Es war mitten in der Nacht. Dunkelheit beherrschte Imladris. Im Oktober wollte die Sonne ihr Himmelbett erst spät verlassen, so dass es draußen noch sehr lange dunkel sein würde. Legolas räkelte sich in seinem Bett. Er schaute aus dem Fenster und wunderte sich darüber, warum er schon so früh wach war. In der freien Natur wäre er jetzt wohl aufgesprungen und hätte die Gunst der Stunde genutzt, um Gimli zu necken, indem er ihn weckte und ihm wieder einmal erzählte, was für ein Langschläfer dieser sei. Der Zwerg würde wohl nie lernen, an den Sternen zu sehen, wie spät es ist. Legolas lächelte in sich hinein. Hier aber...
Seine Gedanken wurden von einigen leisen Stimmen unterbrochen, die nur ein Elb mit seinem scharfen Gehör hätte wahrnehmen könne. Legolas erhob sich und lauschte. Sein Zimmer hatte ein Fenster, welches sich gerade über der östlichen Terrasse befand und das Fenster stand offen. Vorsichtig schlich er in diese Richtung. Eigentlich wollte er es schließen, damit er sich wieder in sein Bett legen konnte. Auch wollte er nicht Gespräche belauschen, die ihn nichts angingen. Aber als er sich dem Fenster genähert hatte, beobachtete er eine Szene, die ihn schließlich doch fesselte. Gebannt schaute er hinab. Auf der Terrasse standen zwei Elben. Amlugûr sah einer hübschen, blonden Elbe in die Augen.
„Wie heißt du, holdes Mädchen, oder soll ich dich einfach „meins" nennen?", raunte er. Das Mädchen kicherte verschämt und flüsterte etwas in das Ohr Amlugûrs.
„Warum nicht? Sag mir, falls ich mich irre, aber du willst mich doch auch küssen, oder?"
„Nicht, Amlugûr", hauchte sie, als er sich ihr näherte.
„Deine Lippen sind wie Wein – und ich möchte so gerne einen Rausch haben." Legolas musste über diesen Ausspruch von Amlugûr lächeln, denn Elben mussten eine Menge trinken, wenn sie „berauscht" sein wollten.
„Oh, Amlugûr", schmachtete die Elbe.
„Oh, meleth-nîn!", hauchte Amlugûr leidenschaftlich zurück doch Legolas hatte den Eindruck, dass sich Amlugûr ein wenig über die Elbe lustig machte. „Du Traum meiner schlaflosen Nächte! Du Licht in vollständiger Dunkelheit! Ich würde gerne der Grund für deine heutige schlaflose Nacht sein."
Legolas musste sich ein Glucksen verkneifen. Er bezweifelte ernsthaft, dass Amlugûr sein Ziel erreichen würde, wenn er mit derart widersprüchlichen Floskeln das Mädchen einlullen wollte. Aber diese schien den tieferen Sinn der schönen Worte gar nicht zu verstehen.
„Ich bin kein Mädchen für eine dŭ pen erthad."
„Ich wäre zu gerne bereit, mich mit dir sofort zu vereinigen, aber ich kehre von dieser Reise vielleicht nie mehr zurück. Dann wärst du in Mittelerde für immer allein. Das kann ich dir doch nicht antun. Aber eine Nacht ohne Vereinigung mit der schönsten Elbe Mittelerdes würde meine Reise um so viele Erinnerungen versüßen!"
Legolas konnte sich das Glucksen wieder kaum unterdrücken.
„Wa... Was?", rief sie fast entrüstet aus. „Du willst mich nach einer solchen Nacht gleich wieder verlassen und loswerden?"
„Oh nein!", versuchte er sie zu beruhigen. „Du bist so schön, ich würde dich nicht loswerden wollen, wärst du ein... ein..." Amlugûr schien krampfhaft nach einem Vergleich zu suchen.
'… ein Furunkel auf dem Hintern meines Pferdes', dachte Legolas. Oops, hatte er das laut gesagt? Oh nein, doch nicht. Erleichtert atmete er auf.
„ ... wärst du eine Sterbliche, deren Tod mein Herz brechen würde." Amlugûr hatte es gerade mal noch so geschafft. Nun ja, elegant war es nicht, aber die Elbe schien komplett geblendet.
„Ja, wirklich? Und wenn du wiederkommst, vereinigst du dich dann mit mir?"
Eine kurze Pause entstand, in welcher Legolas vor Lachen fast geplatzt wäre.
„Ähm.. Nun ja." Der stolze, elegante Amlugûr wirkte irgendwie gebrochen. „Jaaahhhhh..."
„Ja?", rief die Elbe erfreut.
„Ähm... ich meine Nein. Das war nur so ein Ausspruch..."
„Nein?", fragte die Elbe enttäuscht. Amlugûr schien sich wieder zu fangen und zu versuchen, die letzte Hürde zu überwinden.
„Also, wenn du diese Augen von deiner Mutter geerbt hast – dann weiß ich, warum sich dein Vater an sie gebunden hat!"
„Also doch!", hauchte sie glücklich und Legolas konnte einen Blick in das Gesicht Amlugûrs erhaschen, welches soviel zu sagen schien wie 'Versprochen habe ich es ihr nicht!' Amlugûr hakte sich bei der hübschen Elbe am Arm ein und führte sie in das Haus, offensichtlich zu welchem Zweck. Legolas schmunzelte ihnen noch einmal hinterher. Er musste zugeben, dass Amlugûr die Sache doch recht geschickt angestellt hatte, auch wenn man dem entgegenhalten könnte, dass die Elbe scheinbar taub gewesen sein musste.
Er schaute noch einmal zu den Sternen und stellte fest, dass er noch genug Zeit hatte, sich wieder in sein Bett zu legen. Er ließ das Fenster offen, da sich die „Ruhestörer" ja nun in Amlugûrs Räumlichkeiten begeben hatten. Kaum lag er wieder unter seiner Decke, da erklangen wieder Stimmen, dieses Mal jedoch in einem ganz anderen Tonfall und wesentlich lauter. Legolas seufzte.
„Du willst doch nur vor mir fliehen! Du Feigling!", keifte eine Elbe leise. Auch ihr war wohl klar, dass sie bei einer größeren Lautstärke von allen anderen Elben in Imladris vernommen worden wäre. Dies änderte jedoch nichts an ihrem wütenden und verletzten Tonfall. „Du erinnerst dich wohl nicht mehr, was du mir schon vor Monaten versprochen hast? Eine Familie wolltest du mit mir gründen! Seit dem gibt es nur eine dŭ pen erthad nach der anderen. Du wolltest die ganze Zeit nur Spaß haben!" Sie redete sich völlig in Rage. Legolas versuchte, die Schimpftiraden der Elbe zu überhören. Er stand wieder auf, um das Fenster zu schließen.
„Meleth-nîn!", versuchte die Stimme, die Legolas Elrohir zuzuordnen wusste, die Elbe zu beruhigen. „Es ist eine äußerst wichtige Angelegenheit. Es geht um die Zukunft Mittelerdes!"
„Na und? Was schert dich die Zukunft der Menschen? Du wolltest mit deinem Vater, deinem Bruder und mir in die unsterblichen Lande reisen!"
„Was wäre denn, wenn ich das jetzt nicht mehr will?"
„Sagst du das jetzt, um mich zu reizen? Bin ich nicht wütend genug? Du hast unsere Ziele, unsere Träume verraten! Wenn du jetzt gehst, dann weiß ich, dass dir nichts an mir liegt. Dann weiß ich, dass du mich in den Nächten ohne Vereinigung nur entehrt hast!"
Elrohir atmete laut und tief durch und Legolas glaubte fast, dass er mit seiner Fassung ringen musste. „Du weißt genau, dass das nicht stimmen würde", sagte er so leise, dass selbst Legolas es kaum verstehen konnte. „Du weißt, dass die körperliche Vereinigung für uns Elben eine Verbindung für die Ewigkeit ist. Es ist deshalb das größte und kostbarste Geschenk, welches ich dir machen könnte. Doch ich habe die Entscheidung zu treffen, ob ich nicht, wie Arwen, auf Mittelerde bleibe und sterblich werde. Würde ich mich mit dir verbinden, dann wäre es für mich endlich und du wärst nach meinem menschlichen Tod wieder frei. Aber ich will dir das nicht antun. Du sollst nicht darunter leiden, wenn ich sterbe. Verstehst du das? Bitte versteh das doch!"
„Bin ich dir so unwichtig", hauchte sie traurig, „dass du über all das noch nachdenken musst?"
„Nein. Das bist du nicht. Aber auch mein Bruder trägt die Zweifel in sich, welche Entscheidung er zu treffen hat. Und... ich muss gestehen", er zögerte. „Bei einer Entscheidung zwischen dir und ihm... ich glaube..."
„Ich verstehe!" Sie wandte sich ab und verließ die Terrasse, Elrohir alleine zurücklassend.
Legolas betrachtete den Elb einige Minuten lang und dachte darüber nach, ob er zu ihm gehen sollte, um ihm aufmunternde Worte zuzusprechen.
„Du hast alles gehört, nicht wahr?", sagte Elrohir plötzlich. Legolas zuckte erschrocken zusammen. Er wollte etwas erwidern, aber da hörte er Elrond sprechen.
„Ja. Das habe ich. Bitte sag mir, dass du sie mit deinen Worten nur loswerden wolltest, dass ihr nicht wirklich darüber nachdenkt, mich zu verlassen, indem ihr euch für die Sterblichkeit entscheidet."
Elrohir atmete wieder laut und tief durch. „Dich zu belügen ist mir fremd, Vater. Wir haben bisher geschwiegen, aber da du mich nun so direkt fragst, muss ich dir also sagen, dass Elladan und ich tatsächlich darüber nachdenken, auf Mittelerde zu bleiben."
Unheilvolles Schweigen lag in der Luft. Legolas war das Zuhören bei diesem Gespräch nun wirklich mehr als peinlich, aber er wagte es nicht, sich zu rühren, denn dann wäre er wohl erst recht bemerkt worden.
„Was kann ich tun, um eure Meinung zu beeinflussen?", fragte Elrond leise.
„Nichts, Vater. Wir müssen unsere Entscheidung selber treffen und wir haben Zeit, bis das letzte Schiff Mittelerde verlässt."
„Nun gut, mein Sohn. Ich hoffe..., nein, ich glaube daran, dass ihr für euch die richtige Entscheidung trefft." Er wandte sich ab, nicht ohne einen kurzen Blick zum Fenster von Legolas geworfen zu haben und Legolas war sich fast sicher, dass Elrond wusste, dass er dort stand.
Peinlich berührt zog er sich zurück in sein Bett, als auch Elrohir die Terrasse verlassen hatte. Das Gespräch zwischen Elrond und seinem Sohn machte ihn nachdenklich. Für ihn war immer klar, dass er irgendwann einmal mit einem Schiff Mittelerde verlassen würde, um in die unsterblichen Lande zu segeln. Er hatte nie über eine andere Möglichkeit nachgedacht. Arwen war in seinen Augen ein anderer Fall. Aber warum dachten Elladan und Elrohir darüber nach? Die Müdigkeit übermannte ihn wieder und gerade als seine Augen zufallen wollten, hörte er erneut Stimmen. Matt zog er sich das Kissen über seinen Kopf, aber es half nicht. Die Nacht würde kurz werden.
Die Glocken im Glockenturm von Elronds Haus läuteten. Legolas hatte das Gefühl, als habe er gerade erst wenige Minuten Ruhe gehabt, als der helle, freundliche Klang durch die Gänge des Hauses hallte. Obwohl er müde war, sprang er aus dem Bett. Er wollte sich von keinem Zwerg der Welt, erst recht nicht von Gimli, vorwerfen lassen, er sei ein Langschläfer. Nach einer Erfrischung eilte er in die Halle Elronds, wo das Frühstück für alle Reisenden serviert wurde. Legolas beeilte sich besonders, weil er vor Gimli am Tisch sitzen wollte, um ihn wieder aufzuziehen. Er hatte Glück. Gimli war noch nicht da.
Er setzte sich und schaute in die Runde der Anwesenden. Bis auf Amlugûr schienen sie alle in einer sehr schlechten Stimmung zu sein. Bedrückende Stille herrschte im Raum, die nur vom Lachen Amlugûrs unterbrochen wurde. Gelegentlich flüsterten sich einige Elben etwas zu und Legolas konnte vernehmen, wie sich die meisten über die neue, drohende Gefahr für Mittelerde unterhielten. Einige sahen es auch als ein großes Problem an, dass ein Zwerg sie begleiten würde. Alles in allem war die Gruppe ziemlich angespannt. Auch Legolas war jetzt angespannt, denn es missfiel ihm, dass man so schlecht über seinen Freund Gimli redete. Zudem begann er zu befürchten, dass eine so negativ eingestellte Gruppe auch nicht sehr erfolgreich sein würde. Alle schienen sich gegenseitig die Stimmung verderben zu wollen. Legolas hoffte, Gimli würde bald kommen, damit er wenigstens mit einer Person, die nicht so missmutig war, reden konnte.
Kaum hatte er an Gimli gedacht, sah er auch schon den Zwerg um die Ecke eilen. Offenbar hatte Gimli den gleichen Plan wie Legolas verfolgt und wollte noch vor diesem beim Frühstück erscheinen. Das Wort „eilen" hatte jedoch bei einem Zwerg irgendwie eine andere Bedeutung als bei einem Elben. Nicht nur, dass seine Fortbewegung mit einem lauten Trampeln verbunden war, welches jedem empfindlichen Elbenohr Schmerzen verursachte, das Keuchen Gimlis übertönte dieses sogar. Hinzu kam, dass die Rüstung Gimlis ihn so schwerfällig machte, dass er, als er um die Ecke biegen wollte, die Kurve nicht bekam und dabei in einen kleinen Wandschrank schlitterte, auf welchem eine große Schale mit Wasser zum Händewaschen stand. Die stabile Rüstung und der kompakt gebaute Zwerg benötigten den durch das Tempo entstandenen Schwung eigentlich gar nicht, um den kleinen Wandschrank in viele kleine Holzsplitter zu zerlegen. Die Schüssel flog in die Höhe und mit einem lauten Klatsch knallten Wasser und Schüssel auf den Boden, wobei sich sämtliche entstandenen Einzelteile schlagartig in alle Richtungen des Raumes verteilten. Und natürlich war nicht nur der Zwerg nass.
Ein lautes schallendes Gelächter brach unter den Elben aus, welches jedoch sofort verstummte, als sie Elrond gewahr wurden, welcher über und über mit Wasser, kleinen Scherben und kleinen Holzsplittern bedeckt war. Sein sonst so würdevolles Aussehen war nunmehr vollständig verloren gegangen.
Streng schaute er den an der Wand klebenden Zwerg an.
„Ich hätte es wissen müssen", raunte er, eine Entschuldigung des Zwerges erwartend. Der konnte jedoch nur krächzen, als er Hilfe suchend zu Legolas schaute.
Dieser hatte sich seinem Essen zugewandt und tat so, als habe er weder etwas gesehen noch gehört – eine völlige Unmöglichkeit für einen Elben. Als der Zwerg ein weiteres Mal Hilfe suchend krächzte, wandte sich Legolas erstaunt zu ihm um.
„Gimli! Mein Herz ist immer voller Bewunderung für dich", rief er mit einem ehrfurchtsvollen Ton, aber einem sehr amüsierten Gesichtsausdruck. Gimli, etwas über die seltsame Freundlichkeit irritiert, krächzte noch einmal. Die anderen Elben schauten inzwischen interessiert zu.
„Du bist einfach außerordentlich einfallsreich. Mir wäre der Gedanke nie gekommen! Und wie großzügig und rücksichtsvoll du dabei bist!", fuhr Legolas in einem völlig ernst gemeinten Tonfall fort. Dem Zwerg gelang es endlich, sich selbst aufzurappeln und Legolas fragend anzuschauen.
„Wieso?", krächzte er.
„Wieso? Oh! Und so bescheiden noch dazu! Ich hatte vollkommen vergessen, den Elben, die für dein Zimmer zuständig sind, mitzuteilen, deine Waschschüssel nicht auf die hohe Kommode zu stellen. Mir hätte klar sein müssen, dass du die Seife und das Wasser nicht erreichen würdest. Ich an deiner Stelle, hätte mich nun nicht gewaschen, aber du, edelster aller edlen Zwerge, konntest dies unseren Nasen am Frühstückstisch nicht antun. Ich finde das sehr rücksichtsvoll. Aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, die Schüssel für die Hände auf diesem doch sehr kleinen Wandschrank zu verwenden... Ich bin wirklich beeindruckt."
Die Elben grinsten gewaltig über diese Situation und Gimli war sich nicht sicher, wie er reagieren sollte.
„Aber die Krönung ist noch...", fuhr Legolas weiterhin ernst fort, „dass du deine Reinigungsmittel so großzügig mit Elrond geteilt hast. Das beeindruckt mich wirklich."
Schallendes Gelächter brach aus. Gimli wurde überaus verlegen und dachte gerade über eine Flucht in sein Zimmer nach, als er unerwartet Hilfe bekam.
„So, Legolas, Thranduils Sohn. Willst du damit etwa sagen, dass ich stinke und eine solche Reinigung nötig gehabt habe?" Die Stimme Elronds war äußerst streng und unheilvoll.
Legolas zuckte zusammen und schaute verlegen auf den Boden. Gimli hatte schnell ein hämisches Grinsen auf seinen Lippen, als er bemerkte, dass das Blatt sich wendete.
„Nun, nein, Herr." Die Stimme von Legolas war selbstsicherer, als sein Gesichtsausdruck es erwarten ließ. „Aber was kann man von einem Zwerg erwarten, dessen Nasenlöcher von seinen Barthaaren so verstopft sind, dass er damit den Geruch eines Stinktieres von einer Butterblume nicht unterscheiden kann?"
Wieder erschallte dröhnendes Gelächter auf Kosten Gimlis. Dieser war es nun Leid und er schwankte zwischen Gehen und Mitlachen. Das Mitlachen überwog schließlich. Lauthals lachte auch er und übertönte dabei das Lachen der Elben. Eine fröhliche Stimmung machte sich breit. Legolas hatte nicht mehr den Eindruck, dass alle den Zwerg so ablehnten. Er freute sich darüber, dass er Gimli richtig eingeschätzt hatte und dieser durch sein Mitlachen Sympathisanten gefunden hatte. Fröhlich schaute er in die Runde und bemerkte mit Befriedigung, dass Elrond ihm einen freundlichen Blick zuwarf.
Dunkelheit breitete sich über den Bergspitzen des Nebelgebirges aus. Es war noch nicht spät, aber durch die hohen, aufgetürmten Gesteine versteckte sich die Sonne schon früh am Tage und die Schatten verlängerten die Kälte der Steine.
Auf einer kleinen Plattform knisterte ein kleines Feuer vor sich hin. Es hatte nicht genug Nahrung, um mehr Wärme und Licht zu spenden. Drei verhüllte Gestalten hockten um die kleine Flamme und versuchten, sich die Finger daran zu wärmen. Zwei von ihnen trugen einen langen blauen Umhang. Der eine hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Man konnte gerade noch seine braunen Haare erkennen. Seine Finger waren dünn und feingliedrig, fast ausgemergelt, aber der restliche Körper wirkte sehr kräftig und rüstig. Der andere hatte dunkelblondes Haar, das ihm über die Schultern wallte. Auch er war nicht von kränklicher Gestalt, aber noch lange nicht so kräftig gebaut, wie der andere. Seine Augen waren flink, aufmerksam und unruhig, als er sich mit der Verteilung des letzten Stück Brotes beschäftigte.
„Oh Pallando! Ich habe Hunger. Und Durst habe ich auch. Wenn ich gewusst hätte, dass das alles so anstrengend und schmerzhaft ist, ich hätte mich im Rat nicht freiwillig gemeldet", sagte der Mann mit den braunen Haaren.
„Oh Alatar!", äffte Pallando ihn scherzhaft nach. „Nun, zumindest kannst du nicht behaupten, dass man es dir vorher nicht gesagt hätte. Was du daraus machst, kann keiner wissen." Er nahm sich sein eigenes, letztes Stück Brot und teilte es mit Alatar, der seine Ration schon verschlungen hatte.
„Wäre ich doch geblieben, wo ich war." Alatar jammerte wieder. „Keine Blasen an den Füßen, keinen Hunger, keinen Durst, nicht frieren, nicht schwitzen... Alles wäre besser gewesen als das."
„Ach was, Freund. Du hast eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Sieh dir Curumo an. Jammert er? Er erduldet es genau so."
Curumo, der bis jetzt schweigend neben dem Feuer verharrt hatte, blickte kurz auf. Er war in einen langen, weißen, aber durch den anstrengenden Marsch schon ziemlich verschmutzten und angegrauten Mantel gehüllt. Langes, rabenschwarzes Haar machte seine Haut blass und betonte eine sehr hakige Nase. Seine hohe und hagere Gestalt kauerte neben dem Gepäck der drei Wanderer.
„Nicht das Leid ist sein Problem, sondern die Entbehrung des Schönen und Schmackhaften. Du bist noch nicht so lange hier, aber wenn du es erst eine Weile warst, dann wirst du auch die Vorteile deines Daseins erkennen. Guter Wein, gutes Essen, ein warmes Bett. Manch Mensch berichtete mir auch von Genüssen mit schönen Frauen. Du wirst es schon noch zu würdigen wissen."
„Auch der trübe Nachmittag, hier, mitten im Gebirge. Er schlägt auf die Stimmung. Und was hat dann noch gerade gefehlt? Das Stolpern über eine gefrorene Elbenleiche. Buäh!" Angeekelt wand sich Alatar kurz von dem Feuer ab.
„Hab Mitleid mit dem Mann! Er wollte bestimmt nicht auf dem Weg liegen bleiben", erwiderte Pallando.
„Nein, natürlich nicht. Deshalb haben wir ihn auch begraben. Was ist eigentlich mit der kleinen Flasche? Hast du sie noch? Kannst du sie mir einmal zeigen?"
Pallando wühlte in einer Tasche in seinem großen Umhang. „Hier ist sie. Sie scheint schon ziemlich alt zu sein. Wer weiß, wie lange der arme Elb hier schon liegt."
Alatar ergriff die zierliche Flasche. „Sie ist wunderschön. Wir sollten sie behalten."
„Wozu?", mischte sich Curumo ein.
„Sie ist elbisch. Einst hörte ich, dass es unter vielen Rassen üblich sei, Tränen oder andere persönliche Sachen eines Angehörigen mit sich herumzutragen. Dazu verwendete man sicher solche kleinen Flaschen. Vielleicht möchte sie jemand zurückhaben?", erwiderte Pallando.
„Dieser Elb hier lag schon mindestens 2000, wenn nicht gar 3000 Jahre dort. Auf diese Zeit würde ich jedenfalls die Waffen einschätzen. Wie willst du irgendwelche Angehörigen ausfindig machen?", fragte Curumo.
„Nun, Curumo. Nicht nur du hast dich gut auf deine Mission in Mittelerde vorbereitet. Auch ich habe das getan. Der Elb hier war ein Waldelb mit dem Wappen von König Oropher. Ich nehme an, dass er wohl auch auf dem Weg war, sich in den Großen Grünwald oder, wie neuerdings immer wieder gesagt wird, Düsterwald zu begeben. Thranduil regiert dort heute. Zwar ist er weit ab von den mir bekannten Pässen gelaufen, aber seine Gründe sind uns unbekannt. Auch wir haben diesen Weg eingeschlagen. Und weil wir zumindest teilweise den gleichen Weg haben werden, werden auch wir durch den Düsterwald kommen. Die kleine Flasche ist sicher ein Familien- oder Erbstück. Und so wertvoll, wie mir die Flasche scheint, wird es sicher jemanden geben, der sie vermisst. Wir werden im Düsterwald fragen – und wenn sich niemand findet, dann können wir sie immer noch behalten."
Curumo nahm plötzlich hastig und mit einem sehr überraschten Gesichtsausdruck die Flasche aus den Händen von Alatar und hielt sie gegen das Feuer, die Flasche genau betrachtend. „Sie oder ihr Inhalt ist magisch. Ich weiß nicht wie, was und warum, aber sie ist magisch, würde jedoch nicht auf mich wirken. Ich kann sie nicht benutzen." Er gab die Flasche desinteressiert an Pallando zurück.
Da sich keiner mehr für die Flasche zu interessieren schien, packte Pallando sie wieder in seine Tasche.
Das wenige Holz, das noch gesammelt worden war, wurde in die hungrigen Flammen geschoben, bevor sich alle zum Schlafen niederlegten, um sich für den nächsten Wegabschnitt zu erholen.
Sindarinübersetzung:
Meleth-nîn meine Liebste
dŭ pen erthad Nacht ohne Vereinigung
