„Oh mein Gott", murmelte McKay, als sie in den Tunnel traten.

Rufe und Schreie hallten von den steinernen Wänden wieder, und er wandte sich an Gewelden, der mit einem starren Gesichtsausdruck geradeaus starrte.

„Darlan kann keine Toten befreien!"

Gewelden antwortete nicht. Er sah so aus, als wolle er sich übergeben, nahm sich dann aber sichtlich zusammen.

„Es sind nicht nur diese Menschen hier", schrie er zurück, um das Donnern von Explosionen und Schüssen zu übertönen. „Es kämpft noch für andere, tausende, weiter weg"

McKay setzte zu einer Antwort an, verstummte dann aber, als Gewelden sich umsah. Eine Pause in der raschen Abfolge der Schüsse und Explosionen war eingetreten, und sie konnten jetzt die Menschen noch deutlicher hören, Weinen, Schreien und Wimmern waberte durch die Tunnel, und McKay hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.

Dann, ohne Vorwarnung, bebte der Boden wieder, und McKay fand sich auf dem Boden wieder. Gewelden war ebenfalls hingefallen, und hielt sich das Handgelenk.

„Alles okay?", rief er.

„Ja", schrie McKay zurück und fügte hinzu: „Noch. Wir müssen raus hier!"

„Ja, ich weiß" Ungeschickt kam Gewelden wieder auf die Beine, und nickte dann McKay zu.

„Folge mir"

Er lief los – er hinkte leicht, fiel McKay plötzlich auf, er musste sich doch etwas mehr verletzt haben als am Handgelenk – und McKay folgte ihm.

Bedeutend mehr Risse als vorher durchzogen die Wände, Staub und kleine Steinchen bröselten von der Tunneldecke. Menschen eilten an ihnen vorbei, manche mit blutenden Wunden, andere die Arme voller Verbandszeug. Alle trugen Grau, und keiner schenkte McKay und Gewelden Beachtung.

Ein nagendes Gefühl machte sich in McKays Magengrube breit – irgendwas hatte er vergessen. Er zermarterte sich den Kopf, während er Gewelden folgte. In der stickigen, staub- und schmerzgeschwängerten Luft in den unterirdischen Tunnel schien das Denken geradezu unendlich schwer, ein wenig so, als versuchte er, in Sirup zu schwimmen.

Doch dann – endlich – durchzuckte ihn die Erkenntnis, und McKay blieb wie angewurzelt stehen.

„Was ist?", schrie Gewelden über die Schulter zurück.

„Darvo!", brüllte McKay, und Gewelden drehte sich wie vom Donner gerührt um. Sein grünlich-graues Gesicht wurde noch weißer.

„Wo ist er?"

„Ich bin mir nicht sicher!", rief Gewelden und McKay riss die Augen auf.

„Du bist dir nicht sicher? Sagtest du nicht, er sei in Sicherheit?"

„Ich weiß, ich weiß", schrie Gewelden. „Ich habe seine Bewachung einigen Leuten anvertraut, denen ich vertraue. Inzwischen müsste sie..." Er verzog das Gesicht und deutete nach oben, zur zitternden Decke.

„Verdammt", sagte McKay, wenn auch recht leise.

Gewelden, der ihn trotzdem gehört zu haben schien – vielleicht konnte er auch Lippen lesen – seufzte und nickte.

„Was machen wir jetzt?", schrie McKay.

Wieder erbebte das Gewölbe, und Gewelden begann plötzlich unangenehm entschlossen auszusehen.

„Wir fragen jemanden", sagte er, und begann den Gang weiter entlang zu stolpern, so dass McKay ihm wohl oder übel folgen musste.

„Was zum – "

Der Mann quiekte, als Gewelden ihn fasste und gegen die Tunnelwand schleuderte.

„Wo ist er?"

„Wo ist w- wer?", stotterte der magere Mann, und starrte mit weitaufgerissenen Augen Gewelden an.

„Der Gefangene", zischte Gewelden zurück. „Darvo"

„Ich – ", setzte der Mann an, doch Gewelden schien seine Geduld jetzt rapide zu verlieren. Es zeigte sich derart deutlich in seiner Miene, dass der Mann noch bleicher wurde, und dann schluckte.

„N- na gut, er ist – er ist in Korridor 7, neben dem Lichterraum", sagte er, und rutschte dann an der Wand hinunter, als Gewelden ihn losließ.

„Das war ja einfach", kommentierte McKay verdutzt, und Gewelden lachte grimmig.

„Das war Hollonden, er war noch nie für seinen Mut bekannt. Gleich könnte es allerdings ein wenig schwieriger werden..."

„Wird er bewacht?", fragte McKay, und Gewelden schüttelte den Kopf.

„Das bezweifle ich. Wahrscheinlich ist jeder, der kämpfen kann, jetzt da oben. Aber dieser Raum hat ein ... Schloss, was nur von Leuten mit dem Erbcode zu öffnen ist..."

„Ich habe doch das Ge – den Erbcode", sagte McKay.

Gewelden starrte ihn einen Herzschlag lang überrascht an, lachte dann auf.

„Oh. Ja. Natürlich. Hatte ich vergessen..."

Er eilte weiter, immer noch hinkend, und McKay folgte ihm. Die Lichter waren nun sehr gedämpft, teilweise flackernd, und sie mussten achten, wo sie hintraten, denn immer wieder durchzogen breite Risse, im Dunkeln kaum zu erkennen, den Weg vor ihnen.

Schweiß und Staub vermischten sich zu einen dünnen Film auf McKays Haut. Er zuckte immer noch jedes Mal zusammen, wenn eine weitere Explosionen den Gang erzittern ließ.

„Gleich sind wir da", rief Gewelden über die Schulter zurück, und taumelte dann, als sich sein Fuß in einer Spalte verfing. Er fluchte, und stolperte dann weiter.

„Hier" Er blieb vor einer Tür stehen, die McKay benahe überhaupt nicht erkannt hatte, so glatt fügte sie sich in den Fels ein.

Funken sprühten aus der Wand neben ihr, und ungefähr zehn Schritte weiter schien ein offener Raum zu sein, aus dem wild bunte Lichter schienen.

„Oh nein...", stöhnte Gewelden, und McKay folgte seinem Blick. Die Funken kamen von ... einem offenbar stark zerstörten Türschloss.

„Verdammt"

Versuchsweise fuhr er mit der Hand drüber, doch nichts leuchtete auf. Gewelden stöhnte wieder, und schlug dann mit der Hand gegen die Wand. Sofort verzog sich sein Gesicht im echten Schmerz, und er hielt schützend die andere Hand über sein Handgelenk.

„Lass das", sagte McKay zu ihm, und der Captain schien einen Moment lang so verdutzt, dass er sogar seine Verzweifelung vergaß.

„Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun"

„Ach ja?", fragte Gewelden scharf und starrte McKay an. „Und was soll das sein, etwa den Jungen hier zurücklassen?"

„Natürlich nicht", sagte McKay, obwohl der Gedanke an Tageslicht schrecklich verlockend war. „Hör zu, ich denke, ich kann das reparieren-" Gewelden starrte ihn mit großen Augen an, offenbar unsicher, was er von McKays Worten halten sollte. „ -aber dazu brauche ich ein paar Ersatz-Kristalle. Gib es hier noch so einen Raum, den man so verschließen kann?"

Gewelden schüttelte, nun nicht mehr ganz so großäugig, den Kopf.

„Nein, nicht in der Nähe. Der einzige weitere ist viel zu weit weg. Bis wir da sind –"

Er beendete den Satz nicht, was auch gar nicht notwendig war. Wenn sie da waren, war wahrscheinlich schon alles eingestürzt.

„Verdammt" Denk nach, denk nach, Rodney! Du bist ein Genie, verd –

„Der Lichterraum!" Er schob sich eilig an Gewelden vorbei, in den halboffenen Raum hinter dem Captain.

Die leuchtenden Farben blendeten ihn zunächst, und er blieb stehen, blinzelnd.

„Meinst du, hier sind Kristalle...?", fragte Gewelden, der auch in den Raum getreten war.

„Ich hoffe es", murmelte McKay. Seine Augen hatten sich endlich an das Licht gewöhnt, das aus verschieden geformten Schläuchen leuchtete.

„Was ist das hier, ne Antiker-Kirmes?" Natürlich blieb Gewelden ihm eine Antwort schuldig.

McKay tastete die Wände ab. Irgendwo hier... ja. Seine Fingerspitzen spürten eine winzige Vertiefung, und er dachte so deutlich wie möglich: Auf!

Mit einem leisen Zischen glitt eine... nun, es sah aus wie eine Schublade auf, in ihr mehrere unbeschädigte Kristalle glänzend.

Der besondern hässlich geformte Schlauch über McKay flackerte ein paar mal auf und verlosch dann.

McKay ließ den Blick über die Kristalle gleiten, fasste sich dann ein Herz und zog einige von ihnen - mehr oder weniger auf gut Glück, musste er sich zähneknirschend eingestehen – heraus.

„Was-", setzte Gewelden an, doch McKay brachte ihn mit einer ungeduldigen Geste zum Schweigen und schob sich dann an ihm vorbei, zurück zum beschädigten Türschloss.

Das Metall war warm unter seinen Fingern, als er es vorsichtig zur Seite schob und die Kristalle vollends freilegte. Es waren vier, eins mehr als die Türen von Atlantis hatten, und zwei von ihnen waren wie von Rauch erfüllt und undurchsichtig. Er packte das Kirstall in der Mitte, um es herauszuziehen, und zog seine Hand mit einem Fluch wieder zurück.

„Was-?", fragte Gewelden wieder.

„Heiß"

Ohne zu zögern, riss der Mann einen Streifen Stoff von seiner Jacke, den er McKay reichte, der ihn sich um die Hand wickelte, um dann erneut nach dem Kristall zu greifen. Es ließ sich problemlos herausziehen, und er ließ es rasch auf den Steinboden fallen, wo es nach einem Klirren liegen blieb.

Nun... jetzt das obere raus... das hier nach oben... Anschlüsse prüfen... toll, Anschlüsse in diesem Licht so gut wie gar nicht sichtbar... dennoch – vielleicht ... überbrücken...

„Weißt du eigentlich, was du da tust?", fragte Gewelden hinter ihm, einen Hauch von Verzweifelung in der Stimme, und die Tür seufzte, und glitt auf.

Darvo sprang auf, als er sie sah. Sein Gesicht war kalkweiß unter dem Steinstaub, doch ansonsten wirkte er unverletzt.

„Den Vorfahren sei Dank -!", rief er, und schwankte dann, als Gewelden ihm so heftig auf die Schulter klopfte, das kleine Staubwolken aufstiegen.

„Wie habt ihr...?"

„Nicht so wichtig jetzt", sagte McKay rasch, und Gewelden versuchte, Darvo aus dem Raum zu schieben.

„Wir müssen weg hier"

„Jaa...", hauchte der Junge. McKay bemerkte, dass seine Hände zitterten. „Ja, ich dachte, es würde alles über mir einstürzen..."

Wie zur Bestätigung seiner Worte knackte die Decke. Alle drei Männer duckten sich unwillkürlich und erstarrten. Staub rieselte ihnen in die nach oben gewandten Gesichter, doch die gefürchteten Felsbrocken blieben aus.

„Bloß weg hier", brummte Gewelden, der sich als Erster wieder zu fassen schien. Er wandte sich zum Gehen, Darvos Handgelenk fest in seiner Hand – und in diesem Moment flackerten die Tunnellichter, glommen noch einmal halbherzig auf, und verloschen dann.

Vollkommen.