So, ihr Lieben,
ich hab's ja angekündigt – diese Woche gibt's ein Kap. Ich danke meinem Feuerwehrmann, der mir das Eintippen von Änderungen gestern Abend ermöglicht hat, meiner Freundin Winnia, deren Rechner ich gerade missbrauche und ich widme das Kap meiner lieben Beta Limara, ohne deren Geduld es wohl nie zustande kommen wäre g.
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Das nächste Kap steht bezüglich nächster Woche in den Sternen. Tut mir leid, aber die Handwerker sind deutlich langsamer, als ich gehofft hatte.
An StupidMouth: Ich freue mich immer riesig, wenn ich einen neuen Leser hinzugewinnen konnte – vor allem, wenn meine Story auch noch gefällt. Vielen Dank für deine Reviews und ich hoffe, noch öfter mal was von dir zu hören.
An Zita: Ich musste bei einem deiner letzteren Reviews so lachen, dass ich es mir nicht verkneifen konnte, in einem Satz deine Vorstellung aufzunehmen.
Alles Liebe
Euer Kampfzwerg
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Voronda
Die Teller leerten sich allmählich, während Gimli und Legolas von ihren Reisen zu den Glitzernden Grotten und dem Fangornwald berichteten, und Aragorn Geschichten von seiner kürzlichen Reise in den Osten zum Besten gab.
„Ihr klingt nicht, als wäre vieles von dem, worüber Ihr berichtet, neu für Euch gewesen", stellte Agarmaethor gegen Ende des Mahls fest. „Wart Ihr bereits früher einmal im Osten? Tief im Osten, Herr?"
Aragorn lächelte sie an. „Ich bin bereits sehr tief in den Osten vorgedrungen, doch nie erreichte ich den östlichsten Rand Mittelerdes. Nie war ich dort, wo die Elben erwacht sind. Ich fürchte, ein Grund für mein Scheitern war die vollkommene Öde des Weges. Keine Wälder, nur wenige Haine und keine Seen. Es gibt eine großflächige Hügellandschaft unmittelbar westlich eines wirklich sagenhaft breiten Flusses mit dem Namen Talarhrand. Bis dorthin bin ich gereist, und ich hörte, dass hinter ihm noch einige Hügel, Wälder und ein großer See namens Daldunair folgen würden. Doch was sich dahinter befindet... ich weiß es nicht."
„Ihr besitzt wohl nicht Kartenwerk oder etwas Ähnliches für die Gegend östlich von Rhûn, Herr?", hakte Agarmaethor nach.
Aragorn schmunzelte. „Ihr klingt, als würdet Ihr planen, weiter als nur bis zum Meer von Rhûn zu reisen... Vermutlich wird dem wohl auch so sein, denn mir sind bisher nicht einmal Gerüchte oder Anzeichen irgendeiner Gefahr zu Ohren gekommen. Doch um Eure Frage zu beantworten... Leider besitze ich kein Kartenwerk, doch ich war damals nicht allein unterwegs. Das wäre viel zu gefährlich gewesen. Deshalb begleiteten mich einige Dúnedain. Einer von ihnen mochte den Osten sehr und reiste auch später immer wieder dorthin... Er ließ sich sogar im Osten nieder – am Meer von Rhûn. Er heißt Voronda. Sein Sohn besitzt eine Rinderzucht in der Nähe einer Stadt namens Ulmar. Dieser Voronda machte viele Aufzeichnungen und fertigte Karten an. Da Ihr ohnehin auf dem Weg zum Meer von Rhûn seid, solltet Ihr meinen alten Freund aufsuchen. Ich werde Euch ein Schreiben mitgeben, damit er Euch nicht mit Misstrauen begegnet."
„Ich danke Euch, Herr. Es wird uns sicher eine große Hilfe sein." Agarmaethor beugte kurz ihr Haupt.
Aragorn schaute sie ernst an. „Wollen wir wirklich mit diesem albernen 'Herr und Herrin' fortfahren? Ihr nennt Euch Agarmaethor und mich nennt man Estel oder Aragorn! Und wir sind beide Freunde Gimlis und Legolas'." Er reichte ihr die Hand für einen freundschaftlichen Händedruck und ohne zu zögern schlug Agarmaethor ein.
„Uh!", fuhr er auf. „Einen festen Händedruck hast du. Dein Schwert ist wohl sehr schwer?"
„Ich besitze zwei Kurzschwerter", erwiderte Agarmaethor stolz. „Sie sind sehr leicht und doch so hart, dass ich Steine damit spalten könnte."
„Typisch elbische Schmiedekunst..." Aragorn nickte anerkennend.
Agarmaethor lächelte und erinnerte sich an die Zwerge und ihren Anführer Nargi, der ihr die elbischen Schwerter schenkte, als sie das Wort dazu noch nicht einmal aussprechen konnte. Er gab sie ihr, um ihr den Abschied zu erleichtern, als er sie in der Elbensiedlung zurückließ, und seitdem hatte sie ihre Waffen nie gewechselt. Mit diesen Schwertern erlernte sie den Kampf, und mit diesen Schwertern überlebte sie bisher jede gefährliche Situation...
Legolas' Augen funkelten, als er sich an Aragorn wandte: „Diese Schwerter sind wunderschön und wirklich alt! Allein ihre Verzierungen... W... Was ist?"
Verwirrt sah er Agarmaethor an, die wild an seiner Tunika zerrte und bemerkte ihre starren und vor Angst geweiteten Augen. Er hörte, wie Aragorn aus dem Raum stürzte und nach einem Heiler rief. Agarmaethors Gesicht verfärbte sich bläulich. Sie begann zu würgen und zugleich nach Luft zu schnappen. Noch immer zerrte sie an seiner Tunika, brachte jedoch kein Wort über ihre Lippen.
Hastig zog Legolas sie vom Stuhl und trug sie auf die Straße an die frische Luft. Hinter einem großen Gebüsch legte er sie nieder und half ihr in eine günstige Position, die das Erbrechen und später auch das Atmen erleichterte. Agarmaethor würgte, bis nichts mehr ihren Magen verlassen konnte und ließ sich erschöpft zu Boden fallen. Noch immer bekam sie kaum Luft und jede Bewegung raubte ihr den Atem.
Ein dunkelhaariger Schopf erschien zwischen den Zweigen des Gebüschs. Legolas erblickte Elladans Augen.
„Ich helfe!", sagte dieser, beugte sich hinab und trug Agarmaethor zurück ins Wirtshaus.
Nur am Rande nahm Legolas wahr, wie Aragorn mit Elrohir über deren verspätetes Kommen schimpfte und Elladan Agarmaethor die Treppen hoch in ein freies Zimmer trug, und nur am Rande sah er, wie Gimli wild in den Essensresten Agarmaethors wühlte und dann aus einem ihm nicht nachvollziehbaren Grund Elladan folgte.
Wie betäubt setzte sich Legolas auf einen Stuhl und starrte Aragorn an, welcher Elrohir soeben zu Elladan schickte. Resigniert stützte er seinen Kopf in seine Hand.
„Ich bin schuld!", flüsterte er. „Sie wollte an Bord bleiben, doch ich habe sie dazu überredet, sich die Stadt anzusehen. Sie wollte zurück zum Schiff, doch ich habe sie zum Badehaus und zu dir gezogen... und dann bin ich noch nicht einmal in der Lage auf sie zu achten!"
Aragorn legte seine Hand tröstend auf Legolas' Schulter. „Sie wird es schon überleben... Du kannst jetzt nichts anderes tun, als mir zu helfen, den Täter zu fassen..."
Aragorn rief die Wirtin und den Knecht und befragte sie, doch außer der Tatsache, dass niemand von ihnen das Essen überhaupt auf dem Tisch angerichtet hatte, erfuhr er nichts – und er glaubte ihnen, denn viel zu viel Angst und Respekt sprach aus ihren Augen. Auch weitere Angestellte, Soldaten und herumlungernde Tagelöhner auf der Straße konnten ihm nichts Auffälliges berichten.
„Unsichtbare Gegner...", murmelte Legolas. „Gestern Nacht erst traf ich auf einen, der ihr eine Axt in den Rücken werfen wollte, doch er sprang ins Wasser... glaube ich. Nie hätte er bereits hier sein können..."
Aragorn fasste freundschaftlich seine Hand. „Wer weiß wie schnell er ist? Wir kennen ihn doch nicht..."
„Nicht sonderlich schnell, glaube ich!", sagte Gimli laut, während er die Treppe wieder herunterkam und sich zu Legolas setzte. „Sollte er die gleiche Herkunft haben, wie der Unsichtbare auf dem Schiff, dann bezweifle ich, dass es sich um dieselbe Person handelt. Zwerge sind nicht derart schnell..."
Legolas und Aragorn sahen ihn erstaunt an. „Dann ist mein Verdacht, der Unsichtbare auf dem Schiff sei ein Zwerg gewesen, also wahr? Wie kommst du darauf?"
„Das Gift... ich habe es erkannt, als ich mir das Essen und Agarmaethors Hautfarbe genauer ansah. Wir Zwerge nennen es den „Blauen Tod", weil die Haut der Opfer bläulich anläuft, und wir verwenden es zur Beseitigung von Ratten. Es ist sehr einfach zu beschaffen, denn es stammt aus dem Saft eines besonderen Pilzes, welcher ausschließlich in Höhlen und Stollen wächst... doch bei uns Zwergen ist alles Höhle oder Stollen. Der Saft schmeckt ein wenig bitter, aber nicht so bitter, dass man es sofort bemerken würde... er hat eher einen Nachgeschmack, so dass man definitiv zunächst etwas zu sich nimmt, bevor man ihn überhaupt bemerkt. Allerdings..." Gimli grinste und löste damit in Legolas große Hoffnungen aus. „...bei Elben wirkt das Gift nicht so gut. Ihre Mägen rebellieren, so dass sie sich erbrechen müssen, bevor sie in Ohnmacht fallen. Welcher Zwerg auch immer unsere Agarmaethor vergiften wollte, kannte sich mit Elben nicht besonders gut aus."
„Sie ist jetzt ohnmächtig?", fragte Legolas atemlos. „Wird sie denn wieder gesund?"
„Ja, ja!" Gimli winkte ab. „Sie ist hart im Nehmen und in zwei bis drei Tagen mit schrecklichen Kopfschmerzen und unbeschreiblicher Müdigkeit ist alles überstanden. Wichtig ist, dass sie viel Wasser trinkt und sich viel an der frischen Luft befindet. Elladan und Elrohir kümmern sich gerade ausgezeichnet um sie, so dass ich euch das hier alles erzählen wollte."
Legolas umarmte Gimli heftig, bevor er zu den Zwillingen nach oben eilte.
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Mürrisch folgte Odan zu Fuß dem Lauf des Flusses Richtung Rhûn. Nicht nur, dass er kein Pferd mehr besaß, alles war auch umsonst gewesen, und nun stiefelte er allein und aussichtslos durch die Ebenen des Westens. NIE würde er die Schwarzhaarige mehr erreichen können und NIE würde ein anderer Zwerg seines Volkes von dem Missgeschick erfahren, denn wie sollte er diese jemals wieder erreichen? Allein der Weg zwischen Rumlak und der Seestadt hatte zu Pferd zwei Wochen in Anspruch genommen – und nun war er gerade erst auf halber Strecke nach Rumlak...
Besorgt musterte Odan seine Stiefel, als fürchte er, sie könnten die Wanderung nicht überstehen, doch tatsächlich befanden sich in den Stiefeln eiserne Reserven... genau genommen goldene Reserven, mit denen er sich unter Umständen ein neues Reittier beschaffen konnte, um seine Gefährten am Meer von Rhûn zu erreichen, bevor diese sich erneut auf den Weg machten... Doch selbst dieser Weg würde vermutlich mindestens weitere zwei Wochen in Anspruch nehmen!
Odan seufzte. Worauf hatte er sich nur eingelassen? Warum er und kein anderer? Als gäbe es nicht ausreichend weitere gute Axtwerfer in ihrem Volk, die die Schwarzhaarige hätten töten können!
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Als Agarmaethor wieder erwachte, lag sie auf dem Deck des Handelsschiffes. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war ein Gebüsch vor dem Gasthaus und eine helfende Hand, die sie hielt, während sie ihren Magen entleerte. Sie schaute sich um. Neben ihr saß Aneru, doch von den anderen Elben war weit und breit nichts zu sehen.
„Guten Morgen!", lachte Aneru sie an. „Du hast wirklich lange geschlafen!"
Agarmaethor ächzte und setzte sich auf. Ihr Kopf schmerzte höllisch.
„Wie komme ich hierher?", murmelte sie müde.
„Legolas und König Elessar brachten dich hierher, und einige Soldaten Gondors schleppten irgendwelche Planen mit sich, die du wohl mitnehmen wolltest, wie ich hörte. Stell dir vor! Der König hat dich persönlich auf seinen Händen getragen, ist das nicht irgendwie... besonders?"
Agarmaethor errötete bei diesem Gedanken. „Ich werde Legolas bitten, dich einige Schritt weit zu tragen. Dann kannst du zu Recht behaupten, von einem echten Prinzen in den Armen gehalten worden zu sein. Das ist auch etwas Besonderes", murmelte sie bissig.
Aneru lachte sie frech an. „In diesen Genuss bist du aber auch bereits gekommen... mehr als einmal... und wie ich hörte, lagst du sogar einmal in den Armen König Thranduils! Du bist mir definitiv Einiges voraus! Außerdem wäre es mir sowieso viel lieber, von einer Königin oder Prinzessin getragen zu werden."
Sein Grinsen verriet seinen Hintergedanken dabei und Agarmaethor wollte bereits erzürnt aufbrausen, als ihr bewusst wurde, dass es sich doch eigentlich um nichts anders als ein nettes Gespräch handelte. Und wann führte sie schon einmal ein nettes Gespräch?
Ihr Augen funkelten frech zurück: „Ich verspreche, ich werde Königin Arwen fragen, sobald ich sie sehen sollte! Möglicherweise hat sie Mitleid mit deinen Sehnsüchten... Und Galadriel schuldet mir auch noch etwas!" Ein wenig Zorn kochte wieder hoch, als sie an deren skrupellose Pläne dachte. „Sie wird es wissen, wenn sie dich nur ansieht!"
Aneru lachte herzlich und Agarmaethor war froh, ihn nicht auf irgendeine Weise vor den Kopf gestoßen zu haben.
„Was habe ich verpasst, während ich schlief? Hat man denn wenigstens herausgefunden, was überhaupt geschehen ist?", stöhnend rieb sie sich den schmerzenden Kopf.
„Zwergisches Rattengift!", erklärte Aneru schlicht. „Gimli und Elladan haben dir das Leben gerettet, doch eine Spur des Täters gibt es nicht... er war wohl erneut unsichtbar."
„Ich glaube nicht daran, dass der Täter unsichtbar war! Wir haben seine Anwesenheit bereits einmal gespürt und müssen nur herausfinden, welche Gegenmaßnahmen wir zu ergreifen haben beim nächsten Mal gewappnet zu sein!", murmelte Agarmaethor, kuschelte sich in die Decken, die sie einhüllten, und schlief wieder ein.
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Die nächsten zwei Tage schlief Agarmaethor beinahe durchgehend. Erst kurz vor Erreichen des Meeres erwachte sie soweit, dass sie die Einfahrt des Schiffes in den kleinen Hafen beobachten konnte. Der Ort dazu nannte sich Ulmar, und obwohl hier ein reger Warenverkehr bestand, handelte es sich bei Ulmar um ein vor Dreck und Ungeziefer strotzendes Nest, welches keinerlei Interesse für sesshafte Händler erregen konnte. Ulmar war ein reiner Umschlagplatz.
Auch die Gemeinschaft hielt es nicht in der Stadt. Sie bevorzugte es, lieber noch ein Stück an der Küste des Meeres entlang zu laufen, als auch nur eine überflüssige Minute zwischen Kakerlaken und Ratten zu verbringen. Sie befreite für gutes Geld einen kleinen, kräftigen Esel von demselben Unglück. Er sollte bis zum nächsten Pferdehändler die Lederplanen tragen. Doch ihr Weg führte sie zunächst nach Süden zum Hause Vorondas. Aragorn hatte in seiner Wegbeschreibung gute Arbeit geleistet, so dass es leicht war, das große Holzhaus zu finden.
Saftige Weiden erstreckten sich rund um Vorondas Haus. Ställe und Tränken verteilten sich an verschiedenen Abschnitten eines großen, umzäunten Gebietes, und nur ein schmaler Pfad führte zur Tür Vorondas.
Die Gemeinschaft setzte sich in den Schatten eines Baumes und Elladan und Legolas klopften an die Eingangstür. Ein junger, hoch gewachsener Mann öffnete und sah die beiden Elben erstaunt an.
„Ich wünsche einen guten Abend!", begann Elladan höflich und verbeugte sich. „Mein Name ist Elladan, Elronds Sohn, und neben mir steht Legolas, Thranduils Sohn. Wir wollen nicht stören, doch wir sind auf der Suche nach einem Mann mit dem Namen Voronda und hoffen, hier richtig zu sein. Wir überbringen ein Schreiben König Elessars von Gondor."
Legolas überreichte das Pergament. Der junge Mann sah sich das Schriftstück und die beiden Elben lange an und nickte.
„Tretet ein. Ihr seid hier richtig und mein Vater wird sich sehr freuen, Euch zu begegnen, denn er liebt Elben über alles!"
Legolas schaute etwas betreten zu Boden. Immer, wenn er solche Worte vernahm, kam er sich vor wie eine Lieblingsspeise. Er liebte auch Honig und Kekse...
„Doch leider muss ich Euch mitteilen, dass er sehr krank ist", fuhr der junge Mann fort. „Er kann kaum sprechen und..." Ihm schien ein Gedanke gekommen zu sein, denn seine Augen blitzten plötzlich auf. „Besitzt Ihr nicht außergewöhnliche Heilfähigkeiten? Vielleicht könntet Ihr ihm helfen?"
Es dauerte nicht lange, bis sie sich darauf geeinigt hatten, Elladan und Elrohir zu Voronda zu schicken. Kaum waren diese im Haus verschwunden, hörte Legolas einen panischen Ruf Maethrims:
„Legolas! Agarmaethor stirbt und Gimli begrapscht sie dabei!"
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Der junge Mann führte die beiden Elben in einen dunklen, schlecht belüfteten Raum. Elladan sah sich um und stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass das Haus innen wesentlich sauberer war, als es von außen den Eindruck gemacht hatte.
Sie folgten dem jungen Mann zu einer Treppe und ließen sich von ihm die Tür zu Vorondas Kammer öffnen. Sie war ebenso dunkel und stickig wie der Vorraum des Hauses. Die Fensterläden waren geschlossen, und nur einige brennende Kerzen standen auf einem Tisch, um ein wenig Licht zu spenden.
Elrohir eilte sofort zum Fenster und stieß die Läden auf. Eine Flut Lichtes der warmen Abendsonne erhellte den Raum. Auf einem großen Bett lag ein alter Mann, der geblendet die Augen zukniff. Elladan setzte sich auf die Bettkante, fühlte seinen Puls und untersuchte Atmung und Herzschlag.
„Elben hier im Osten?", fragte Voronda und huste heftig. Seine Stimme klang tief und angenehm. „Was treibt zwei Elben hierher?"
„Vater! Es sind 14 Elben, eine Elbenfrau und ein Zwerg, doch diese hier kümmern sich um dich, während die anderen draußen warten."
Der junge Mann kniete sich am Kopfende des Bettes nieder und strich mit seiner Hand über das Gesicht seines Vaters. Der alte Mann lächelte und schloss für einen Moment die Augen.
„Was fehlt ihm?", fragte Vorondas Sohn als Elladan seine Untersuchungen beendet zu haben schien.
Elladan schaute ihn traurig an. „Nichts. Jedenfalls nichts, wogegen ich etwas tun könnte. Er trägt die schwere Last des Alters."
Voronda hustete erneut. „Ulfred, mein Junge! Das sagte ich dir doch bereits die ganze Zeit! Ich bin nicht krank... ich bin alt! Geh jetzt bitte und bereite unseren Gästen etwas zu Essen und zu Trinken vor!"
Unglücklich sah Ulfred ihn an.
„Geh schon! Ich werde nicht sterben, während du Kartoffeln schälst!", knurrte Voronda mit einem Lächeln und wartete, bis sich die Tür hinter Ulfred schloss.
„Ach, er ist ein lieber Junge", murmelte Ulfred. „Aber er ist sehr naiv... ein schlichter Rinderhirt eben... nichts anderes! Ich war wohl zu selten hier, um seine Erziehung zu beeinflussen, aber Rinder kann er hervorragend züchten! Diese wertvollen Rinder von Araw... Ihr habt sicher bereits davon gehört?"
Elrohir nickte und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett Vorondas. „Selbstverständlich. Die Hörner dieser Rinder sind einzigartig! Boromir, der Sohn des früheren Truchsesses von Gondor, besaß einst solch ein Horn. Es war mit Silber beschlagen und reich verziert, doch es ist zerbrochen, als er fiel, leider."
„So? Zerbrochen ist es? Das ist bedauerlich, doch es wird immer neue und bessere Hörner geben."
Elrohir sah Voronda fragend an. „Bessere? Das Horn Boromirs war bereits legendär!"
Voronda lachte. „Bitte... öffnet diesen Schrank dort und gebt mir, was ihr darin findet!" Er hustete erneut.
Elladan öffnete den Schrank und entnahm ihm vier große Hörner.
„Seht! Dieses Horn hier ist etwa einhundert Jahre alt. Der Großvater meiner leider schon sehr früh verstorbenen Frau züchtete bereits Araw-Rinder und er bemühte sich stets, die Hörner reich zu verzieren. Mit bunten Farben bemalte er sie und verdiente nicht wenig Gold damit. Doch dieses Horn hier stammt von seinem Sohn. Er begann damit, kleine Figuren und Muster hineinzuschnitzen, die er dann mit Farbe füllte. Ist es nicht prächtig?" Voronda seufzte. „Das dritte Horn fertigte der Bruder meiner Frau an. Er füllte die ausgeschnitzten Verzierungen mit flüssigem Metall. Brillant, nicht wahr? Aber das schönste, beste und auch lauteste Horn stammt von meinem Neffen. Er kombinierte alle Versuche seiner Vorgänger, erforschte ein Verfahren, die Bruchfestigkeit der Hörner zu prüfen, bevor sie überhaupt für Verzierungen benutzt wurden, und vor allem war er es, der den Zusammenhang zwischen einigen Hornformen und der Tragweite ihrer Töne erkannte. Es gibt bisher nichts Besseres als dieses Horn hier, und es ist sagenhaft wertvoll."
Elladan nickte und betrachtete die Hörner mit Bewunderung.
„Ich weiß nicht, welches Horn dieser Boromir besaß", fuhr Voronda fort, „welche Eigenschaften es hatte, wer es anfertigte und wie alt es war, bevor es zerbrach, doch ich wollte Euch hier zeigen, dass es im Laufe von nur vier Generationen, was weniger als einhundert Jahren entspricht, eine wundervoll schnelle Entwicklung gegeben hat. Das war nur möglich, weil Fertigkeiten und Erkenntnisse von Generation zu Generation weitergegeben wurden.
Deshalb bestand ich auch darauf, dass mein Sohn in die Fußstapfen seiner Vorfahren tritt und bei den Rindern bleibt. Er wird die Rinder bis zum Ende seines Lebens züchten und wahrscheinlich seine Kinder bis ans Ende ihres Lebens. Einer übernimmt das andere und man kann mit Stolz auf seine Nachkommen schauen, die alles weiter und weiter entwickeln und verbessern. Das bringt das Leben so mit sich. Ihr wisst das sicherlich, wenn Ihr Eure eigenen Kinder anseht."
Elrohir und Elladan schauten sich verlegen an. Sie waren 3000 Jahre alt und besaßen keine Kinder, denen sie etwas mit auf den Weg hätten geben können. Und auch ihr Vater war bereits mehr als 6000 Jahre alt und hatte sich 3000 Jahre lang Zeit gelassen, um für eigenen Nachwuchs zu sorgen. Nicht immer benötigten Elben derart lange, um Familien zu gründen, doch allein der Gedanke, dass es mindestens weitere 3000 Jahre dauern könnte, bis auch sie Enkel hatten und damit vier Generationen vervollständigten, ließ ihnen einen kleinen Schauer über den Rücken laufen.
Der alte Mann legte alle, bis auf das vierte Horn, beiseite. „Ich würde euch dieses Horn gerne schenken, wenn ihr mir dafür einen kleinen Gefallen erweist." Er hustete wieder. „Ich werde schon bald tot sein, doch ich hege noch einen Wunsch. Könntet Ihr mit meinem Sohn bei mir bleiben, bis es soweit ist? Könntet Ihr mir dann etwas vorsingen? Ich liebe den Gesang der Elben und habe ihn immer geliebt. Ich weiß nicht, ob das Sterben Schmerzen verursacht, aber ich habe immer geglaubt, dass der Gesang von Elben einem das Sterben leichter machen würde. Könntet ihr bleiben?" Bittend sah er sie an.
„Wir bleiben gerne, doch Ihr müsst uns das Horn dafür nicht schenken", sagte Elrohir. „Euer Sohn wird es sicherlich haben wollen."
Voronda lächelte. „Mein Sohn wird Verständnis haben, wenn ich es verschenke, denn es ist meines und Ihr werdet es sicherlich besser gebrauchen können.
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'Legolas! Agarmaethor stirbt und Gimli begrapscht sie dabei!' Dieser Satz hallte in Legolas' Kopf, während er erschrocken zu Agarmaethor eilte. Erst als er Gimli dabei sah, wie er an ihrem Bauch herumwuselte, und sie sich unter seinen Händen vor Schmerzen wand, begriff er, und konnte ein Lachen gerade noch unterdrücken.
„Wir konnten gar nichts machen!", flüsterte Rochdil atemlos. „Wir saßen gemütlich unter dem Baum und sie schlief ein, wie bereits die letzten Tage. Und dann... plötzlich... Ich dachte, die Sache mit dem Gift sei überstanden! Oder leidet sie nur unter... ähm... Blähungen?"
Legolas schob ihn sanft beiseite und kniete sich neben Agarmaethor. Vorsichtig hob er sie hoch, setzte sich, wie im Nebelgebirge, hinter sie und legte seine Hand auf ihren Bauch. Erstaunt beobachteten die Elben, wie sich Agarmaethor zu beruhigen und wieder friedlich zu schlafen schien.
„Warum geht das bei dir und bei mir nicht?", knurrte Gimli.
Legolas grinste. „Du warst selber viel zu nervös. So aufgeregt, wie du eben warst, kannst du keine Ruhe ausstrahlen!"
„Was ist denn hier los? Was tust du da?" Amlugûr schob sich durch die Traube Elben und starrte Legolas an. „Lass deine Finger von ihr! Was fällt dir ein?"
Ärgerlich näherte er sich Legolas, doch Gimli stellte sich dazwischen und hob drohend seine Axt.
„Er hilft ihr, wie er es bereits zweimal getan hat", knurrte er böse. „Sie hat eine Vision, und immer, wenn sie eine Vision hat, hat sie Schmerzen, die nur dadurch weggehen, dass man sich ein wenig um sie... kümmert!"
„'Kümmern' heißt aber nicht Befummeln!", fauchte Amlugûr. „Ich bezweifle ernsthaft, dass sie das erlauben würde, wüsste sie davon! Und sie weiß mit Sicherheit nichts davon, denn sie hätte mir davon erzählt! Sie erträgt lieber Schmerzen als..."
„Ganz im Gegenteil, Amlugûr", erwiderte Legolas kühl. „Ich habe mich im Eryn Lasgalen ausführlich mit ihr darüber unterhalten, und sie möchte sogar, dass ich das tue. Sie will diese Schmerzen nicht."
Sprachlos und verletzt sah Amlugûr ihn an.
„So, so!", Aneru grinste. „Darf ich mich auch einmal so um sie kümmern?", fragte er scherzend, um die angespannte Stimmung wieder zu heben.
Doch Amlugûr wandte sich ab und ließ die anderen stehen.
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„Voronda?", sagte Elrohir leise. „Wir sind nicht zufällig hier."
„Das habe ich mir gedacht, doch ich wollte warten, bis Ihr anfangt zu sprechen." Er versuchte sich aufzurichten, und Elladan schob ihm ein Kissen unter den Rücken.
„Unsere Gemeinschaft ist auf dem Weg in den Osten. Jedenfalls vermuten wir, dass wir diese Richtung einschlagen müssen. Auf dem Weg hierher trafen wir Estel... also Aragorn... König Elessar, meine ich. Er berichtete, dass Ihr möglicherweise Kartenwerk besitzt, welches Ihr uns zur Verfügung stellen könntet. Ist das wahr?", fragte Elladan.
Voronda lächelte. „Ja, das ist wahr, aber ich besitze weniger davon, als er vermutet. Ich habe vor allem den Norden und den Süden bereist und unterwegs ist auch oftmals Kartenwerk verloren gegangen... in Kämpfen und Schlachten, die ich dort ausfocht. Am Bedauerlichsten empfinde ich den Verlust der Karten aus dem Roten Gebirge, denn wohl selten reist jemand dorthin und es gibt dort keine Menschen mehr, die man nach dem Weg fragen könnte."
„Keine Menschen?" Elrohir staunte. „Wie kann das sein?"
„Wenn ich das wüsste. Überall findet man Ruinen von Dörfern und Siedlungen, Massengräber und zerfallene, ungepflegte Straßen. Einige verlassene Dörfer schienen bereits seit mehreren hundert Jahren nicht mehr bewohnt zu sein. In einigen Gegenden weiter im Westen, vor allem westlich des Flusses Talarhrand, berichtete man mir, dass seit langer Zeit Menschen aus dem Osten flohen, weil sie sich dort nicht mehr sicher fühlten. Nächtliche Überfälle durch unbekannte Kreaturen... schiere Ausrottung! Und auch ich habe nur überlebt, weil ich von meinem nächtlichen Lager floh und mein gesamtes Gepäck zurückließ, als ich eine dunkle Aura spürte. Dabei sind mir auch die Karten abhanden gekommen... leider."
Elladan und Elrohir schauten sich betroffen an.
„Dunkle Aura?", hakte Elladan nach, doch er ahnte, wovon Voronda sprach.
„Ja, ich kann es nicht besser beschreiben. Mir wurde entsetzlich kalt und ich fühlte Angst, bevor überhaupt jemand in meiner Nähe war... Vielleicht konnte ich nur deshalb überleben... ich weiß es nicht. Ich halte es jedenfalls für äußerst mutig, wenn fünfzehn Elben und ein Zwerg einfach so in den Osten ziehen."
„Es gibt keine großen Elbenheere mehr, die Kriege und Schlachten führen könnten. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, einen Krieg zu führen. Aber selbst eine kleine Gemeinschaft kann stark sein", erwiderte Elrohir.
„Wohl wahr!", murmelte Voronda. „Ich war oft allein und sehr, sehr einsam. Ich hätte mich wirklich mehr um meinen Sohn kümmern sollen. Es ist so schön zu wissen, dass es jemanden gibt, der einen Teil von einem selbst in sich trägt und dass man betrauert wird, wenn man die Welt verlässt. Es ist so schön zu wissen, dass man nicht alleine ist, wenn das Leben einen verlässt..." Er lächelte müde. „Ach ich vergaß! Ihr seid unsterblich. Ihr werdet dieses Gefühl nie haben. Verzeiht einem alten Mann!" Er hustete wieder. „Könntet Ihr meinen Sohn holen und mir dann etwas vorsingen? Es wird dunkel", flüsterte er.
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Als Agarmaethor wieder erwachte, lag sie in Decken gehüllt unter dem Baum. Sie stöhnte, als sie sich aufrichtete. Der Kopfschmerz fraß sich vom Nacken bis hin zu den Schläfen. Nur in den Augenwinkeln sah sie Legolas neben sich sitzen.
„Wo sind die anderen?", fragte sie.
„Sie beerdigen den alten Mann. Hier!" Legolas reichte ihr einen Becher. „Ich habe das für dich zusammengemischt. Ich dachte, es könnte dir gut gegen deine Kopfschmerzen helfen."
Zögernd nahm sie ihn entgegen.
„Ich werde dich nicht vergiften... Wirklich!", murmelte Legolas verlegen.
„Das nahm ich auch nicht an. Mir schmeckt es nur nicht", erwiderte Agarmaethor.
„Wir... wir konnten seit dem Vorfall im Gasthaus nicht mehr wirklich miteinander reden..." Legolas errötete.
„Was gibt es zu bereden?" Agarmaethors Stimme klang frostiger, als sie es eigentlich beabsichtigte, doch die Erinnerungen an beinahe alles, was im Gasthaus geschehen war, ließen ihren Ärger erneut aufsteigen.
„Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leid tut, dich in diese Lage gebracht zu haben... und dann noch nicht einmal auf dich achten zu können... mit dem Gift, meine ich..." Legolas rutschte unruhig auf seinem Platz herum.
Agarmaethors Augen blitzten ihn beleidigt an. „Legolas, ich bin erwachsen! Ich kann selbst auf mich aufpassen! Du hast auf mich eingeredet, mit dir in die Stadt zu kommen, doch es war meine eigene Entscheidung, dir zu folgen! Und es ist auch nicht deine Aufgabe, auf mich zu achten, oder mich zu umsorgen, als wäre ich ein Kind. Kümmere dich um deine Sicherheit, denn du hättest das Gift auf deinem Teller ebenso wenig bemerkt wie ich, und du glaubst sicherlich nicht von dir selbst, du seiest unfähig, auf dich zu achten. Das hätte jedem von uns passieren können. Warum denkst du nur so von mir?"
Legolas senkte den Blick. „Weil du... verletzbarer bist als ich..."
Abrupt wandte sie ihm den Rücken zu und schlug die Decke über ihren Kopf, so dass er nicht sehen konnte, wie Schamesröte ihr Gesicht überzog. Es war tatsächlich Scham, die sie empfand, weil sie in den Augen dieses jungen Kriegers so schwach und verletzlich wirkte.
Sie konnte den Eindruck, den er haben musste, weil sie in beinahe jeder reisefreien Minute schlief, weil sie sich durch eigene Unachtsamkeit vergiften ließ und sich dann in seinem Beisein vor der Tür eines Gasthauses übergab, oder weil sie sich aufgrund einer unsinnigen, inneren Angst soweit von der Gruppe entfernte, dass sie sogar entführt werden konnte, durchaus nachvollziehen und zürnte ihm nicht für seine Äußerung.
Trotzdem schmerzte es sie, was Legolas gesagt hatte, denn sie konnte nicht verleugnen, dass sie aufgrund all dieser Ereignisse weder ihren eigenen noch seinen Ansprüchen gerecht wurde und dass sie zu einer Belastung für alle geworden war. Die Mitglieder der Gemeinschaft hatten mit Sicherheit zu Beginn der Reise von Lórien aus nicht damit gerechnet, sie ständig vor Gefahren beschützen oder unaufhörlich auf sie Rücksicht nehmen zu müssen.
Sie war nicht schwach, fühlte sich nicht schwach. Schwach war in ihren Augen jemand, der aufgab zu kämpfen, und sie kämpfte jeden Tag – mit sich selbst und all den widrigen Umständen um sie herum. Keiner konnte ahnen, welche Überwindung es sie gekostet hatte, den Apfel als Friedensangebot aus Legolas' Hand zu nehmen, ihre ständige Einsamkeit als eine für sie unausweichliche Notwendigkeit zu ertragen oder ihre zweite Kindheit ohne eine eigene Familie zu verbringen.
Sie hatte Amlugûr von ihrem Erwachen im Wald, den Zwergen und ihrem Aufwachsen in der Elbensiedlung erzählt, doch hatte er sich nie wirklich vorstellen können, was damals mit ihr geschehen war ... nämlich nichts. Es klang absurd, doch so war es. Die Elben dort taten ihr nichts Böses an. Sie lehrten sie lesen, schreiben, rechnen und sprechen, reiten und schwimmen... nichts Schlimmes geschah dort... gar nichts.
Doch niemand bemerkte, wie sehr sie litt. Schon ein Blick in den Spiegel ließ sie bereits sehr früh den Unterschied zu echten Kindern erkennen.
Amlugûr glaubte, all ihre Probleme würden daher rühren, dass man sie aufgrund ihres erwachsenen Körpers auch wie einen Erwachsenen behandelt hatte. Doch sie gab ihm nur teilweise Recht, denn das allein war es nicht. Viel schlimmer war für sie die Tatsache, dass sie ihr eigentliches Erwachsensein trotz ihres kindlichen Verstandes begriff. Es war, als würde sie nicht nur den farblichen Unterschied zwischen einem roten und einem grünen Apfel erkennen, sondern auch verstehen, dass nur der rote reif war.
Die Folge davon war ein tiefes Schamgefühl darüber, dass man ihr vor allem zu Beginn ihres neuen Lebens den Po abwischen, das Essen zerkleinern, die Nase putzen oder ihr beim Ankleiden helfen musste, weil sie selbst dazu nicht in der Lage war.
Ihre Pflegeeltern bemerkten diese Scham und zogen daraus die scheinbar einzige logische Schlussfolgerung, nämlich die, dass sie einer grundlegenden Ausbildung bedurfte. Pflichtbewusst brachten sie ihr alles Notwendige bei, um ihr dabei zu helfen, auf eigenen Füßen zu stehen und somit keinen Anlass mehr für Schamgefühl zu haben. Sie meinten es gut, doch in ihrem Pflichtbewusstsein übersahen sie Agarmaethors neidische Blicke, wenn sie mit ihren eigenen Söhnen spielten, ihnen Geschichten vorlasen oder sie bei kleinen Verletzungen trösteten. Überzeugt davon, sie habe das alles nicht nötig, lebten sie ihr mit ihren Kindern ein Leben vor, dass Agarmaethor selber so sehr begehrte.
Möglicherweise hatte sie den Fehler begangen, nicht eindringlich genug danach zu verlangen und darauf zu bestehen, wie andere Kinder behandelt zu werden. Doch nachdem sie oft genug belächelt worden war und gesagt bekommen hatte, wie unangebracht ihre Bedürfnisse wären, glaubte sie diese Worte irgendwann. Sie glaubte, dass sie kein Anrecht darauf besaß, kitzelnd im Bett ihrer Pflegeeltern zu toben wie ihre Brüder. Sie glaubte daran, dass besondere Süßigkeiten nur kleinen Kindern vorbehalten waren... so wie auch bunt und lustig bestickte Nachtgewänder oder Spielsachen. Und sie glaubte sogar daran, dass lautes und schallendes Lachen sich nicht gehörte, denn die meisten Erwachsenen hatten wirklich kindliche Freude schon lange verlernt.
Hartnäckig begann sie damit, den Erwartungen ihrer Pflegeeltern gerecht werden zu wollen, indem sie fleißig alles Notwendige erlernte, um schnellstmöglich selbständig werden zu können. Es war schwer, beim Lesen von Lehrbüchern das lärmende Spielen der Kinder vor dem Haus zu überhören, doch die Neugier auf die eigenen, richtigen Eltern und die Aussicht, sich sobald wie nur möglich auf die Suche nach ihnen begeben zu können, gaben ihr Kraft und Stärke.
Nie hatte sie die Hoffnung vollständig aufgegeben und gerade jetzt, da sie endlich, nach so vielen Jahren, zum ersten Mal einen greifbaren Hinweis auf ihre Vergangenheit erhalten hatte, wollte sie nicht den Fehler begehen schwach zu werden, indem sie andere in deren Ansichten bestärkte.
Entschlossen warf sie die Decke zurück und wollte sich den verletzenden Worten Legolas' stellen, doch kaum hatten sich ihre Augen an das grelle Sonnenlicht gewöhnt, gewahrte sie neben ihrem Kopf eine kleine, zarte Heckenrose.
„Oh Legolas!" Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. „Das ist ein wenig zu... rührselig. Ich bin dir nicht böse und die Blume hat dir auch nichts getan! Wo hast du sie überhaupt her? Es ist eisiger Winter!"
„Ich brach sie von einer Hecke am Rinderstall, und ich gebe sie dir, weil ich sie mit dir vergleichen möchte." Legolas hockte sich neben sie und sah sie warm an.
Agarmaethor zog skeptisch die Augenbrauen hoch und hoffte, er würde nicht von Schönheit und Anmut sprechen.
„Diese Rose ist die einzige, die in der gesamten Umgebung noch blüht, und sie widerstand bisher Wind und Wetter – selbst jetzt im kalten Winter. Sie ist stark, denn sonst hätte sie das alles nicht überlebt, und ihre Dornen schützten sie davor, dass die Rinder sich an ihr zu schaffen machten. Doch meiner Hand widerstand sie nicht. Das war zu viel." Legolas rückte ihr ein wenig näher und schaute ihr eindringlich in die Augen. „Derzeit greifen so viele Hände nach dir, dass du dich gar nicht gegen alle erwehren kannst, und vermutlich bist du es auch gar nicht gewohnt, dich gegen so viele unterschiedliche Interessen behaupten zu müssen. Deshalb bist du verletzbarer als ich, verstehst du? Verletzbarer, nicht schwächer."
Agarmaethor betrachtete die Rose und ließ ihre Finger sacht über deren Blüte gleiten. Sie sprach nicht aus, wie wichtig es ihr war, dass es wenigstens eine einzige Person zu geben schien, die sie nicht für schwach hielt, doch ein dankbares Lächeln huschte über ihr Gesicht.
