Hiho, ihr Lieben,

vielen Dank für die lieben Reviews. knuddel Ich gebe mir Mühe mit dem Tempo, aber in nächster Zeit wirds eng. Kann sein, dass ich mich dann mal um ein paar Tage verspäte. Ich hoffe aber, dass ich das vermeiden kann. :)

Viel Spaß dann mit dem Kap

Euer Kampfzwerg

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Von Freunden und Freunden

Überglücklich schmiegte Odan sich an das hohe Felsmassiv, schnupperte am Gestein und ließ seine Hände liebevoll darüber gleiten.

Endlich! Endlich wieder Berge!

Obwohl dieses Hochplateau nicht annähernd mit seiner Heimat vergleichbar war, so bestand es doch aus Steinen und Erzen, die er seit Beginn seines Rittes vor inzwischen mehr als vier Monaten nicht mehr hatte fühlen, sehen oder gar riechen dürfen. Und obwohl sich diese Berge inmitten der ihm inzwischen verhassten, öden Ebene befanden, wiesen sie doch bereits den selben Rot-Ton auf, den auch die Felsen seiner Heimat besaßen.

„Komm!" Dolgis Aufforderung riss Odan aus seinen Träumen. „Wir müssen den Aufgang suchen, bevor die Sonne untergegangen ist."

Seufzend löste Odan sich wieder von der Felswand und folgte seinen Gefährten. Sehnsüchtig schaute er dabei an den Horizont und versuchte, einen Blick auf das Rote Gebirge zu erhaschen, welches bisher mehr zu erahnen als zu sehen war.

Noch war die Heimat weit entfernt, und doch war sie bereits zum Greifen nahe, denn der Aufgang, den er mit seinen Gefährten suchte, würde sie zum Zugang in das Innere des Felsens führen, zum Zugang in die alte Zwergenfestung Gabil-zahâr – der früheren Ansiedlung der Schwarzlocken.

Mehr Heimat konnte Odan sich in diesem Moment nicht wünschen, obwohl die Festung tot und verlassen war und viele grausame Erinnerungen in sich barg, weil die vier Zwergenvölker des Ostens hier ihrem verkörperten Verhängnis begegnet waren: Lútholwen.

Odan kannte all die Geschichten, die sich um ihre Person und um ihre Missetaten rankten, und so wusste er auch, wie sie den Ostlingshorden den Zugang nach Gabil-zahâr gezeigt und damit der alten Ostlingslegende von zwergischer Magie ein Ende gesetzt hatte.

Magie! Zwerge beherrschten keine Magie!

Doch die Erschaffung geheimer und scheinbar unsichtbarer Türen oder Stufen hatte viele Gerüchte geschürt und den Ostlingen lange Zeit Respekt eingeflößt, weil die zwergischen Krieger diese Türen genutzt und oftmals wie aus dem Nichts erschienen und über die Anhänger Saurons hergefallen waren. Vermutlich hatte auch die Existenz der mit den Elben gemeinsam geschaffenen Tür nach Khazad-dûm zu diesen Gerüchten beigetragen.

In Wirklichkeit jedoch handelte es sich dabei um Meisterwerke, deren Herstellung beinahe des gesamten Wissens und der gesamten Fertigkeiten zwergischer Steinmetze bedurft hatte.

So waren die Stufen nach Gabil-zahâr äußerst geschickt in den Stein geschlagen worden und gaben ihre Existenz allein durch einen verräterischen Schatten preis, den sie einmal am Tag für nur kurze Zeit warfen. Und auch die Tür nach Gabil-zahâr war nicht magisch – auch wenn sich kein Mensch und vermutlich auch kein Elb erklären konnte, wie genau sich die Tür auf das Aussprechen eines bestimmten Wortes hin öffnen konnte, ohne dabei magisch zu sein.

Aber Zwerge gaben ihre Geheimnisse nicht weiter! Nicht einmal ihre eigene Sprache gaben sie freiwillig weiter, und so war das Losungswort für die Tür nach Gabil-zahâr auch nicht in Khuzdul und deshalb für beinahe jeden zu erraten, der sich ein wenig mit dem Rätsel auf der großen Steinplatte beschäftigte.

Odan kannte dieses Wort, auch ohne sich das Rätsel überhaupt angesehen zu haben. Jeder Zwerg der vier Ostvölker kannte dieses Wort, und doch zögerte er, als er vor der Steinplatte stand. Er zögerte, weil er mit einem Blick erkannt hatte, dass sich die Platte vor nicht allzu langer Zeit bewegt hatte.

Nachdenklich sahen sich die vier Zwerge an.

„Und wenn Rufur und Haunar hier waren?", fragte Dolgi leise. „Wir haben seit unserem überhasteten Aufbruch am Meer von Rhûn nie wieder etwas gehört..."

„Das wäre beinahe zu schön um wahr zu sein", seufzte Odan, wartete auf ein aufforderndes Nicken seiner Gefährten und flüsterte hoffnungsvoll Lösungswort des Rätsels.

Mit einem leisen Knirschen und Kratzen bewegte sich die Platte und schob sich zur Seite. Angespannt hielten die Zwerge dabei den Atem an und starrten auf die beinahe senkrecht abwärts führenden Stufen in die ihnen so unbekannte Dunkelheit von Gabil-zahâr.

„Odan?", erklang es beinahe wimmernd aus der Finsternis. „Hilf uns!"

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Sorgenvoll schaute Alatar in die dunkle Nacht. In den letzten Monaten hatte er viel Zeit auf dem Felsen hoch über dem Eingang zu seiner Höhle verbracht, um sich dort Gedanken über seine Zukunft zu machen, und auch jetzt grübelte er und erinnerte sich dabei immer wieder an seinen Streit mit Pallando.

Pallando hatte Recht, wenn er den Plan zur Erschaffung eines Heeres gegen die Ostlinge für fragwürdig hielt. Alatar wusste, dass er sich tatsächlich sehr nahe an der Grenze dessen bewegte, was recht und billig war um Sauron zu vernichten.

Aber diese Grenze war nicht überschritten, denn anders als Pallando glaubte Alatar nicht mehr an das Gute im Osten und schon gar nicht glaubte er daran, mit Worten noch viel erreichen zu können. Dafür kannte er die Menschen viel zu gut - viel besser, als Pallando, der ihm immer Desinteresse und Ignoranz für die Wünsche und Bedürfnisse der Völker Mittelerdes vorgeworfen hatte, es vermutete.

Dabei war Pallando es gewesen, der sich nicht mit den Völkern befasst hatte. Nicht eine Minute lang hatte er versucht, wie die Menschen im Osten zu leben, mit ihnen zu trinken, zu essen, zu rauchen, zu tanzen oder gar Frauen zu berühren. Nicht eine Sekunde lang hatte er auch nur darüber nachgedacht, einmal mit den Menschen zu fühlen und nachzuempfinden, was in ihnen vorging, wenn sie sich dem Alkohol hingaben oder der Goldrausch sie packte.

Er selbst jedoch hatte es versucht: geraucht, getrunken... alles hatte er getan, um die Lebensgewohnheiten der Menschen kennen zu lernen. Und dabei hatte er bemerkt, wie die Bedürfnisse gewachsen waren und sich beinahe in eine Gier nach Dingen gesteigert hatten, die ihm nicht täglich zur Verfügung standen.

Natürlich war das allein nicht verwerflich! Ein Elb oder Mensch im Westen würde sicherlich auch nicht freiwillig auf dem kalten Boden schlafen und sich damit zufrieden geben, wenn er wusste, dass sein Nachbar in einem Federbett ruhte.

Doch die meisten Menschen hier im Osten schienen sich nicht um eine Verbesserung ihrer Lebensumstände zu bemühen – jedenfalls nicht auf ehrliche Weise - und DAS war es, was Alatar ihnen vorwarf.

Lieber warteten sie auf bestechende Geschenke Saurons und raubten in der Zwischenzeit harmlose Wanderer oder Händler aus.

Hätte sich Pallando auch nur eine Sekunde lang wirklich ernsthaft mit der Lebenseinstellung der Menschen befasst, dann hätte er erkannt, dass man sie nur durch bessere Geschenke als jene Saurons auf die Seite des Westens ziehen konnte.

Aber wie lange würde man sie beschenken müssen, um sich ihre Treue zu sichern? Sauron war vor kaum mehr als eintausend Jahren besiegt worden, ohne dabei jedoch endgültig zu verschwinden. Wann würde er wiederkommen? Morgen? In einigen Monaten? Vielleicht erst in zweitausend Jahren? Wie viele Rohstoffe und Gold würde man den Menschen des Ostens zahlen müssen und wer sollte diese Leistungen erbringen?

Nein! Es gab nur eine Möglichkeit, dem Westen zu Hilfe zu eilen: Man musste die Menschen hier vernichten. Und auch die Avari...

Jene würden sich zwar vermutlich nicht freiwillig Sauron anschließen, aber ihre Existenz allein stellte bereits eine Gefahr für den Westen Mittelerdes dar, denn lange Zeit hatte sich Morgoth ihrer bedient, um aus ihnen Orks zu züchten, die sich nun im Nebelgebirge festgesetzt hatten. Sauron würde dem Beispiel seines Herrn folgen und sich ebenfalls der Avari bedienen, um seine Armeen zu stärken.

Allein deshalb durfte man Sauron die Avari nicht überlassen, und da jene sich nicht helfen lassen wollten und sie unbelehrbar und uneinsichtig waren, weil ihre Gedanken bereits von Morgoth vergiftet worden waren, existierten nur noch zwei Wege, um sie Sauron endgültig zu entziehen: ihr Tod oder ihre Unterwerfung!

Alatar wollte sie nicht töten. Er hätte auch nicht gewusst, wie er ein solches Vorhaben hätte durchführen können, ohne sich dabei näher mit den Menschen einzulassen, die er so sehr verabscheute. Seine Pläne waren umfassender: Er wollte aus ihnen ein Heer züchten, welches dem Saurons standhalten würde. Er wollte sie anführen und mit ihrer Hilfe dem verkommenen menschlichen Dasein im Osten Mittelerdes ein Ende setzen. Sterben konnten die Avari später immer noch!

Und die Zwerge? Die Zwerge bereiteten Alatar Bauchschmerzen. Er hatte keinen sonderlich guten Eindruck von ihnen gewonnen, aber andererseits musste er sich eingestehen, dass er auch noch nie wirklich ein Wort mit einem von ihnen gewechselt hatte... Allein in diesem Fall hatte Pallando Recht. Er hatte sich nicht genug mit den Zwergen beschäftigt, um ohne ein schlechtes Gewissen ihr Todesurteil zu fällen.

Vielleicht... ja vielleicht würde er Pallando dazu bewegen können, sich mit den Kindern Aulës zu beschäftigen? Vielleicht könnte er damit Pallando halten und ihn dazu bewegen, nicht davon zu gehen?

Alatar sehnte sich wirklich nicht nach einer Trennung von seinem langjährigen Begleiter, doch er wollte sich dessen Versagen auch nicht dadurch zu Eigen machen, indem er seinem Beispiel folgte und nichts tat. Er wollte seinen Plan umsetzen!

„Alatar?", erklang plötzlich Lútholwens Stimme und riss ihn aus seinen Gedanken.

Alatar blickte auf und sah in die betroffenen dreinschauenden Augen Lútholwens. Mit einer weichen und beinahe lautlosen Bewegung setzte sie sich neben ihn und sah ihn flehend an.

„Willst du, dass ich Pallando bitte zu bleiben oder warum schaust du mich so bettelnd an?", fragte Alatar.

Beschämt schaute Lútholwen zu Boden. „Ich kann verstehen, dass es besser für euch beide ist, wenn jeder seiner eigenen Wege geht. Vielleicht seid ihr beide getrennt erfolgreicher im Kampf gegen Sauron, denn derzeit hemmt ihr euch nur... denke ich. Aber..." Sie zögerte kurz. „Es ist alles so... kompliziert..."

Unter anderen Umständen hätte sich Alatar überwinden müssen, sie nicht ungeduldig anzufahren, aber ihr Erscheinen auf dem Felsen hatte ihm bewusst gemacht, dass er sie bei all seinen Plänen vergessen hatte. Er hatte nicht daran gedacht, dass sein Vernichtungsschlag gegen die Menschen des Ostens möglicherweise nicht auf ihre Zustimmung treffen würde. Sie war schließlich selber ein Mensch – wenn auch ein westlicher, der nur im Osten aufgewachsen war. Und er hatte nicht daran gedacht, dass sie ihn deshalb verlassen könnte, um Pallando zu folgen. Angst stieg in ihm auf, Angst vor lang anhaltender Einsamkeit.

Vorsichtig legte er seinen Arm um ihre Schultern und zog sie zu sich. „Du kannst mir alles erzählen!", flüsterte er und hauchte ihr einen Kuss aufs Haar.

Lútholwen holte tief Luft. „Pallando verbirgt vor dir das Geheimnis der Phiole. Er forscht noch an ihr – das ist wohl wahr - aber er weiß bereits, was diese Phiole bewirken kann, und das ist von großem Interesse für mich. Doch wenn ihr beide euch trennt, dann wird Pallando die Phiole wohl behalten, und ich werde sie nicht nutzen können, denn ich würde... dir folgen", sagte sie in einem Atemzug.

Alatar sah sie verwundert an. Nichts! Mit keinem Wort hatte sie erwähnt, was sie über seine Pläne dachte und nur zu gerne hätte er nachgefragt, aber die Phiole erschien ihm in diesem Moment wichtiger.

„Was hat es mit ihr auf sich?", fragte er misstrauisch und neugierig zugleich.

„Diese Phiole... sie ist in der Lage, Menschen die ewige Jugend und Unsterblichkeit zu verschaffen", flüsterte Lútholwen aufgeregt.

„Unsterblichkeit?" Alatars Misstrauen blieb. „Bist du dir da sicher? Die Phiole wäre sehr mächtig, wenn sie dazu in der Lage wäre. Wer sollte sie zu diesem Zweck erschaffen haben?"

„Elben!", erwiderte Lútholwen. „Pallando schließt nicht aus, dass derselbe Schmied, der auch die Ringe der Macht erschaffen hat..."

„... diese Phiole erschuf!", beendete Altar ihren Satz. „Dieser Schmied war mit Sicherheit äußerst fähig!" Beinahe schwang ein wenig Ehrfurcht in seinen Worten.

Unsterblichkeit! Mehrfach wiederholte er das Wort in seinen Gedanken. Der Ringschmied hatte mächtige Ringe erschaffen. Sehr mächtige. Was wäre, wenn diese Phiole tatsächlich den Menschen die Unsterblichkeit schenken könnte? Dann...

Alatar konnte es kaum glauben. Endlich! Endlich hätte er einen Weg gefunden, um Sauron auch ohne das Züchten eines Avari-Heeres zu vernichten!

„Was wärt ihr Menschen bereit dafür zu tun?", fragte er beinahe lauernd. „Was wärst du bereit dafür zu tun?"

„ALLES!", erwiderte sie ernst. „Ich würde alles für das Geschenk der Unsterblichkeit tun, und viele andere sicherlich auch. Wir Menschen fürchten uns vor dem Tod, weil wir nicht wissen, was uns dabei erwartet... Ich weiß, dass diese Angst von Morgoth geweckt worden ist und nun von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ich weiß auch, dass sie unbegründet ist, weil die Sterblichkeit ein Geschenk sein soll. Pallando hat mir das oft genug erklärt. Aber die Angst ist nun einmal vorhanden. Ich kann es nicht ändern.

Und neben der Angst quält uns die ungestillte Neugierde! Allein der Gedanke daran, dass ich hier auf Arda etwas verpassen könnte...! All die Pläne, die ich verwirklichen könnte! Jeder Mensch hat irgendwelche Pläne, und die Zeit ist viel zu kurz, um sie alle umsetzen zu können. Sieh dich an! Würdest du in einer menschlichen Lebensspanne ein Heer aus den Avari züchten können?"

Alatar schüttelte den Kopf. In gewisser Weise hatte sie Recht. Die Unsterblichkeit war ein Geschenk, wenn man all die Zeit sinnvoll zu nutzen wusste. Ein Fluch war sie nur, wenn man nichts mehr besaß, womit man sich mit Freude beschäftigen wollte. Er jedenfalls besaß eine Aufgabe. Ihm kam seine Unsterblichkeit sehr entgegen.

„Pallando wird dir die Phiole nicht geben", sagte er leise. „Er wird sie auch mir nicht geben, und das nicht, weil wir uns gestritten haben, sondern weil er an das Gute der Sterblichkeit glaubt! Ich müsste sie ihm rauben oder stehlen."

Die Hitze Lútholwens sich rötender Wangen strahlte ihn an. „Pallando hat sie mir versprochen... für gewisse... Gegenleistungen", flüsterte sie, als offenbare sie ihm ein Geheimnis. „Und diese Gegenleistung habe ich ihm noch nicht erbracht. Deshalb käme es mir sehr entgegen, wenn er noch ein wenig bliebe, bevor ihr euch endgültig trennt und..." Sie zögerte. „Und ich benötige dein Einverständnis für mein Vorhaben, denn ich will dich nicht hintergehen."

Alatar zog die Augenbrauen hoch. „Versprochen? Für eine Gegenleistung?", fragte er kühl. „Welche Gegenleistung ist es wert, dass er seine eigene Überzeugung aufgibt?"

Lútholwen wand sich aus seinem Arm und zog sich ein Stück zurück. „Ich habe einen Fehler gemacht. Ich war zu freundlich zu ihm!", murmelte sie beschämt. „Du hast ihn oft so grob und hässlich behandelt, dass ich ihn ein wenig... getröstet habe... und seit einiger Zeit glaubt er, ich würde mehr für ihn empfinden als nur Freundschaft. Aber das ist nicht wahr!"

„So!", knurrte Alatar. „Getröstet!"

Es hatte ihn bereits geärgert, dass Pallando ihm nicht von dem Inhalt der Phiole berichtet hatte. Er war bereits zornig darüber, dass er ihm ein wichtiges Mittel im Kampf gegen Sauron bewusst und rücksichtslos vorenthalten hatte. Und doch war er nicht erregt aufgesprungen, um Pallando zur Rede zu stellen, denn ihm war bewusst gewesen, dass Pallando nicht rücksichtslos oder hinterhältig gehandelt hatte, sondern allein aus der tiefen Überzeugung heraus, das Richtige für Arda zu tun. Wenn sich jedoch nun bewahrheiten sollte, dass... Seine Augen blitzten Lútholwen an.

„Und?", fragte er eisig.

„Und als ich ihm sagte, dass ich nicht bereit sei, meine... meine Schenkel für ihn zu öffnen und ihm die Unschuld zu schenken, die ich noch nicht einmal dir bisher geschenkt habe, da bot er mir die Phiole an, erklärte mir ihre Bedeutung und Wirkung und schlug einen Handel vor... über vier Wochen!" Wie ein scheues Reh wich sie Alatars entsetztem Blick aus. „Und diese vier Wochen... haben noch nicht begonnen, denn noch habe ich dem Handel nicht zugestimmt. Ich wollte seinen Vorschlag in Ruhe überdenken und dann mit dir sprechen, denn ich wollte dich nicht hintergehen. Aber wenn Pallando jetzt geht, dann..."

„Wie kann er es wagen?", unterbrach Alatar sie zornig. „Wie kann er es wagen, mir die Phiole nicht für den Kampf gegen Sauron zur Verfügung zu stellen und dabei gleichzeitig seine eigenen Prinzipien für nur vier Wochen feuchter Freude mit dir aufzugeben! Was ist ihm denn wichtiger? Sauron oder die Muschel einer Frau?... MEINER FRAU!" Wütend sprang er auf und lief im Kreis umher.

„Deiner Frau?", fragte Lútholwen ganz gerührt.

„Ja, meiner Frau!" Ein hungriger Blick glitt dabei über ihren Körper. „Du wirst dich von ihm nicht berühren lassen! Wir werden diese Phiole gemeinsam holen! Jetzt!" Er packte Lútholwens Handgelenk und zog sie zum Eingang der Höhle. „Pallando, du Hund!", brüllte er dabei.

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Gimli wollte seinen Plan, Legolas und Agarmaethor wieder zusammen zu führen, nicht allein deshalb aufgeben, weil Amlugûr das Weite gesucht hatte oder aber weil Legolas wieder um Agarmaethor warb. Er sah die sehnsüchtigen Blicke, und auch wenn er am liebsten weg geschaut hätte, weil ihm derartige Rührseligkeiten nicht wirklich behagten, so war Legolas doch sein Freund, den er auch in Herzensangelegenheiten nicht im Stich lassen wollte.

Legolas' Wunsch nach einem Beweis seiner Bereitschaft wirklich hinter ihr zu stehen geisterte ihm immer wieder durch den Kopf. Nicht, dass er Agarmaethor oder Frauen überhaupt verstand – so sehr hatte er sich dann doch nicht mit ihnen beschäftigt und gerade Agarmaethor gehörte eindeutig zu den komplizierten Exemplaren – aber er konnte durchaus nachempfinden, dass man dunkle Geheimnisse nicht unbedingt offenbaren wollte, wenn man üble Konsequenzen fürchtete. Und genau diese Furcht galt es ihr zu nehmen... durch eben diesen Beweis.

Tagelang hatte er darüber nachgesonnen, sich gefragt, was eine Frau wie Agarmaethor von seinen Vorschlägen halten würde, aber wer wusste das schon? Auf einen Versuch kam es an!

Als die Gemeinschaft die Hochebene erreicht hatte und in ihrem Schatten rastete, griff er nach Legolas' Tunika und zog ihn ein Stück beiseite.

„Ich habe über dein Problem nachgedacht, über den Beweis, den du ihr erbringen willst. Wenn ich alles richtig verstanden habe, dann verbirgt sie ein Geheimnis und will dir nichts erzählen. Warum machst du nicht den ersten Schritt und beichtest ihr zuerst ein eigenes Geheimnis? Vielleicht machst du ihr damit Mut?"

„Was soll ich ihr denn für ein Geheimnis erzählen?" Legolas seufzte. „Ich wünschte, ich hätte eines!" Er zerrte an seiner Tunika, um sie aus Gimlis Hand zu befreien, der aber hielt fest.

„Jeder hat ein Geheimnis!", knurrte er. „Und wenn du ihr erzählst, dass du dir mit fünfzig Jahren noch in die Hosen..."

„Habe ich aber nicht!", unterbrach Legolas ihn ungehalten. Ihm war sehr wohl etwas in den Sinn gekommen, aber genau das wollte er ihr nicht beichten!

„Du brauchst aber ein dunkles Geheimnis!" Gimli zerrte nachdrücklich an Legolas' Tunika. „Denke dir eines aus! Wenn es nicht wahr ist, gestehst du es ihr später und damit gleich noch ein zweites, dunkles Geheimnis gelüftet!"

„Das ist ein wirklich... alberner Vorschlag!" Legolas lachte leise.

„Ich weiß, aber ich meinte ihn auch nicht ernst!" Gimli grinste. „Denk nach! Hat deine Mutter dich vielleicht als Kleinkind in hellgrüne Kleidchen verpackt, weil sie sich eigentlich ein Mädchen gewünscht hat?"

„Woher weißt du das?", scherzte Legolas.

Gimli sah ihn eine Sekunde lang sprachlos an, doch dann dröhnte seine Stimme über die Ebene:

„Legolas hat als Kind Mädchenkleider getragen!"

„Das ist nicht nett!", fauchte Legolas und versank vor Scham beinahe im Boden. Doch sein Schimpfen ging im schallenden Gelächter der Gemeinschaft unter. „Ich habe in Wirklichkeit mit zwei Jahren einen Bogen geschenkt bekommen und damit meinem Vater beinahe ein Auge ausgestochen, weil ich damit so viel herumgefuchtelt habe!"

„Sicher, sicher!", ertönte es aus der Elbenmenge gefolgt von leisem Kichern.

„Doch! Wirklich!", protestiert Legolas und sah Gimli böse an.

Der aber schmunzelte nur und murmelte: „Die Gemeinschaft musste endlich einmal wieder lachen. Seit der Schlacht war die Reise wahrlich bedrückend! Und nun komm! Beichte Agarmaethor irgendetwas! Versuche es wenigstens"

Er zerrte ihn zu Agarmaethor, um ihn dort alleine stehen zu lassen.

„Ich..." Legolas sah Gimli vorwurfsvoll hinterher. „Ich... Ich habe ein Geständnis zu machen." Er zögerte und schloss die Augen, als er Agarmaethors erwartungsvollen Blick auf sich spürte. „Ich habe es veranlasst, dass Amlugûr damals im Reich meines Vaters in den Kerker gesperrt wurde. Er hatte nichts verbrochen." Angespannt hielt er den Atem an.

„Ich verstehe!", erwiderte Agarmaethor traurig. „Und ich habe mir das eigentlich auch schon gedacht. Überrascht bin ich jedenfalls nicht... und ich bin dir auch nicht böse." Agarmaethor sah ihn aufmunternd an. „Amlugûr hat sich dir gegenüber äußerst hässlich verhalten, und die kurze Kerkerzeit hat ihm dabei geholfen, über gewisse Dinge nachzudenken. Mir wäre es nur lieber gewesen, wenn..." Sie senkte den Blick. „wenn du es ihm gebeichtet hättest und nicht mir."

Legolas schluckte betroffen. „Du vermisst ihn sehr, nicht wahr?", fragte er weich. „Ich beobachte oft, wie du zurück schaust und hoffst, er würde uns doch noch folgen."

Entschlossen griff er nach ihren Schultern, zog sie in seine Arme. Einen Moment lang schien sie seinen Trost zu genießen, doch als er ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte, stemmte sie sich gegen ihn und entfloh seiner Nähe.

„Bitte, lass das! Wir sind kein Paar mehr. Verstehe doch! Mein Schlussstrich musste sein!"

Scheu sah sie ihn an und eilte davon. Doch kaum hatte sie sich einige Schritte entfernt, erklang ein surrendes Geräusch.

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Pallando befand sich im heimeligsten Raum der Höhle. Seine Sachen standen bereits gepackt an der Wand. Er war bereit zu gehen, doch eine Entscheidung musste noch gefällt werden.

Nachdenklich starrte er auf die winzige Phiole in seinen Händen. Tage- und nächtelang hatte er sich mit ihr beschäftigt, hatte versucht herauszufinden, welches Potential hinter all den Gedanken, Erinnerungen und dem Wissen dieses blutjungen Elbenmädchens und ihres Vaters Celebrimbor steckte. Tage- und nächtelang hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, welche Zwecke hinter der Phiole steckten, welche Ziele Celebrimbor verfolgt hatte. Und unentwegt hatte er darüber nachdenken müssen, ob es ihm überhaupt zustand die Phiole zu zerstören, weil er sie für gefährlich hielt.

Er war kein Elb oder Mensch. Er war nur ein Ainur und dabei auch nur ein Diener anderer Ainur, die alle weder Natur noch Wesen der Kinder Ilúvatars verstanden. Wie sollten sie dazu auch fähig sein, da sie doch nur die Ordner und Hüter Eas waren und sich nicht an der Schöpfung der Elben und Menschen beteiligt hatten?

Sie konnten es nicht!

Und gerade deshalb waren die Valar im Umgang mit den Elben und Menschen immer recht behutsam gewesen, hatten ihre Schlachten nur geschlagen, wenn sie unumgänglich gewesen waren, hatten den Kindern Ilúvatars selten Entscheidungen aufgezwungen und sich immer darum bemüht, deren Mut und Weisheit zu stärken, damit sie ihre eigenen Wege gehen konnten.

Genau genommen war selbst sein Aufenthalt in Mittelerde nichts anderes als ein Zeichen dieses Bemühens. Er und die anderen Istari sollten Sauron nicht aktiv gegenüber treten und kämpfen, sondern beraten, unterstützen und helfen – zurückhaltend und dezent. Welchen Sinn würde sonst ihre menschliche und leider auch sehr zerbrechliche Gestalt machen?

Nein, ihre Aufgabe war klar umrissen! Und gerade deshalb sorgte er sich so sehr um die Phiole, denn ihre Zerstörung durch seine Hand wäre ein echter Eingriff, eine aktive Tat, die die Valar doch gerade nicht von ihm erwarteten. Aber die Valar wussten auch nichts von der Phiole...

Natürlich könnte er sie mit sich nehmen und den Elben und Menschen ihr Geheimnis offenbaren, sie beraten und um eine Entscheidung bitten. Aber was würde mit Ea geschehen, wenn dieses Geheimnis missverstanden werden sollte? Wenn die Kinder Ilúvatars den Fluch dahinter nicht erkannten und sich deshalb falsch entschieden?

Obwohl es noch der Tochter Celebrimbors bedurfte, um die Phiole zu benutzen, konnte Pallando nicht ausschließen, dass Gier und Verlockung der Bewohner Mittelerdes siegen würden...

Er schloss die Augen, versuchte sich vorzustellen, was sein Herr ihm raten würde, wenn er von der Phiole wüsste, versuchte nachzuvollziehen, ob Ilúvatar es gewollt hätte, dass die Menschen und Elben ihre Natur und ihr Wesen veränderten, und warf die Phiole mit all seiner Kraft gegen die Wand.

Doch sie zerbrach nicht. Warum hätte Silamîriel für ihre Erinnerungen eine zerbrechliche Flasche herstellen sollen? Warum hätte Celebrimbor daran etwas ändern sollen?

Pallando schalt sich selbst für seine Einfältigkeit und dachte einen kurzen Augenblick lang darüber nach, die Phiole einfach in den tiefen Spalt zu seinen Füßen zu werfen. Aber wie würde er dann überprüfen können, ob sie wirklich in das Blut der Erde gefallen und nicht doch auf einer Kante liegen geblieben war?

Mit einem Seufzen griff er zum Verschluss und wollte die Phiole öffnen, um den Inhalt auszuschütten, doch noch bevor er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt hatte, hörte er Alatar schreien. Erschrocken sah er zum Eingang der Höhle.

„Was fällt dir ein?" Alatar rauschte herein, riss ihm die Phiole aus der Hand und hielt sie gegen das Licht, um durch das unzerbrechliche Glas ihren Inhalt zu mustern. „Wolltest du sie gerade zerstören?"

Nur fünf Atemzüge später! Wäre doch Alatar nur fünf Atemzüge später gekommen! „Ja, und deshalb gib sie mir bitte wieder!", erwiderte Pallando ruhig und streckte seine Hand aus. „Sie ist für dich nicht von Bedeutung!"

„Nicht von Bedeutung?" Alatar sah ihn zornig an. Seine Hand umschloss die Phiole beinahe vollständig. „Diese Phiole kann Menschen unsterblich machen! Nicht nur, dass wir beide Lútholwen nicht sterben sehen müssten... Du bist es doch auch, der immerzu mit den Menschen in Verhandlungen treten will. Endlich! Endlich halten wir etwas in den Händen, das wir ihnen für ihre Dienste im Kampf gegen Sauron geben könnten! Ich müsste kein Avari-Heer mehr züchten!"

Pallandos Augen blitzten auf, als er einen Blick auf Lútholwen warf, die ihn ernst und vorwurfsvoll ansah. „Ihr könnt sie nicht verwenden!", sagte er langsam, um die Ruhe auch weiterhin zu bewahren. „Nur die Person, der sie gehört, kann..."

„Die Phiole gehört jetzt mir!", knurrte Alatar

„Sie gehört nicht dir. Sie gehört Silamîriel, der Tochter Celebrimbors... und in gewisser Weise auch Celebrimbor selbst. Du jedenfalls kannst sie nicht verwenden!", wiederholte er langsam, um Alatar diesen Satz einzubläuen.

Mit Verwunderung nahm er dabei wahr, dass Lútholwen äußerst überrascht auf den Namen Silamîriel reagierte, doch nur einen Wimpernschlag später hatte sie sich wieder gefasst.

„Wenn es erst der Tochter Celebrimbors bedarf, warum erzählst du Lútholwen dann, sie würde mit Hilfe der Phiole unsterblich werden?", fragte Alatar und sah Pallando verbittert an. „Warum sagst du ihr nicht, dass wir diese Silamîriel erst suchen müssten? Warum machst du ihr Hoffnungen? Wolltest du sie betrügen?"

„Ich wollte niemanden betrügen und ich habe nie behauptet, dass Lútholwen mit Hilfe der Phiole unsterblich werden würde!", fuhr Pallando erzürnt auf und verstand dabei nicht, von welchem Betrug Alatar sprach.

„Dann kann man mit dem Inhalt der Phiole also niemanden unsterblich machen?" Alatar näherte sich so sehr, dass seine Nase beinahe die Pallandos berührte. „Sag es mir!" Mit seiner freien Hand packte er Pallando an der Robe und zerrte ihn an sich.

„Man kann selbst Elben sterblich machen..." Pallando presste seine Worte hervor. „Genau genommen, kann man damit ALLES machen, und deshalb muss auch die Phiole vernichtet werden, denn das darf nicht sein."

„Alles?" Vollkommen überrascht ließ Alatar von ihm ab und wich einige Schritte zurück. Fasziniert betrachtete er die Phiole in seiner Hand. „Und dieses großartige Werkzeug wolltest du Lútholwen für den Austausch eurer Körperflüssigkeiten geben?", fragte er verwundert und schüttelte den Inhalt, als hoffe er damit noch ein weiteres Geheimnis zu ergründen.

Pallando konnte es nicht fassen. „Sie lügt!"

„Sie soll lügen?" Alatars Augen blitzten ihn zornig an. „Bisher jedenfalls hat sich alles bewahrheitet, das sie mir erzählt hat."

„Alles?" Pallando sah in bissig an. „Sie hat dir mit Sicherheit nicht erzählt, dass sie mich geküsst und gestreichelt hat."

Alatar fletschte die Zähne. „Selbst das hat sie mir erzählt! Aber dir war diese Nähe ja nicht genug. Du wolltest gleich alles!" Zornig stieß er Pallando gegen die Brust. „Du wolltest dir sogar erzwingen, was sie nicht einmal mir bisher gegeben hat! Ihre Unschuld wolltest du ihr rauben!" Wieder stieß er Pallando gegen die Brust und drängte ihn gegen die Rückwand der Höhle.

„Unschuld? Dass ich nicht lache!" Obwohl Alatar unbewaffnet war fürchtete Pallando einen Kampf und griff nach seinem Stab neben dem Gepäck. „Gib mir die Phiole und lass mich ziehen!", sagte er leise bittend und hielt Alatar seinen Stab entgegen. „Behalte deine Lútholwen! Ich will sie nicht. Ich wollte sie nie! Gib mir die Phiole und lass mich ziehen!"

„Du bedrohst mich mit deinem Stab?" Alatar sah ihn fassungslos an. Langsam wandte er sich ab und steckte Lútholwen die Phiole zu. „Mich?"

Als Pallando sah, dass Alatar ihm den Rücken zukehrte, senkte er erleichtert seinen Stab, schrie jedoch überrascht auf, als ihn zwei hämmernde Fäuste trafen, doch nach dem ersten Schmerz nahm er kaum noch wahr, wie er durch den Raum gestoßen wurde, spürte nicht, wie sein Kopf mehrfach gegen die Höhlenwand schlug, schmeckte sein Blut nicht. Er bemerkte nicht einmal, wie er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Allein die dunkle Wärme, die ihm rasend schnell entgegen kam, die fühlte er.

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Seine Wurfaxt hatte die Dunkelhaarige verfehlt! Erneut!

Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen. Zwei Tage hatte er auf dem Plateau verbringen müssen, um nach der Dunkelhaarigen Ausschau zu halten, doch dann hatte sich die Gemeinschaft sogar beinahe unmittelbar vor den Stufen hinauf nach Gabil-zahâr niedergelassen.

Es war ein Leichtes gewesen, mit Hilfe des Schattenmantels unentdeckt hinab zu steigen. Viel schwerer war es gewesen, sich auch unentdeckt zu nähern. Odan hatte großes Glück gehabt, dass niemand seine tiefen Fußabdrücke im Schnee bemerkt hatte. Aber jedem Glück folgte auch Pech, und so hatte man seine Spuren nach seinem Anschlag sehr schnell gefunden.

Gehetzt schaute er zurück auf seine Verfolger. Die Elben bewegten sich auf den Stufen mindestens ebenso geschickt wie er. Hätte er das geahnt, dann hätte er die Existenz der Stufen nicht so leichtfertig preisgegeben, denn was nutzten sie ihm, wenn er den Zugang nach Gabil-zahâr nicht rechtzeitig erreichte, um sich dort in Sicherheit zu bringen? Natürlich hätte er auch im Schnee bleiben können, aber dort hätten sie ihn zu schnell gefasst.

Vollkommen außer Atem erreichte er die letzte Stufe, sprang über eine Schneewehe und verschwand durch die noch immer geöffnete Tür nach Gabil-zahâr, die sich auf ein leises Wort hin wieder schloss. Er hörte noch, wie einige Elben versuchten, einen Stein zwischen Platte und Boden zu klemmen, aber der Versuch misslang. Er befand sich in Sicherheit.

Schnaufend rannte er die Stufen hinab in die Dunkelheit, um in einer kleinen und mit Holz beheizten Höhle auf seine Gefährten zu stoßen.

Haunar hatte noch immer hohes Fieber und redete wirre Dinge. Die Kräuter, die ihm Dolgi eingeflößt hatte, schienen nicht anzuschlagen. Auch Rufur ging es schlecht. Seine Zehen waren teilweise erfroren, er war ausgehungert und schwach.

„Hast du sie wieder verfehlt?", fragte Gemoor spitz, als er Odans unglückliches Gesicht im flackernden Schein des Feuers sah.

„Sie hat sich plötzlich bewegt, so als habe sie geahnt, dass ich die Axt auf sie geworfen hatte", erwiderte Odan.

Doch tief in seinem Inneren glaubte er, den Wurf verrissen zu haben, weil ihm der Anschlag so unendlich viel Überwindung gekostet hatte. Die Dunkelhaarige hatte so sehnsüchtig und traurig gewirkt, als sie sich einige Wimpernschläge lang in den Armen des blonden Elben befunden hatte. Mitleid hatte er empfunden. Echtes Mitleid.

„Eine Hexe! Ich wusste doch, dass sie eine Hexe ist!", wimmerte Haunar leise. „Wir sind alle verloren!"

Dolgi zog Odan ein Stück beiseite. „Wir müssen hier fort. Nicht nur, dass die Elben irgendwann des Rätsels Lösung auf dem Stein herausgefunden haben werden, auch die feuchte und faulige Luft hier tut weder Haunar noch Rufur gut. Die Festung ist bereits seit zweitausend Jahren nicht mehr bewohnt. Das Ungeziefer macht uns zu schaffen und..."

„Ich verstehe!", unterbrach ihn Odan. „Um an die Pferde zu gelangen, müssten wir die Stufen benutzen, die jetzt vermutlich von den Elben bewacht werden. Aber angeblich gibt es noch einen Fluchtweg hinaus in die Ebene. Nur müssten wir uns dann zu Fuß weiter bewegen und die Pferde aufgeben."

„Alles ist besser als hier zu bleiben!" Dolgi sah Odan noch einmal eindringlich bittend an und kümmerte sich wieder um Haunar.

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Entsetzt verfolgte Lútholwen den Fall Pallandos in den tiefen Spalt. „Du hast deinen Freund getötet. Wie konntest Du das tun? Wie konntest du das nur tun?"

Auch Alatar starrte benommen in die klaffende Tiefe. „Lava!", flüsterte er. „Sein Körper ist in der Lava verglüht!" Er erhob sich und sah auf das Gepäck an der Wand des Raumes. „Er wollte gehen... ich hätte ihn einfach nur gehen lassen müssen – ohne Phiole. Doch nun droht mir Ungemach!"

„Wie meinst du das?" Lútholwen sah ihn verwirrt an. „Es weiß niemand, dass du ihn umgebracht hast und ich werde es niemanden erzählen."

Alatar lachte. „Du bist wirklich ein kleines Dummchen! Du weißt doch, dass wir Maiar sind. Meinst du denn, dass wir einfach so sterben? Durch ein wenig Lava? Nein! Nur Pallandos menschliche Hülle ist vernichtet worden! Er wird nach Valinor zurückkehren, wo über sein Handeln gerichtet werden wird... oder vermutlich eher über meines. Und was dann geschieht... das wissen wohl nur die Valar selbst."

„Vielleicht wäre es gut, wenn du das Problem regelst, indem du zurückreist und gleich geständig bist?", plapperte Lútholwen aufgeregt. „Vielleicht sind sie gnädig? Im meine... eigentlich war es doch auch eher ein Unfall!"

„Wenn ich gehe, dann gibt es hier niemanden mehr, der gegen Sauron vorgeht!" Alatar schüttelte den Kopf. „Mir ist recht, dass Pallandos Körper vernichtet worden ist. Jetzt kann er den Valar von meinen Plänen erzählen, und wenn ihnen mein Vorhaben nicht gefallen sollte, dann werden sie schon kommen oder mir eine Nachricht senden... Doch solange ich nichts von ihnen höre weiß ich, dass ich mich auf dem rechten Weg befinde!"

„Aber auf welchem Weg denn?" Lútholwen klammerte sich an seinen Arm, um ihn davon abzuhalten zu gehen. „Die Phiole nutzt uns nichts! Pallando hat nicht erklärt, wie man sie verwendet! Und wir haben auch Silamîriel nicht in unserer Gewalt!"

Alatar zog sie in seine Arme. „Ich werde wieder auf meine Zuchtpläne zurückgreifen müssen – leider. Doch noch viel mehr bedauere ich, dass du mich in einigen Jahren verlassen wirst." Seine Zunge glitt sanft über ihren Hals.

„Vielleicht nicht." Lútholwen seufzte auf, als sie Alatars Zärtlichkeit spürte. „Pallando sagte mir, dass allein das Tragen am Körper die Phiole dazu veranlassen würde, den Träger unsterblich zu machen…nur diese eine Person. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber wenn, dann..." Sie griff nach seiner Hand und legte sie sich auf die Brust. „Dann wird diese Rundung immer die Form eines saftigen Apfels behalten, meine Haut immer der einer Elbenfrau gleichen..."

„Behalte das dumme Ding!", flüsterte Alatar und zog sie zu Boden. „Zumindest bis wir diese Silamîriel gefunden haben.

„... und meine Schenkel werden immer für dich geöffnet sein." Lútholwen lächelte.

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„Unsere unsichtbaren Zwerge waren also wieder am Werke!", murmelte Elrohir und starrte auf die Steinplatte zu seinen Füßen. „Jedenfalls vermute ich das! Was steht da geschrieben?"

„Kein Spott war es, und auch Neid war es nicht!

Ein Opfer erbring' ich, wenn Du es willst.

Doch geh nicht mit mir zu hart ins Gericht,

bedenke den Grund, ich dem Wahn verfiel.

Platz ist in Arda für viele Dinge,

doch ist sie zurzeit noch leer und stumm.

Am Herzen liegt mir, dass alles gelinge

erschaffen durch mich, erschaffen durch Dich.

Dein Wort war es, welches hervorgebracht

so Vieles, dass ich nicht kann alles nennen.

Um sie zu lehren, hab ich sie gemacht,

die Schönheit davon zu erkennen."

Gimli hatte die Worte vorgelesen und kicherte plötzlich leise.

„Kennst du des Rätsels Lösung etwa?", fragte Lhainir. „Dann verrate es uns!"

„Ich? Ich weiß gar nichts!" Gimli grinste. „Ich bin nur gerade schrecklich stolz auf mein Volk. So eine wunderbare Tür zu erschaffen... sie ist mit ihrem Lösungswort der Tür Narvis nach Khazad-dûm nicht ganz unähnlich!"

„Wessen Tür?" Agarmaethor näherte sich Gimli und sah ihm ernst in die Augen.

„Narvis Tür! Celebrimbor hat die Tür zu Khazad-dûm gemeinsam mit Narvi, einem damals hoch angesehenem Steinmetz der Zwerge und angeblich auch Busenfreund deines Vaters, erschaffen." Gimli schmunzelte. „Die Tür war ein Prachtstück! Und diese hier ist es auch. Wenn mich nicht alles täuscht, dann handelt es sich hier um Gabil-zahâr – eine alte Zwergenstadt. Ich wusste nicht, wo sie sich befand, aber..."

Agarmaethor hörte seine Worte nicht mehr. Wie betäubt zog sie sich zurück und setzte sich auf einen Stein, um dort ein wenig Ruhe zu finden.

Narvi! Narvi war der Großvater Nargis gewesen - des Zwergen, der sie einst im Wald gefunden und aus Eregion in eine weit entfernte Elbensiedlung gebracht hatte.

Wie konnte es Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet der Enkel Narvis, der ihren Vater mit Sicherheit beinahe genau so gut gekannt hatte wie Narvi selbst, sie inmitten eines großen Waldes hatte finden können? Hatten sie sie schlicht nicht erkannt? Möglich! Aber warum hatten sie sie dann nicht in der erstbesten Elbensiedlung abgeliefert, sondern so weit fortgeschafft, dass Sauron sie während seines Überfalls auf Eregion nicht hatte töten können?

Nicht, dass sie es heute bedauerte noch am Leben zu sein, aber sie fühlte sich um die Liebe der Zwerge betrogen, weil sie nicht annähernd so echt gewesen sein konnte, wie sie es bisher geglaubt hatte.

„Geht es dir gut?" Elladan setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. „Möchtest du mir etwas erzählen? Als Freund?"

Agarmaethor schwieg, schloss ihre Augen und lehnte sich an ihn.

„Da es dir gut geht, erlaubst du mir dann ein ehrliches Wort?", fragte Elladan zögernd, wartete ihre Antwort jedoch nicht ab. „Mir gefällt nicht, was sich zwischen dir und Legolas abspielt. Ich denke, dass du dich nicht richtig verhältst."

„Glaubst du das wirklich?", fragte Agarmaethor atemlos und entsetzt.

Erleichtert darüber, dass sie ihm nicht entfliehen wollte, obwohl er ein so persönliches und unangenehmes Thema angesprochen hatte, drückte Elladan sie an sich.

„Ja, das glaube ich. Ich weiß nicht, was genau zwischen euch vorgefallen ist, aber ich glaube zu ahnen, wo das Problem liegt."

„Wie kannst du das ahnen?" Agarmaethor löste sich aus seiner Umarmung und sah ihn fragend an.

„Weil ich trotz meines zarten Alters von nur zweitausendachthundertneunzig Jahren", er zwinkerte ihr zu, „nicht ganz so unerfahren in Beziehungsangelegenheiten bin wie du. Ich weiß, dass sich dir nach meinen Diskussionen mit Anara das Gegenteil aufdrängen muss, aber..."

„Nein, nein! Mir drängt sich gar nichts auf! Man selbst ist häufig für das Offensichtliche blind. Sorge dich nicht darum!", unterbrach ihn Agarmaethor beruhigend und entlockte Elladan damit ein amüsiertes Lächeln.

„Oh Elbereth, ich weiß, warum Legolas sein Herz an dich verloren hat!", schmunzelte er. „Ich will dir Rat geben und du versuchst mich zu trösten, obwohl das gar nicht nötig ist!"

Agarmaethor errötete und ließ sich von Elladan wieder in den Arm nehmen.

„Schuldgefühle sind etwas Schreckliches, nicht wahr?", sagte er dabei weich. „Man kann sich nie sicher sein, ob sie nicht der Anlass für Taten sind, die man ohne sie nie begehen würde."

„Ja", flüsterte Agarmaethor.

„Ich nehme an, dir fehlt die Sicherheit, ob nicht Schuldgefühle Legolas dazu veranlasst haben, eure Beziehung wieder herstellen zu wollen?", fuhr Elladan fort.

Agarmaethor schluckte. „Ich glaube an seine Liebe, aber Liebe und Zufriedenheit sind unterschiedliche Dinge, und als wir uns gestritten haben, da war er so unzufrieden, dass es mich zutiefst getroffen hat. Unglücklich war er – nicht nur über den Streit und die Situation selbst, sondern über die gesamte Beziehung. Er hat sich so viel mehr erhofft, als ich ihm geben konnte, und ich verüble ihm das nicht einmal, denn ich... ich KANN nicht anders."

„Er hat deine Mühe gesehen", warf Elladan ein. „Deshalb tut es ihm leid."

„Ich weiß, dass es ihm leid tut. Ihm ist nach dem Streit bewusst geworden, wie sehr ich mich bemühe und wie sehr ich kämpfe. Aber genau dieses neue Bewusstsein ist mein Problem, denn wie kann ich nun wissen, ob es in ihm nicht nur Schuldgefühle geweckt hat, weil er nun glaubt, zuviel von mir verlangt zu haben? Wie kann ich mir sicher sein, dass diese Schuldgefühle seine Unzufriedenheit über seine unerfüllten Hoffnungen und Wünsche nicht nur verdrängen? Wie kann ich wissen, ob seine Unzufriedenheit sich nicht immer tiefer in ihn hineinfrisst?" Sie schwieg einen Moment lang und beobachtete Legolas dabei, wie dieser fröhlich mit Gimli scherzte. „Wie kann ich diese Sonne für mich scheinen lassen, wenn sie dabei unglücklich ist und schließlich zerbricht?", murmelte sie leise.

„Aber was erwartest du denn von ihm? Was soll er denn tun, um dich davon zu überzeugen, dass all deine Ängste unbegründet sind?" Elladan schüttelte verständnislos den Kopf. „Er kann dir doch nur sagen, was er fühlt, was in ihm vorgeht und was er sich wünscht."

„Ja, aber ich will, dass er sich die Zeit dafür nimmt in sich zu gehen und sich alles genau zu überlegen! Ich will, dass er nicht nur weiß, wie schwer das alles für mich ist, sondern auch, dass er es wirklich versteht – tief in seinem Herzen – denn nur dann kann ich mir sicher sein, dass er wirklich hinter seiner Entscheidung für mich und einem mit Leben mir steht."

„Ihr Frauen wollt immer verstanden werden. Geliebt zu werden genügt euch nicht!", seufzte Elladan. „Und gleichzeitig klärt ihr uns Männer nie über die Gründe eures Verhaltens auf. Wie soll Legolas dich denn verstehen, wenn er nicht einmal weiß, warum dir alles so schwer fällt? Und wie soll er überhaupt eine ehrliche Entscheidung treffen können, wenn er die Hintergründe all deiner Probleme nicht kennt?"

„Ich kann sie ihm nicht erklären, denn ich laufe Gefahr, dass er sich dann erst Recht falsch entscheidet! An die Stelle des Schuldgefühls würde dann entweder Ekel oder Mitleid treten! Beides will ich nicht", wehrte Agarmaethor ab.

„Was du willst, ist also Mitgefühl?", fragte Elladan. „Ohne zu wissen wofür?"

„Ich... ja... aber..." Agarmaethor löste sich wieder aus seiner Umarmung schlug sich die Hände vors Gesicht. „Das klingt alles so dumm! Ich weiß."

„Das klingt nicht dumm. Du hast nur Angst und bist unsicher", erwiderte Elladan. „Als Freund, der ich dir gerne sein will, kann ich dazu nur eines sagen: Du drehst dich im Kreis und musst ausbrechen! Du! Nicht Legolas! Gib ihm überhaupt erst einmal eine Gelegenheit Mitleid oder Ekel... oder Mitgefühl zu empfinden!"

Betroffen starrte Agarmaethor ihn an. „Vielleicht...", sagte sie leise und nachdenklich.

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A/N: Ich muss ja gestehen, dass ich ursprünglich einmal vorhatte, denjenigen, die das Rätsel lösen konnten, das nächste Kap schon vorab zu schicken, aber leider habe ich es nicht fertig bekommen. Tut mir ehrlich leid. Raten dürft ihr natürlich trotzdem :)