst du mir auf?'
Er wusste sofort, dass Herbert auf dem Weg hinunter war, auch wenn er keine wörtliche Antwort bekam. Vorsichtig ging Victor weiter und trat langsam auf den Haupteingang zu. Er erreichte den überdachten Aufgang zur Eingangstür in dem Moment, in dem Herbert die Tür öffnete, blieb vor der untersten Stufe stehen und sah abwartend zu ihm auf.
Herbert blickte einige Herzschläge lang zurück und schien ebenfalls zu warten. Er runzelte die Stirn, als sein Vater sich nicht bewegte. „Ich dachte, du möchtest hereinkommen. Willst du die ganze Nacht da stehen bleiben?", fragte er schließlich irritiert. Victor senkte den Blick. „Nur so lange bis du mich herein bittest", antwortete er dann leise. Herbert schnaubte abfällig. „Wirklich, Vater! Was soll das? Du weißt ebenso gut wie ich, dass keiner von uns eingeladen werden muss, um eine Türschwelle zu übertreten!"
Victor sah ernst zu seinem Sohn auf. „Nein. Aber dieser Ort war jahrzehntelang dein Refugium. Ich werde diese Türschwelle nicht ohne deine ausdrückliche Erlaubnis überschreiten", entgegnete er. Der jüngere Vampir sah ihn überrascht an, dann nickte er langsam zum Zeichen, dass er verstand. „Komm herein, Vater. Du bist mir willkommen", sagte er dann förmlich und Victor trat langsam auf ihn zu. Herbert drehte sich um und bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu folgen. „Es gibt vieles zu besprechen. Aber verzeih' mir, wenn ich dir sage, ich würde das gerne an einem gemütlicheren Ort tun, als in der Eingangshalle!" Herbert sprach laut genug, dass sein Vater ihn hören konnte, ging aber bereits die Treppe hinauf. „Wie du wünschst", murmelte Victor leise und folgte Herbert, der ihn schließlich in den großen Salon im zweiten Stock führte. Es hatte sich wenig verändert. Einige der Sessel und Tische waren verschwunden, hatten scheinbar Platz für ein Cembalo gemacht und es gab überall wackelig aussehende Stapel von Notensammlungen und Büchern. Es sah Herbert sehr ähnlich, dachte er mit einem leichten Lächeln und wanderte ruhelos in dem Raum umher und betrachtete still die zahlreichen kleinen Veränderungen in den Details des Dekors.
„Ich sehe, du hast dich hier eingelebt", sagte Victor vorsichtig. „Es ist nur zu Hause, wenn ein Cembalo darin steht, nicht wahr?" Herbert schüttelte leicht missbilligend den Kopf. „Das ist kein Cembalo, das ist ein Hammerflügel. Das Beste, was man im Moment haben kann! Er ist viel besser als mein altes Cembalo im Schloss!" Victor schenkte ihm den Anflug eines Lächelns während er weiter ziellos hin und her ging. „Du hast dich nicht verändert", sagte er dann vorsichtig. Herbert sah ihn vielsagend von der Seite an. „Nun die Frage ist eher, hast du dich verändert? Ich würde es gern glauben. Du fühlst dich anders an als beim letzten Mal – und du bist hierher gekommen", entgegnete er nüchtern und ließ sich elegant in einen Sessel sinken. Victor senkte den Kopf und blieb kurz stehen. „Du hattest recht", gestand er leise. „So? Womit genau?", erwiderte Herbert nicht ohne Sarkasmus. „Mit allem." Victor holte tief Luft, sah seinen Sohn direkt an und nahm sein ruheloses auf und ab gehen wieder auf, diesmal jedoch nur in der Nähe von Herberts Sessel.
Herbert stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und warf seinem Vater einen missbilligenden Blick zu, den dieser jedoch ignorierte. Er war viel zu aufgewühlt um darauf zu achten, zu ungewiss war für ihn Herberts Reaktion auf das, was er ihm zu erzählen hatte.
„Von Anfang an hast du mir vorgehalten, dass du der Meinung bist, ich läge falsch mit meinen Herangehensweisen." Er gab ein freudloses Schnauben von sich, begleitet von einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, und hob seine Hände in einer hilflosen, umfassenden Geste. „Himmel, wenn man dir zuhörte, betraf es wirklich alles… Das Jagen, die Illusionen, denen ich mich gedankenlos hingegeben habe und…" Er stockte und sprach dann mit zitternder Stimme weiter: „Mit dem, was danach passiert ist." Er schlug einen Moment lang die Hände vors Gesicht und wanderte dann weiter ruhelos im Zimmer auf und ab.
„Es war nicht die Schuld der Sterblichen um mich herum, ich weiß. Aber versuche mich ein wenig zu verstehen! Ich wollte nichts von all dem – weder für dich noch für mich. Sieh an, was aus uns geworden ist." Er blieb einen Moment stehen, mit hängenden Schultern, den Kopf gesenkt, die Hände vergraben in den Haaren ehe er seinen ruhe und ziellosen Pfad wieder aufnahm.
„Einhundert Jahre lang habe ich versucht, eine Erlösung zu verdienen, die es niemals geben wird. Dann hast du angefangen, mich wegen meines Jagdverhaltens zu kritisieren – nein, du hast versucht mir meine Fehler aufzuzeigen, ich weiß!", unterbrach er sich, als er sah das Herbert zu einer Bemerkung ansetzte. „In jeden Fall wollte ich beweisen, dass du Unrecht hast, dass ich in der Nähe von Sterblichen sein kann, ohne dass etwas Schlimmes passiert", gestand er seufzend.
Herbert fuhr auf. „Hör auf, herum zu wandern wie ein eingesperrtes Tier! Setz dich endlich hin, du machst mich nervös! Wenn ich dich schon herein lasse und deiner Beichte zuhöre, kannst du wenigstens so höflich sein, dich deiner Manieren zu besinnen" mit deutlicher aufgebrachter Ungeduld funkelte er Victor an, der sich mit einem stummen Nicken in den nächstbesten Sessel gleiten ließ. „Entschuldige, Herbert. Ich nehme an, ich mache als Gast tatsächlich eine ziemlich schlechte Figur," seufzte er entschuldigend. Herbert machte eine ungeduldige Handbewegung. „Schon gut. Erzähle weiter," entgegnete er dann auffordernd und Victor fuhr mit einem nicken fort.
„Es hat tatsächlich für eine Weile ganz gut funktioniert. Ich durchstreifte Dörfer, ich beobachtete Menschen…" „Aber hast du dich mit ihnen abgegeben? Gelernt, die Kontrolle auch in Ihrer Nähe zu behalten?", warf Herbert streng ein. „Es hilft rein gar nichts, nur in Ihrem Umkreis herum zu wandern!" Victor schüttelte beschämt den Kopf ohne Herbert direkt anzusehen. „Nicht wirklich. Ich schlich um sie herum wie ein streunender Hund und beobachtete das Leben, dessen Teil ich nicht war. Nicht mehr. Und dann, eines Abends, sah ich sie und alles schien anders." Herbert nickte mit einem wissenden Blick in den Augen der deutlicher als Worte sagte, dass er so etwas schon lange geahnt hatte. „Was ist passiert?", fragte er sanft und beugte sich ein wenig vor.
„Es war einfach, die Verbindung herzustellen. Sie hatte einen strengen Vater, dem sie wirklich nichts recht machen konnte und der auch nicht verstand, was für eine Perle das Schicksal ihm mit seiner Tochter geschenkt hatte" ein trauriges kleines Lächeln malte sich auf Victors Gesicht während er von Nadeschda sprach. „Sie war… anders. Sie hatte nichts, wirklich gar nichts mit deiner Mutter gemeinsam, aber Nadeschda war etwas Besonderes. Sie wusste, dass ich ein Geheimnis verbarg und dass es etwas dunkles sein musste, aber sie hat sich darauf eingelassen und bald sahen wir uns jede Nacht." Victors Augen waren auf einen Punkt in der Ferne Gerichtet den er jedoch gar nicht wahrnahm. Es war offensichtlich dass seine Gedanken weit fort bei der sterblichen Frau waren.
„Deshalb warst du ständig fort", bemerkte Herbert trocken und klatschte in die Hände. „Eigene Angelegenheiten, ha! Ich hätte es damals gleich verstehen müssen, dass eine Frau im Spiel ist!" schnaubte er. Victor nickte mit einem traurigen Lächeln und sah Herbert nachsichtig an. „Vielleicht. Aber ich wollte auch nicht immer wissen, was du alles treibst, wenn du unterwegs bist. Das ist alles verzeihlich, Herbert…" Victor stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ den Kopf in seine Hände sinken. „Meine Fehler waren es dagegen nicht. Ich hätte sie nie so nahe an mich heranlassen sollen. Was für eine Ahnung hat ein junges Ding von zwanzig schon von den Gefahren um sie herum? Es war blauäugig zu glauben, dass sie tatsächlich begriff, was es bedeutet, sich auf einen Vampir einzulassen!" "Ihr wart ein Paar?" Herbert klang überrascht, aber keinesfalls vorwurfsvoll. „Nicht im vollen Sinn, wie du es meinst. Welche Chance gibt es, dass eine Beziehung zwischen einem Sterblichen und Unseresgleichen funktioniert? Es war mir immer zu gefährlich. Ihre Gesellschaft und ihre Zuneigung waren mir genug, auch wenn es nur allzu deutlich war, dass sie mir gefolgt wäre, wenn ich sie darum gebeten hätte. Es ging nie über einen Handkuss hinaus, und wenn sie nicht auf mehr bestanden hätte, wäre es dass auch nie." Herbert lachte leise. „Und du hast geglaubt, sie würde sich damit zufriedengeben? Ich bitte dich, Vater, selbst ich, der für Frauen recht wenig zu tun hat, kann das verstehen!" der jüngere Adlige seufzte und schüttelte über so viel Unvernunft den Kopf. „Was geschah dann?", ermutigte er dann. „Eines Abends stand ihr Fenster offen, als ich zu ihr kam und sie hat darauf bestanden, mich herein zu bitten. Mit so wenig Blut in den Adern war ich eine wandelnde Gefahr, und doch konnte ich Ihrer Bitte nicht widerstehen, als sie in meinen Armen lag... Sie hat es mit dem Leben bezahlt, mich zu lieben, genauso wie deine Mutter ein Jahrhundert zuvor", schloss er mühsam und schlug die Hände vor sein Gesicht. So bemerkte er den Blick voller bestürzter Anteilnahme nicht, den Herbert ihm zuwarf. Victor atmete für einige Herzschläge lang tief durch, wischte die zerzausten Haare mit einer Handbewegung nach hinten und richtete sich gerade auf ehe er weiter müde weiter sprach.
„Danach war nichts mehr wie es einmal war. Ich erkannte, dass alles, woran ich mich geklammert hatte, leere Trugbilder waren. Die Welt, die ich zu kennen geglaubt hatte, schien auf einmal nicht mehr zu existieren. Der Versuch, gut zu sein, hatte mir weder Glück noch Erlösung gebracht und ich war fest entschlossen, meinen Ausweg in einer Existenz in Finsternis zu finden." Er schloss die Augen und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen, ehe er in einem Tonfall fortfuhr, er nur zu deutlich zeigte, wie viele Vorwürfe er sich machte. „Du hattest recht, ich verhielt mich wie Kastor! Aber es hat nichts geändert oder verbessert. Im Gegenteil. Ich habe alles verraten, woran ich je geglaubt habe, in einem sinnlosen Versuch etwas zu werden, was ich niemals sein kann. Ich begann wahllos zu töten, wer auch immer das Opfer war, welches das Unglück hatte, mir zu begegnen. Ich redete mir ein, dass es so etwas wie Gnade niemals gegeben hat und dass ich sie deshalb weder zu empfinden noch zu gewähren brauchte. Wenn Güte nicht belohnt wird, kümmert das Gegenteil dann da oben irgend jemand?" Er warf einen vielsagenden Blick Richtung Decke und sah dann Herbert kurz an und der Schatten dieser quälenden, unbeantworteten Frage stand nur allzu deutlich in seinen Augen. Ich verstehe nicht wieso, aber eine Existenz als überzeugter, zufriedener Verbrecher ist mir nicht gegeben. Aber bei Gott, ich habe es versucht und viele sind mir während meiner allnächtlichen Jagden zum Opfer gefallen!" Victor vergrub das Gesicht in seinen Händen und hätte am liebsten geschwiegen, doch Herbert gab sich mit diesem halben Geständnis nicht nicht zufrieden. „Das ist aber nicht alles, oder?", fragte er sanft und sein Ton verriet, dass er die Antwort ahnte. „Was hat dich nach über achtzig Jahren zur Besinnung gebracht?", sein Tonfall war bitter und anklagend. „Nein, es ist nicht alles. Ich habe einen alten Fehler wiederholt, nur anders", gestand Victor und ließ die Hände in seinen Schoß fallen, um ihr zittern zu verbergen. Trotzdem drehte er ruhelos einen Ring an seiner linken Hand in einem Fort an seinem Finger um und um. „Nachdem du fort warst, habe ich mir eingeredet, dass du irgendwann schon wieder zurückkommen würdest. Ich wollte glauben, du würdest es alleine nicht lange aushalten." Er begegnete Herberts spöttischen Blick. „Ja, ich weiß. Ich habe mich auf ein Tauziehen mit der Person eingelassen, die ebenso eigensinnig und halsstarrig ist, wie ich selbst. Ah, verdammt, wieso müssen sich die Behauptungen deiner Mutter immer bestätigen?", seufzte Victor. Ein grimmiges Lächeln umspielte Herberts Lippen, als sein Vater mit belegter Stimme fortfuhr. „Nun, wir wissen beide, dass das niemals geschehen wäre. Doch wie ein Narr wollte ich mir einfach nicht eingestehen, dass du im Recht warst. Ich habe mich dagegen gesträubt, den ersten Schritt zu machen, weil ich meinen Groll nicht loslassen wollte. Als ob er besitzenswert gewesen wäre... Aber ich war einsam. Es gab keine Nacht, in der ich dich nicht vermisst und mir im tiefsten Grund meines Herzens gewünscht habe, du wärst noch da."
Victor wischte sich unwillig mit der Hand über die Augen, um die Tränen zu unterdrücken, die ihm in den Augen standen und auch Herbert schniefte leise. „Aber du bist nicht gekommen", war sein rauer Einwurf. Victor schüttelte in bitterer Trauer den Kopf. „Nein, das bin ich nicht. Ich war zu stolz und zu halsstarrig dazu." Victor seufzte tief und fuhr dann fort, ohne Herbert anzusehen.
„Eines Tages stand ein Fremder vor dem Schloss. Ein junger Franzose, der durch einen fürchterlich gescheiterten Feldzug ins Unglück geraten war. Schüchtern, unbeholfen, mit erkennbar guter Erziehung aber vollkommen abgerissen und verloren, muss er sich auf der Flucht in den Bergen verirrt haben. Kurz vor dem Einbruch des Winters stand er vor dem Schloss…" „Sag nur, du hast ihn hereingelassen", bemerkte Herbert verblüfft. „Hätte ich dir so, wie du dich vor meiner Abreise verhalten hast, gar nicht zugetraut", fügte er vielsagend und nicht ohne eine verletzende Spitze hinzu und verschränkte die Arme vor der nickte nur stumm. „Und dann?", bohrte Herbert mit einem strengen Blick. „Nun, er hat zugestimmt, bis zum Frühjahr zu bleiben. Er wäre bis zum ersten Schneefall in seinem Zustand nicht weit gekommen und ich konnte der Vorstellung von ein wenig Gesellschaft nicht widerstehen." „Verdanke ich also ihm das Vergnügen deiner Anwesenheit?", fragte Herbert sarkastisch und etwas verdüsterte sich in seinen Zügen. „Nein!", Victor widersprach sofort, hob den Kopf und wandte sich ohne zu zögern direkt seinem Sohn zu und sah Herbert direkt an. Sie waren beide zu aufgewühlt, als das sie auf die sorgsame Wahrung ihrer persönlichen Grenzen geachtet hätten und über das Band zwischen ihnen wusste er sofort, was in Herbert vorging, ohne in die Vertraulichkeit seiner Gedanken und Gefühle einzudringen, in dem er in seinem Geist las. „Niemand kann dich jemals ersetzen!", beharrte Victor bestimmt und hob ein wenig die Stimme. „Du willst die hässliche Wahrheit? Also gut. Es war eine kranke, manipulative Ersatzbeziehung, die mich viel mehr begünstigt hat als ihn. Ich hätte das letzte Stück Distanz, das immer zwischen uns blieb, nie selbst durchbrochen!" „Oh, aber du hast es getan, nicht wahr?" jetzt erhob seinerseits Herbert die Stimme, stand auf und sah ihn aufgebracht und vorwurfsvoll an. „Ich weiß, dass du ihn liebst! Versuch nicht, es zu leugnen! Werde ich also einen neuen Bruder haben? Bist du deshalb hierher gekommen?"Victor wich nicht zurück, aber er ging nicht auf Herberts Provokation ein. Stattdessen sah er ihn einfach nur urverwandt an, die Züge erstarrt in einer Mischung aus Ungeduld und Kummer. „Hör auf, Herbert. Er ist tot!"
Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. „Das einzige Geschwisterkind, das du je hattest, war eine Schwester vor langer Zeit und nicht mehr!" Er hatte weder die Stimme erhoben noch versucht, den verbalen Angriff zu erwidern, doch jetzt erhob sich auch Victor, bevor er weiter sprach, diesmal lauter und fast ein wenig vorwurfsvoll. „Ich habe versucht, ihn länger hier zu halten, das werde ich nicht vor dir verbergen - und nein auch nicht meine Zuneigung für ihn! Aber schlimmer noch, ich habe es vermieden, jede Nacht zu jagen, um den Eindruck zu erwecken, dass mich sein bevorstehender Abschied mehr belastet, als es der Fall war. Und in der letzten Nacht kam eines zum anderen und ich hatte keine Gelegenheit. Eine impulsive Umarmung zum Abschied - das war alles, was er brauchte, um sich in den Tod zu stürzen. Willst du noch mehr wissen? Schau in meinen Geist, na los! Wenn du mir dann immer noch nicht glaubst, kannst du auch ein bisschen von meinem Blut haben."
Er stand einfach nur da, die Arme herabhängend, und die Hände in einer auffordernden Geste ausgebreitet und sah seinen Sohn eindringlich an. Herberts Gesichtsausdruck war sanfter geworden und er war nicht unberührt von allem, was er gehört und dem Angebot, das sein Vater ihm gemacht hatte. Victor holte zitternd Luft und sprach mit rauer Stimme weiter. „Ich bin ganz bestimmt nicht stolz auf meine Taten. Es gibt keine Entschuldigung für mein Verhalten und ich verabscheue mich zutiefst für das, was ich getan habe." Er wandte das Gesicht ab, endlich nicht mehr in der Lage, Herberts Blick standzuhalten. „Ich werde versuchen, es wieder gut zu machen", fügte er dann kaum hörbar hinzu. Für eine Weile stand er einfach nur still mit gesenktem Kopf und gebeugter Haltung da, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Als er weiter sprach veränderte er seine Haltung nicht.
„Als du gegangen bist, sagtest du, dass du mich mit offenen Armen empfangen würdest, wenn ich den Pfad verlassen habe, auf dem ich wandle. Wenn ich in der Lage wäre zu erkennen, wie sehr ich mich verloren habe. Ich bin nicht hier, um mein Gewissen zu erleichtern, denn das ist unmöglich. Ich möchte dich um Verzeihung bitten. Als du zum Vampir wurdest, hast du mich versprechen lassen, dich nicht allein zu lassen und deine Worte ernst zu nehmen, auch wenn mir nicht gefällt, was du mir zu sagen hast. Als es wirklich darauf ankam, habe ich beides nicht eingehalten. Es tut mir leid!"
Er zögerte kurz und hob dann den Kopf und begegnete Herberts Augen, die urverwandt auf ihn gerichtet waren. „Wenn du es dabei belassen möchtest, nichts mehr mit mir zu tun haben zu wollen, werde ich dir das nicht verübeln. Dann werde ich gehen und nicht zurückkommen. Ich habe es verdient. Es wäre eine gerechte Strafe, wenn du mich nicht mehr haben willst."
Herbert zuckte zuerst wie erschrocken zusammen und machte einen Schritt rückwärts, dann kam er langsam auf Victor zu. Sein Gesichtsausdruck war noch immer ernst und er schwieg beharrlich. ‚Jetzt wird er dir gleich sagen, dass du dich zum Teufel scheren sollst und dann wird alles vorbei sein', dachte Victor bekümmert. Seine Kehle schnürte sich zu bei dem Gedanken und er hatte das Gefühl, als lastete ein erdrückendes Gewicht auf seiner Brust. Dann blieb Herbert einen Schritt vor ihm stehen und sah zu ihm auf. Plötzlich lagen seine Hände auf Victors Schultern, ohne dass er die Bewegung registriert hatte, zu sehr war er in seine eigenen inneren Schmerz vertieft. Herbert sah ihn eindringlich und mit sichtbarer Zuneigung an. „Dir sei verziehen", sagte er herzlich. Victor schluckte und er spürte, dass er zitterte. Herbert schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Hast du allen Ernstes geglaubt, dass ich dich wieder gehen lasse? Wo du über achtzig Jahre gebraucht hast, um endlich zurückzukommen?!" Er schien die Antwort in den Augen seines Vaters zu lesen. „Du bist ja von Sinnen, du Holzkopf! Manchmal verstehst du ehrlich gesagt einfach gar nichts!", murrte er und es klang fast ein wenig vorwurfsvoll. Es war nun endgültig mit seiner Selbstbeherrschung vorbei und Victor sah den Raum hinter einem roten Schleier verschwimmen. Im nächsten Moment schlangen sich zwei Arme fest um ihn. Herberts vertrauter Geruch nach Bergamotte und Zedernholz umfing ihn und er erwiderte die Umarmung ebenso fest, wie er sie empfing.
Autors Note:
Glaubt es oder nicht, Alfred hat ein wenig für Jean-François Pate gestanden. Nicht übermäßig – aber wenn Alfred Victor später an diesen jungen Mann erinnern soll, musste es ein paar Parallelen geben. Ich weiß nicht, ob ich mit der Biss-Szene ganz zufrieden bin. Ich bin nicht gut bei male-slash, auch wenn es hier nur der Hauch von einem Anflug von einem Ansatz davon ist. Aber es geht hier darum zu beleuchten, dass er beim Biss über seine eigenen Präferenzen hinausgeht und es seinen ‚Genuss' nicht stört.
Auch für dieses Kapitel habe ich stressbedingt länger gebraucht, als ich mir das gewünscht habe. Dafür ist es aber mit 23 Seiten das längste bisher. Ich hoffe, das ist eine kleine Entschädigung.
Vielen Dank an alle die mir ein Review dagelassen haben. Lasst mich gerne eure Meinung hören!
