Hallo, liebe Zwergenfreunde!
Tut mir leid, dass es etwas länger gedauert hat. Ich habe mit dem Kap ähnlich intensiv gekämpft wie die Helden der Geschichte mit den Sangwa. °g°
Aber jetzt stehts ja. °seufz°
Das nächste Kap wird aber vermutlich eine Woche länger brauchen. Ich bin nämlich verreist, und die Zeit fehlt mir. :(
Aber es kommt. °zwinker° Insofern ist ja Verlass, oder?
Alles Liebe
Euer Kampfzwerg
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Henali: Wow! 2 Tage! Ich weiß, wie viel Papier dahinter steckt, also kann ich mir gut vorstellen, was das für eine Leseleistung ist. Vielen Dank, dass du dich gemeldet hast und ich freue mich, dass dir die FF so gut gefällt. °knuddel° Ich gebe mir Mühe, aber ich arbeite halt auch noch nebenbei (wobei das nebenbei nur ein Wunschtraum ist). °g°
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Salzige Kristalle
Die Sangwa näherten sich der ersten Feuerwand so lautlos, dass nicht einmal ein Knarren ihrer ledernen Rüstungen zu vernehmen war. Aber die ihnen anhaftende, dunkle Kälte vermengte sich mit dem eisigen Atem des Windes und kündigte ihre Ankunft an, indem sie sich jedem anderen Lebewesen in Mark und Bein fraß.
Mit dicken Schneeflocken gaben die dunklen Wolken am Himmel das Startsignal zur Schlacht, doch der Schnee behielt sein strahlendes Weiß nicht lange, vermischte sich in der Luft mit den Pfeilen der Avari und färbte sich dunkelrot, noch bevor es ihm gelang, auf dem Boden eine dünne Schicht winterlicher Pracht zu bilden.
„Elbereth, sind die überheblich!", murmelte Elrohir zu Amlugûr, als er die Sangwa zu einem Sturmangriff auf die Bogenschützen in den Bäumen nahe der Feuerwand übergehen sah.
Um den Überblick über das Geschehen zu behalten, hatte er sich in die Krone des höchsten Baumes der Umgebung begeben und Amlugûr zu sich genommen, um jenen notfalls als Boten einsetzen zu können. Von dort aus beobachtete er mit einem zufriedenen Lächeln, wie die Krieger der Sangwa, unbeeindruckt von den Knochenspitzen der Avari-Pfeile, nach und nach ihre Schilde fallen ließen, um auf diese Weise ihre Beweglichkeit zu erhöhen.
„Als Kind spielte ich einmal mit einer Schlange. Damals dachte ich, sie wäre harmlos, weil sie so klein war. Ich wusste nicht, dass sie Giftzähne besaß." Auch Amlugûr lächelte, doch sein Lächeln war nicht fröhlich. „Nur leider wird unsere Schlange ihre Zähne nicht mehr lange behalten."
Besorgt sah er, wie einige Avari tot oder verletzt aus dem Geäst der Bäume fielen, wartete jedoch geduldig auf ein Zeichen Elladans, um mit seinen Pfeilen die Rüstungen der Sangwa durchbohren zu dürfen.
Ein wenig verbittert glitt sein Blick dabei über seine Gegner und blieb an einem ledernen Brustharnisch mit dem Abbild eines wilden Wolfes hängen. Sein Besitzer hielt sich ein wenig Abseits des Geschehens und beobachtete mit einem breiten Grinsen, wie einem seiner eigenen Krieger mit einem schweren Stein der Schädel eingeschlagen wurde.
Nachdenklich runzelte Amlugûr die Stirn. Hatte nicht Elrohir einmal davon gesprochen, er sei in der Nähe von Songels Siedlung einem Sangwa in einer solchen Rüstung begegnet? Hatte jener nicht von ihm abgelassen, als Elrohir ihm damit gedroht hatte, Agarmaethor die Kehle aufzuschlitzen?
Doch noch bevor er Elrohir fragen konnte, durchschnitt ein Pfeil Elladans die Luft und gab ihm mit seinem durchdringenden, singenden Ton das Zeichen zum Kampf. Die tödliche Melodie weiterer Pfeile folgte, und auch Amlugûr stimmte mit ein und malte mit dem Blut seiner Gegner ein grausames Bild im weißen Schnee.
Leider hatten die Elben die Blöße ihrer Gegner nur wenige Sekunden lang ausnutzen können, bevor jene sich wieder hinter ihre Schilde retteten, und dann langsam durch den Fluss schwammen, um auf die andere Seite der Feuerwand zu gelangen.
„Sie drängen nach vorne!", murmelte Elrohir befriedigt und beobachtete hoffnungsvoll, wie sich die Sangwa am Ufer entlang bewegten und schon bald auf die zweite Feuerwand treffen würden... hoffentlich.
Obwohl sich die Avari, Apfelblüte und die Gemeinschaft immerhin eine ganz Nacht lang hatten beraten können, hielt er den ausgearbeiteten Plan nicht für wirklich gut. Er war auch nicht wirklich schlecht, aber bestand letztlich nur aus einem Kompromiss aus dem Wunsch nach einer einzigen, endgültigen Schlacht und aus dem Wunsch, die Sangwa in den Wald zu locken und dort aus dem Verborgenen heraus zu bekämpfen.
Ihm selbst hatte keine der beiden Alternativen wirklich gefallen, aber er hatte in Anbetracht der kurzen Zeit bis zum Angriff der Sangwa auch keine besseren Vorschläge unterbreiten können. Er wusste nur eines: Die Sangwa waren keine gewöhnlichen Orks.
Sie vermehrten sich nicht wie Ratten und beeindruckten daher auch weniger mit ihrer enormen Anzahl, sondern vielmehr mit ihren Fertigkeiten im Kampf. Sie würden sich nicht in einer einzigen, offenen Schlacht niedermetzeln lassen. Und sie würden auch nicht hilflos durch den Wald stolpern und sich dort verlaufen. Vermutlich würden sie noch nicht einmal ihren Kopf verlieren, wenn ihr Anführer fallen sollte.
Vielleicht war er blind oder vielleicht hatte er bereits zu viel Respekt vor seinen Gegnern, aber er glaubte nur eine einzige, greifbare Schwäche zu erkennen: ihre Überheblichkeit.
Sie war es gewesen, die es ihm und seinen Kriegern ermöglicht hatte, den Sangwa in den Rücken zu schießen, als jene sich von den harmlosen Knochenspitzen dazu hatten hinreißen lassen, ihre Schilde fallen zu lassen. Sie war es auch gewesen, die die Sangwa dazu veranlasst hatte, trotz ihrer Verluste keinen vorübergehenden Rückzug anzutreten, sondern weiter nach vorne zu dringen. Und sie würde der Grund dafür sein, dass die Sangwa die Schlacht dort suchten, wo die Elben sie haben wollten: an der zweiten Feuerwand, nur ein kurzes Stück hinter der Flussbiegung... und sie mussten nur dem Rauch folgen, um dorthin zu finden.
Dort waren die Fallen aufgebaut worden, die sich die Befürworter eines Waldkampfes hatten einfallen lassen, und dort würde es zu der gewünschten Endschlacht kommen.
Geschickt stieg er vom Baum, um gemeinsam mit seinen Kriegern über geheime Pfade der Avari durch den Wald zur zweiten Feuerwand zu eilen. Die Krümmung des Flusses erlaubte ihnen einen kürzeren Weg als den, den die Sangwa zurücklegen mussten.
Doch kaum hatten seine Füße den Boden berührt, erreichten panische Rufe der Elben seiner Gemeinschaft und der Avari sein Ohr: Die Sangwa drangen in den Wald ein.
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„Lútholwen? Wo bist du?"
Vorsichtig erklomm Pallando einen kleinen Felsvorsprung innerhalb der mit Alatar und Lútholwen bewohnten Höhle. Obwohl sie nun schon viele Monate hier verbracht hatten, hatte er sich noch immer nicht an all die unzähligen, schmalen Durchgänge gewöhnen können, die sich zwischen den einzelnen Wohnräumen befanden.
„Lútholwen? Ach hier bist du!"
Pallando hatte einen vollkommen abgelegenen Raum erreicht, der eine winzige Öffnung nach außen besaß. Er mochte diesen Raum nicht, denn oft genug hatte er ihn mit einer Fackel erleuchten wollen und dabei Fledermäuse aufgeschreckt, die ihm panisch um die Ohren geflattert waren.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du die Finger von diesen Kreaturen lassen sollst?", fragte er verärgert, packte Lútholwen am Armgelenk und zog sie aus der Höhle.
„Sehr oft. Aber ich verstehe es nicht. Sie sind so harmlos, so niedlich, und..."
„Und so dunkel!", unterbrach Pallando sie. „Fledermäuse sind nicht böse, aber sie können so leicht von dunklen Kreaturen missbraucht und für ihre Zwecke eingesetzt werden."
„Na und? Du bist nicht dunkel, Alatar ist nicht dunkel, und ich bin es auch nicht!", erwiderte Lútholwen störrisch, befreite sich aus Pallandos Griff und wollte zurück in die Höhle, doch Pallando griff erneut zu.
„Aber Sauron ist es! Und wenn er durch einen Zufall von unserer Anwesenheit hier erfahren sollte, wer weiß, wie uns diese Kreaturen dann schaden könnten? Wir sollten sie vertreiben!" Sein Ton war harsch geworden, aber als er Lútholwens panischen und eingeschüchterten Blick sah, fügte er beschwichtigend hinzu: „Ich habe eine Möglichkeit gefunden, die Phiole zu öffnen."
„Tatsächlich?" Lútholwens Schreck wich ihrer Begeisterung für die Phiole. „Und du hast dabei an mich gedacht und wolltest mich holen?"
Hastig umarmte sie Pallando, presste ihre Lippen auf seine und strich mit ihren Händen über eine Stelle seines Körpers, die Pallando erschrocken zurückfahren ließ.
„Nicht!" Brüsk schob er sie von sich. „Alatar könnte uns sehen und einen falschen Eindruck gewinnen! Komm lieber!" Er fasste sie am Handgelenk und zog sie in die Höhle, die er für seine Forschungen benutzte. „Ich habe mich lange mit der Phiole befasst. Sie ist magisch verschlossen worden, aber nicht gut genug, als dass ich sie mir nicht zugänglich machen konnte."
Er lächelte triumphierend und öffnete den Deckel zu einer Keramikschale mit einem grün-bräunlichen Sud darin.
„Was ist das?", fragte Lútholwen angewidert. „Und warum ändert es jetzt seine Farbe und wird blau?"
„Weil das Schloss soeben geöffnet wurde." Sein triumphierendes Lächeln wurde noch breiter. „Monate habe ich damit verbracht, die Phiole mit Zaubersprüchen, der Magie meines Stabes oder möglichen Losungsworten zu öffnen. Doch ich bin kläglich gescheitert, und gerade deshalb kam ich auf den Gedanken, dass die Phiole nur einem bestimmten Personenkreis zugänglich sein soll, einem Personenkreis, der so eingeschränkt ist, dass ein einfaches Wort oder ein Zauber nicht genügen darf, um das Geheimnis der Phiole zu lüften. Und eines Nachts fiel es mir in einem Traum wie Schuppen von den Augen: Blut. Blut kann den Personenkreis auf eine Familie begrenzen, oder sogar nur auf eine Person selbst."
Lútholwen sah ihn etwas verwirrt an. „Und wie konntest du das Schloss öffnen? Bist du verwandt mit dem Erschaffer der Phiole?"
Pallando schmunzelte. „Nein, das nicht. Aber ohne eingebildet klingen zu wollen, glaube ich, dass ich die einzige Person in Mittelerde bin, die dazu in der Lage ist. Hier zeigt sich, dass ich mir meine Kenntnisse der Kräuterkunde nicht umsonst angeeignet habe. Ich habe diesen Sud zubereitet und das Blut" - Er suchte nach einem Wort, um es Lútholwen besser erklären zu können. - „abgewaschen. Ja, abgewaschen. Das klingt banal, aber das ist es nicht. Wasser, Säuren, Reinigungsmittel – nichts davon hätte es beseitigen können, aber einige erlesene und wertvolle Kräuter waren dazu in der Lage. Der Erschaffer dieser Phiole hat vermutlich nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet jemand wie ich dieses Rätsel lösen wollen würde."
Vorsichtig entnahm er die Phiole dem Sud und öffnete den Verschluss, doch noch bevor er ihn gänzlich aufgeschraubt hatte hielt er inne und erblasste. Taumelnd suchte er sich einen Stuhl.
„Was ist mit dir?" Besorgt stürzte Lútholwen zu ihm und half ihm dabei sich zu setzen. „Ist etwas nicht in Ordnung?"
Obwohl Pallando bereits saß war ihm noch immer so schwindlig und schlecht, dass er glaubte vom Stuhl zu fallen. „Wäre ich darauf vorbereitet gewesen das vorzufinden, was in dieser Phiole steckt, dann..." Er schüttelte den Kopf und starrte ungläubig auf die winzige Flasche.
„Was befindet sich denn darin?" Lútholwen schien vor Neugier zu platzen und rückte Pallando immer näher.
„Das Wissen um die mächtigste Waffe der Welt", flüsterte Pallando tonlos. „Die allermächtigste. Ich muss die Phiole vernichten!"
Er sprang auf und wollte davoneilen, doch Lútholwen klammerte sich krampfhaft an seine Beine.
„Tue das nicht! Alatar sucht so angestrengt nach einer Möglichkeit, Sauron zu vernichten oder ihn zu schwächen. Wie kannst du da die mächtigste Waffe der Welt vernichten wollen?"
„Weil es sich hierbei nicht um eine Waffe gegen Sauron handelt", erwiderte Pallando leise, „sondern um eine Waffe, die Ilúvatars Pläne zerstören wird."
Lútholwens Augen weiteten sich und bekamen einen seltsamen Glanz. „Bist du dir da ganz sicher?", fragte sie.
Pallando zögerte. „Mein Kontakt mit dem Inhalt der Phiole war nur kurz, aber... eigentlich... "
„Dann solltest du zunächst an ihr forschen! Vielleicht irrst du dich und in ihr steckt doch ein Mittel gegen Sauron!"
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Legolas saß auf einem Baum und betrachtete scheinbar unmotiviert seine Fingernägel, doch unter seinen halb geschlossenen Augenlidern musterte er immer wieder unauffällig den Horizont, die fünf Avari in den Bäumen neben ihm und hin und wieder auch Agarmaethor, Gimli und Talfbenn, die gemeinsam hinter der zweiten Feuerwand warteten.
Obwohl ihn die Frage beschäftigte, ob die Entfrauen in den Kampf eingreifen würden, und obwohl er sich Gedanken um Agarmaethors Bruch mit ihm machte, fühlte er sich ruhig und ausgeglichen – ein Zustand, der ihm sein Überleben sichern konnte. Nichts war gefährlicher, als aufgeregt und unkonzentriert in den Krieg zu ziehen.
Seine Blicke schweiften immer öfter zum Horizont. Die Rauchsäule der ersten Feuerwand wurde vom Wind zerrissen und davon getragen. Leise Geräusche drangen an sein Ohr, Geräusche des Kampfes. Lange würde es nicht mehr dauern, bis die Sangwa das erste Schlachtfeld verlassen und zur zweiten Feuerwand eilen würden... wenn Elrohir denn Recht behalten sollte.
Legolas war sich nicht ganz so sicher, ob die Überheblichkeit der Sangwa sie tatsächlich zu ihnen bringen würde. Aber er hatte sich ebenso wenig an der Ausarbeitung des Planes beteiligt wie an dem Aufbau der Fallen und der Feuerwände. Kritik stand ihm deshalb nicht zu. Daher wartete er geduldig und beobachtete die wachsende Nervosität Agarmaethors.
Sie war überhaupt nicht mehr mit der Person zu vergleichen, die er vor einigen Monaten westlich des Nebelgebirges kennengelernt hatte, und obwohl oder vielleicht auch gerade weil er ihren Wandel miterlebt hatte, fühlte er sich ihr so nahe, dass er wusste, wie wenig ihre Nervosität mit der Schlacht selbst und ihrer Aufgabe als Krieger zu tun hatte. Sie fürchtete um die Personen, die ihr ans Herz gewachsen waren – vielleicht sogar zum ersten Mal - denn nie zuvor war sie Teil einer echten Gemeinschaft gewesen, die gemeinsam lachte und gemeinsam litt.
Gimli hingegen war die Ruhe selbst. Ungeachtet der nahenden Schlacht unterhielt er sich lebhaft mit Talfbenn, welcher sich nach seiner anstrengenden Spähertätigkeit noch eine kurze Pause hatte gönnen wollen, und deshalb nicht an der ersten Feuerwand kämpfte.
Die Zeit verging, und Legolas musterte wieder aufmerksam die Krümmung des Flusses. Die Kampfgeräusche waren verhallt, und eigentlich hätte er die Sangwa bereits sehen müssen. Aber sie waren nicht da. Und ebenso wenig Elrohir, seine Krieger oder Amlugûr, der ihnen von einem Misserfolg hätte berichten sollen.
Dafür hallte der Klang eines Horns durch den Wald und übermittelte den Wartenden die Botschaft vom Scheitern der Abwehr.
Gequält schloss Legolas einen Moment lang die Augen. Was nun geschehen würde, wusste wohl niemand... aber an die Hallen von Mandos wollte er deshalb noch lange nicht denken.
„Auf dem Fluss bildet sich ja Eis!", riss Talfbenn ihn aus seinen Gedanken.
Verwundert starrte er auf die dünne Kristallschicht, die sich nur wenige Minuten zuvor noch nicht dort befunden hatte, doch ein weiterer Klang des Hornes lenkte ihn ab.
„Kann es denn noch schlimmer kommen, als dass unser Abwehrplan gescheitert ist?", hörte er Gimli brummen.
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„Es ist warm! Nein, es ist heiß!"
Rufur schwieg. Bisher hatte sich Haunar gut gehalten, hatte nicht gejammert, nicht geklagt und vor allem hatte er sich aktiv an der Nahrungssuche beteiligt. Doch nun, nachdem sie bereits mehr als sieben Tage lang in eisiger Kälte unterwegs gewesen waren und dabei immerhin beinahe dreihundert Meilen zurückgelegt hatten, begann er nachzulassen.
Fieber hatte ihn ergriffen, und es nutzte überhaupt nichts ihm zu sagen, ob es kalt, nass, Tag oder Nacht war. Haunar hatte seine eigene Wahrnehmung entwickelt und war nicht von ihr abzubringen.
„Halte durch, Freund!", versuchte Rufur schließlich ihn aufzumuntern. „Siehst du da vorne am Horizont die Hochebene? Morgen Abend, morgen Abend befinden wir in Sicherheit! Keine kalten Winde und vielleicht finden wir dort auch etwas Nahrung und Waffen."
„Meinst du, die Zwerge dort werden uns freundlich aufnehmen?", wimmerte Haunar.
Rufe seufzte leise. Es gab keine Zwerge mehr in der Zwergenstadt. Sie war bereits vor langer Zeit verlassen worden. Seine eigenen Ur-ur-ur-Großeltern oder vielleicht sogar Eltern mit noch sehr viel mehr 'Urs' davor, hatten einst dort gelebt.
Viel wusste er nicht von all dem Geschehen dort, aber er wusste, dass die überstürzte und unorganisierte Flucht der Zwerge nur ein Anfang gewesen war, der Anfang vom Rat der vier Könige und Bizar-kûn als Berater.
„Sicher werden sie das tun. Es sind Zwerge!", erwiderte er Haunar. Es war ohnehin gleichgültig, ob er log oder die Wahrheit sprach. Haunar hörte nur, was er hören wollte.
„Aber was wäre, wenn sie ebenso dunkel geworden wären wie einst die Elben hier?" Haunars Fieber verstärkte seine Ängste und ließ ihn Fakten verzerrt verstehen.
„Kein Zwerg ist jemals dunkel geworden, Freund!" Rufur blieb ruhig und zerrte dabei Haunar wieder auf die Beine, als dieser sich auf dem gefrorenen Boden niederlassen wollte. „Wir sind stur, zäh, hartnäckig und haben immer unseren eigenen Willen gehabt. Nicht einmal der Herrin der Grünaugen ist es jemals gelungen unser Volk zu zerstören! Und dabei hat sie sich lange Zeit mitten unter uns befunden und uns ihren Willen einzuflüstern versucht."
„Warum machst du mir Angst? Hier sind keine Grünaugen!", rief Haunar empört. „Aber wenn DU Angst hast, dann sollten wir eilen! Siehst du nicht am Horizont die verlassene Zwergenstadt? Komm!"
Energisch packte Haunar den verblüfften Rufur am Hemd und zog ihn Richtung Hochebene.
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Mit gezücktem Schwert hastete Elrohir durch das Dickicht des Waldes. Seine Befürchtung, dass ein Großteil der Avari den Richtungswechsel der Sangwa als Flucht verstehen würde und ihnen deshalb folgte um sie im Wald jagen zu können, hatte sich bestätigt.
Aber die Sangwa flohen nicht. Sie durchkreuzten nur die Pläne der Elben – NUR.
Etwas verbittert zwang sich Elrohir zu einem Lächeln. Ein Lächeln konnte nie schaden. Er jedenfalls fühlte sich danach immer besser, und als er Vorondas Horn hörte, fiel es ihm auch etwas leichter. Elladan trug es bei sich und hatte damit nicht nur die Krieger an der zweiten Feuerwand warnen können, sondern ihm zu verstehen gegeben, dass er noch am Leben war.
Mit lauten Rufen versuchte Elrohir seine Krieger zu sammeln und sie nicht planlos umher laufen zu lassen, nur damit sie vielleicht irgendwo im Gestrüpp einige Einzelkämpfe gewannen und dabei in die Arme von neu gruppierten Sangwa liefen. Er riskierte dabei, die Aufmerksamkeit der Sangwa zu erregen und schlug deshalb Haken wie ein Hase.
Eine hohe Eiche versperrte ihm den Weg. Efeu rankte sich um ihren Stamm und bot mit seinem satten Grün einen ungewohnt erfrischenden Anblick zwischen all den winterlich entlaubten Geästen und dem fallenden Schnee. Er wollte sie umrunden, doch kaum hatte er seine Richtung geändert, prallte er mit seinem Kopf gegen die Füße Sangwa.
Im ersten Moment konnte er es kaum fassen, dass es die Schuhe eines Sangwa gewesen waren, die ihm eine kleine Platzwunde über seinem rechten Auge zugefügt hatten, doch als er einige Schritte zurückwich, nahm er zu seinem größten Erstaunen wahr, dass der Sangwa stranguliert am Baum hing – stranguliert durch den Efeu.
Elrohir hatte keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen, denn das Surren eines Pfeils ließ ihn zur Seite schnellen und sich in einem Gesträuch verbergen. Doch die Sorge war umsonst gewesen. Der Pfeil verfehlte ihn zu seinem Erstaunen um mehrere Fuß. Dass ein Sangwa so schlecht mit dem Bogen umgehen konnte, hatte er nicht erwartet.
Hastig versteckte er sich an einem sicheren Platz und wartete darauf, dass sein Angreifer sich durch eine falsche Bewegung zu erkennen gab, doch jener rührte sich nicht. Minuten vergingen bis sich Elrohir dazu entschloss, die den Sangwa seinerseits zu suchen und zu beseitigen.
Lautlos bewegte er sich durch das Gestrüpp und blieb wie versteinert stehen als seinen Gegner mit gebrochenem Blick in einem Erdloch vorfand – festgehalten durch Wurzeln und Ranken.
Ein leises Knacken in einem Gebüsch ließ ihn erschrocken herumfahren. Noch nie war er so angespannt gewesen, wie in diesem Moment. Die Sangwa, die sich ebenso lautlos durch den Wald bewegten wie die Avari und die Elben, stellten eine so große Gefahr dar, dass er eigentlich jedem Geräusch hätte dankbar sein müssen, doch er war es nicht.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und ließ sein Herz rasen.
„Ich bin es nur!", flüsterte ihm Maethrim ins Ohr. „Ich bin unterwegs zur zweiten Feuerwand, um unseren Kriegern dort Bescheid zu geben."
Elrohir hatte keine Zeit um zu fragen, warum nicht Amlugûr diese Aufgabe erfüllte, denn ein weiterer Pfeil verfehlte ihn nur knapp. Er sah in die Richtung, aus welcher der Schuss gekommen war, und sah einen Sangwa im Gebüsch verschwinden... einen Sangwa mit einer Strieme im Gesicht, die ihm nur eine Gerte zugefügt haben konnte.
Beinahe triumphierend wandte sich Elrohir Maethrim zu, erstarrte jedoch, als der jenen mit durchbohrter Brust am Boden liegen sah. Bestürzt beugte er sich über ihn.
„Lächle, Freund!", flüsterte er traurig. „Dann wird man dich in Mandos' Hallen freundlicher empfangen."
Er wusste nicht, warum er solch einen Unsinn redete, denn für Maethrim würde es vermutlich wie Unsinn klingen, doch dieser lächelte tatsächlich und entlockte Elrohir damit einen salzigen Kristall.
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Der zweite Klang des Hornes ließ Legolas frohlocken. Für ihn hatte er nur eine Bedeutung: Die Entfrauen hatten sich zu dem Handel mit ihm entschlossen und leisteten nun ihren Beitrag. Wie anders wäre es sonst zu erklären, dass er von seinem Baum aus mehrere Sangwa zurück zum Fluss stolpern sah?
Behände glitt er vom Baum und gesellte sich zu Gimli, Agarmaethor und Talfbenn, die mit Erstaunen beobachteten, wie sich die Sangwa sammelten und dabei offenbar zu einem Angriff rüsteten.
„Keine hundert zähle ich!", sagte Talfbenn befriedigt. „Unsere Krieger haben gute Arbeit geleistet!"
Legolas lächelte und sagte nichts.
„Siehst du den Sangwa mit dem Bären auf der Rüstung?", fragte Agarmaethor ihn leise. Ihr Atem streichelte dabei sein Ohr. „Er steht ungeschützt, weil er die Reichweite deines Bogens unterschätzt."
„Das denke ich auch", schmunzelte Legolas. „Führerlos – aussichtslos!"
Sein Pfeil schnellte von der Sehne und durchbohrte den Hals des Bärenkriegers, doch dessen Tod erfüllte nicht den erwünschten Zweck. Die Sangwa verstanden diesen Angriff eher als Anreiz auf Gimli und die Elben einzustürmen. Nicht einmal von den Stolperfallen auf dem Boden ließen sie sich aufhalten, obwohl diese große Lücken in ihre Deckung aus aneinander gereihten Schilden rissen und den Avari in den Bäumen dadurch Blößen offenbarten, die diese mit ihren Bögen gnadenlos auszunutzen verstanden.
Die Elben verschossen ihre Pfeile, bis ihre Gegner so nahe waren, dass sie sie mit der Hand in den Körper rammen konnten. Gimli stürzte sich in die Masse und begann in ihr zu wüten, so gut er nur konnte. Seine Axt zertrennte das braune Leder der Rüstungen, zerstörte Bögen und Schilde und fügte den Sangwa heftig blutenden Wunden zu. Einige von ihnen taumelten ungewöhnlich schnell zurück. Das Pfeilgift schien seine Wirkung zu entfalten, und doch war der Ansturm gewaltig.
Agarmaethor konnte sich nicht daran erinnern, jemals so sehr bedrängt worden zu sein. Immer hatte es kurze Atempausen gegeben, um sich einmal umschauen zu können und den Überblick über die Lage zu bewahren. Doch während dieser Schlacht konnte sie nichts mehr wahrnehmen. Sie sah nicht, wie Gimli einen Schlag auf den Kopf erhielt und taumelte, sodass er von Legolas geschützt werden musste, um sich wieder fangen zu können. Sie hörte nicht, wie die fünf Avari auf den Bäumen schrien, als diese in Brand gesetzt wurden. Sie bemerkte nicht einmal, wie Talfbenn neben ihr in die Knie ging und zum letzten Mal im Leben den Namen seiner Liebsten flüsterte.
Sie sah nur glänzendes Metall und grüne, hasserfüllte Augen, hörte nur die Schreie und den Klang kalter Zerstörung, roch nur das Leder der Rüstungen und das Blut, das viele Blut und geriet dabei in einen Rausch, der ihr dabei half, so viele Gegner wie nur möglich mit in den Tod zu reißen.
Gnadenlos hieb sie dabei um sich und verdrängte dabei, wie ihre Bewegungen immer schwerfälliger wurden, wie sie ihr Bein nachzog, weil ein Klinge es durchbohrt hatte, und wie ihre Arme langsam ermatteten, zu schmerzen begannen und schließlich kaum noch in der Lage waren ihre Schwerter zu führen.
Irgendjemand entriss ihr schließlich ihre Waffen und drückte ihr stattdessen einen Dolch in die Hand – viel leichter und wendiger zu führen – und sie nutzte die Gelegenheit, um ihn einem Sangwa in die Seite zu rammen. Wieder, wieder und immer wieder.
„Er ist bereits tot!"
Sie fühlte, wie jemand sie schüttelte, fort zerrte und in eisiges Wasser warf. Die Kälte brannte auf ihrer Haut, fraß sich in ihre Glieder, befreite sie aber von dem Rausch.
„Komm, ich helfe dir!", erklang Legolas' weiche Stimme. Sie sah zu ihm auf und fühlte, wie seine Hände ihre Schultern ergriffen und sie wieder an Land zogen. „Es ist vorbei", flüsterte er ihr beruhigend ins Ohr und hüllte sie in eine warme Decke. „Wir haben gesiegt – wenn auch unter hohen Verlusten."
Agarmaethor sagte nichts. Sie wich nur seinem Versuch sie zu umarmen aus und kroch zu einem Baum, um sich erschöpft an seinen Stamm zu lehnen. Elladan näherte sich ihr und versorgte ihre Stichwunde am Bein.
„Wo ist Amlugûr?", fragte sie besorgt.
„Wir... haben ihn noch nicht gefunden." Elladan quälte sich die Worte über die Lippen.
Es dauerte einen Moment, bevor Agarmaethor realisierte, was er soeben gesagt hatte. Taumelnd erhob sie sich, um selber nach ihm zu suchen, blieb dann jedoch geschockt stehen und betrachtete das Schlachtfeld.
So ein Anblick war ihr nicht neu. Irgendwie ähnelten sich alle Schlachtfelder: unzählige Leichname, die den Boden bedeckten, bis er selbst kaum noch zu erkennen war, Blut durchtränkte Kleidung, die den Gestank des Todes verbreitete, und überall Gesichter, in die noch immer der vergangene Schmerz geschrieben stand.
Und obwohl sie diesen Anblick kannte, empfand sie ihn als fremd und widerwärtig. „Ich kann nicht mehr!", flüsterte sie. „Ich kann nicht mehr Krieger sein. Ich ertrage das nicht länger!"
Agarmaethor wandte den Blick von der tauenden Eisdecke ab, die die Körper ertrunkener Sangwa freigab. Seilschlingen hatten sie unter Wasser und dabei auch unter das Eis gezogen. Die Fallen waren dafür vorgesehen gewesen zu verhindern, dass jemand durch den Fluss hinter die zweite Feuerwand und damit zur Hügellandschaft der Entfrauen gelangte. Dass das Eis dabei zu einer tödlichen Falle werden würde, hatte niemand vermutet.
Der Schnee war vermutlich echt. Die dunklen Wolken reichten bis zum Horizont. Und doch bedurfte es keiner Erklärung, um die Unnatürlichkeit es Eises zu erkennen. Viel zu schnell hatte es sich gebildet und viel zu schnell taute es wieder.
Und es bedurfte auch keiner Erklärung, um zu begreifen, wie die Sangwa an dem Gift in ihren Wunden zugrunde gegangen oder an den Verletzungen verblutet waren, die ihnen Dornen und peitschende Zweige zugefügt hatten.
Elben machten selten Gefangene. Was hätten sie hier im Entwald auch mit ihnen tun sollen? Und so war der Sangwa, der nicht hatte fliehen können, tot.
Agarmaethor fragte nicht danach, wie genau die Schlacht beendet worden war. Nur zu gut verstand sie, dass Elrohir und sein Gefolge nur noch hatten ernten müssen, was bereits von dem Gift und den Entfrauen gesät worden war – wenn auch unter bitteren Verlusten.
Talfbenn war tot... und auch Maethrim hatte sein Leben lassen müssen, ebenso Menel und elf weitere Krieger der Avari... und Amlugûr wurde vermisst.
Unendlich viele, salzige Kristalle würden die Blumen auf ihren Gräbern benetzen.
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Odan konnte ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken, als er die Leichen von mehr als einhundert Grünaugen, verstreut auf der Ebene unmittelbar vor einem niedergebrannten Wald vorfand.
„Nur dunkles Blut, das heißt, sie haben sich gegenseitig abgeschlachtet!", lachte sein Gefährte Gemoor und trat mit dem Fuß gegen einen Toten, um ihm damit seine Verachtung zu zeigen. „Zu gerne würde ich wissen, was sich hier genau abgespielt hat."
Odan nickte. Er dachte an die zwei Herrn der Grünaugen. Hatten diese sich vielleicht zerstritten? Verfolgten sie nun unterschiedliche Interessen?
Er stieg er vom Pferd und untersuchte den Boden, aber die dünne Schneeschicht bedeckte alles, was vielleicht noch zu erkennen gewesen wäre.
„Sucht nach einem der beiden Handlanger!", forderte er seine Gefährten auf und begann gemeinsam mit ihnen jeden Leichnam auf den Rücken zu drehen, um die Rüstung mit dem wilden Wolf oder dem wilden Bären darauf zu finden, doch die Suche blieb erfolglos.
Odan runzelte die Stirn. Ihm waren die Machtverhältnisse der Grünaugen zu unbekannt um zu wissen, ob die beiden Heerführer sich gegenseitig abgeschlachtet hätten. Vielleicht lebten sie auch viel lieber mit dem Gefühl der Genugtuung, den anderen unterworfen zu haben?
Nachdenklich schweifte sein Blick am Horizont entlang und blieb an zwei dunklen Punkten hängen, die sich eilig nordwärts bewegten. Einen von ihnen vermochte er noch als Reiter mit langem, wehendem Haar zu erkennen. Und der andere...
„Sie sind hier!", flüsterte er aufgeregt. „Die Elben und die Dunkelhaarige sind hier! Ich sehe einen von ihnen Wild jagen!"
Überrascht sahen sich die drei Zwerge an.
„Aber der Jäger kehrt mit seinem Wild gar nicht zurück!", stellte Gemoor fragend fest. Tatsächlich verkleinerten sich die Punkte, bis die Zwerge sie nicht mehr erkennen konnten. „Wollen wir ihnen folgen?"
Odan zögerte. Seine Neugier war geweckt worden, aber was nutzte ihm dieser eine Elb, der womöglich wirklich nur erfolglos ein Reh verfolgte?
„Wenn die Grünaugen sie nicht bereits ergriffen haben, dann wird sich die Dunkelhaarige zur Hochebene begeben", sagte er langsam und nachdenklich. „Sie muss dorthin, um eine neue Vision zu empfangen. Wenn wir vor ihr dort sein sollten, wären wir vorbereitet und könnten vielleicht wirklich erfolgreich sein... und sie töten... "
Seine eigenen Worte waren ihm nicht ganz geheuer. Jeden Tag dachte er darüber nach, ob es wirklich richtig war, die ihm gestellte Aufgabe zu erfüllen. Vielleicht tat er der Dunkelhaarigen Unrecht? Vielleicht taten auch die Könige und Bizar-kûn ihr Unrecht?
Seine Zweifel nagten so sehr an ihm, dass sie ihm bereits den Schlaf raubten, aber zu einem Entschluss war er bisher noch nicht gekommen. Die Furcht davor, dass er, ein einfacher und einfältiger Krieger, einen nicht mehr zu korrigierenden Fehler begehen könnte, war zu groß.
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„Agarmaethor!" Mithlondion versuchte sie mit seiner Stimme zu erreichen. „Agarmaethor, er ist nicht mehr hier! Er ist wirklich fort! Sein Pferd, sein Gepäck, alles ist weg."
Verstört stolperte Agarmaethor über die Arme und Beine der Toten, und obwohl sie wusste, dass er sich nicht unter ihnen befand, suchte sie nach Amlugûr, wollte nicht hören, was ihr die Elben der Gemeinschaft zu sagen versuchten, wollte die schmerzende Wahrheit nicht wahrhaben.
„Warum sollte er so etwas tun? Warum sollte er denn gehen?", fragte sie immer wieder tonlos. „Und uns hier im Kampf zurücklassen? Er ist niemand, der einfach so vor dem Tod fliehen würde, selbst wenn er ihn hier vorherzusehen glaubte!"
„Er war kein Feigling! Ich sah ihn noch kurz vor Ende der Schlacht hier kämpfen", erklärte Elladan tröstend. „Vielleicht jagt er den Sangwa mit dem Wolf auf der Rüstung? Auch diesen haben wir nicht finden können."
„Mit Gepäck und Pferd?" Agarmaethor begann die Wahrheit zu begreifen. „Im Wald?"
Minutenlang starrte sie zum Horizont und rührte sich nicht. Die Erinnerungen an ihr Gespräch mit Amlugûr vor der Schlacht und das Versprechen, welches sie ihm hatte geben müssen knüppelten die Wahrheit in sie hinein: Amlugûr war gegangen.
Warum nur? Hatte er die Gemeinschaft nicht mehr ertragen können? Oder hatte er vielleicht SIE nicht mehr ertragen können? Ihr ständiges Weinen, Klammern und ihren damit verbundenen Bedarf an Trost? Aber eigentlich wäre es doch viel eher seine Art gewesen, ihr das zu sagen und nicht einfach so zu verschwinden...
Hatte er sie vielleicht einsam machen wollen, um sie zurück in Legolas' Arme zu treiben? Aber sie war nicht einsam – ob nun mit oder ohne Legolas und Amlugûr. Ihr Verlust schmerzte ungemein, aber die Gemeinschaft um sie herum gab ihr genügend Nähe.
Oder hatte er ihr jetzt, nach ihrem Bruch mit Legolas, die Möglichkeit einräumen wollen, endlich einmal nur für sich zu stehen und unabhängig und unbeeinflusst Entscheidungen treffen zu können, die allein sie betrafen und bei denen sie keine Rücksicht auf Personen nehmen musste, die ihr sehr nahe standen?
Die Möglichkeit! Allein diese eingeräumte Möglichkeit!
Aber sie hatte ihre Entscheidung bereits getroffen: Sie wollte nicht mehr der Krieger sein, der sie einst gewesen war.
Und diese Entscheidung hatte sie nicht nur aufgrund der inzwischen gefundenen Einsicht getroffen, wie unmöglich es war, nach all den einschneidenden Ereignissen vor zehn Monaten an ihrem Kriegerdasein uneingeschränkt festhalten zu wollen – nein, diese Entscheidung hatte ihren Grund vor allen Dingen in ihrem Wunsch gefunden, die zu werden, die sie früher, vor langer, langer Zeit einmal gewesen war: eine Elbenfrau.
Doch gerade weil sie sich an diese Zeit nicht mehr erinnern konnte und gerade weil sie nicht wusste, ob sie ihre Erinnerungen wirklich jemals zurück erhalten würde, wollte sie den Weg zu ihrem Ziel nicht allein gehen, sondern jemanden an ihrer Seite wissen. Und dieser 'jemand' sollte ihr nicht den Weg ebnen oder gar die Richtung weisen, sondern ihr seine Hand reichen, um sie davor zu bewahren zu straucheln und um ihr die nötige Kraft zu schenken...
... so wie Legolas es gerade tat.
Sie fühlte seine Hand in ihrer, fühlte, wie seine Wärme ihre durchfrorenen Finger durchströmte, und nur zu gerne hätte sie nachgegeben und sich an ihn gelehnt. Aber dafür war es noch zu früh...
Agarmaethor entzog sich Legolas und ballte ihre Hände entschlossen zu Fäusten.
„Befreien wir den Fluss von den Toten! Verbrennen wir sie anschließend! Wir müssen uns bei den Entfrauen bedanken, unsere Sachen packen und weiterreisen. Weswegen steht ihr hier alle noch herum? Wegen mir etwa?" Ihre Augen blitzten. „Ich kann auch ohne Amlugûr... Ich werde auch ohne Amlugûr zurecht kommen!"
Überraschte Blicke trafen sie, doch dann machte sich jeder an die Arbeit. Auch sie griff mit zu, zerrte einen Sangwa aus dem Wasser und schleppte ihn zu dem Ort, der in wenigen Stunden zum Scheiterhaufen von beinahe zweihundert Toten werden würde.
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