Halb Trost, halb Entschuldigung
2. Kapitel: Dämmerung
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Dämmerung, fast greifbare Dämmerung lag erdrückend in den Steingängen von Askaban. Die beiden Männer bewegten sich lautlos durch das Zwielicht. Auch wenn die Dementoren aus Askaban verschwunden waren und weder Harry Potter, noch sein Begleiter Remus Lupin, hier als Gefangene waren, vermieden sie es laut zu sein. In Askaban fiel niemand gern auf.
Als sie um eine weitere Ecke bogen, verfluchte Remus sich zum hundertsten Male selbst, dass er zugestimmt hatte, Harry zu begleiten. Er hatte erwartet, dass es ihm Genugtuung verschaffen würde, die gefangenen Todesser in ihren Zellen hocken zu sehen. Doch das Gegenteil war der Fall. Die nackte Angst ergriff ihn mit jedem Schritt unbarmherziger. Sie zerrte mit ihren eisigen Klauen an Remus' schmuddeligem Anzug. Die Angst wollte ihn zwingen, sich zu erinnern.
Das Dämmerlicht, die feuchte Kühle, der Modergeruch, das gequälte Seufzen der Inhaftierten – all das brachte Remus gedanklich nur in seine Gefangenschaft, seine persönliche Hölle, zurück. Remus konnte die Angst der Gefangenen ebenso riechen wie damals den beißenden Gestank seiner eigenen Furcht.
Harry griff behutsam nach seinem Arm. Remus stellte erleichtert fest, dass es ihm gelang, Berührungen zu ertragen und nicht jedes Mal den Arm wegzureißen wie unter einem Peitschenhieb. Abgesehen von dem dumpfen Widerhallen ihrer Schritte war es in dem Gefängnis so still wie in einer Gruft. Remus hatte das unbestimmte Gefühl, die Insassen würden hier lebendig begraben.
„Wir haben es gleich geschafft", flüsterte Harry, und das Mitleid, dass Lupin in seinen grünen Augen lesen konnte, war ihm genauso Qual wie diese alles zerfressende Angst.
„Ich bin in Ordnung", antwortete Remus mit rauer Stimme.
Harrys Hand blieb auf seinem Arm und beruhigte Remus wieder etwas. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Fauliges Wasser tropfte von den mächtigen Steinquadern der Decke. Buschiges Moos hatte sich in die Mauerritzen gezwängt. Die Fackelhalter an den Wänden waren leer, und nur ein paar vergitterte Schießscharten ließen das diesige Grau des Himmels ein. Licht konnte man es wahrlich nicht nennen.
Als Harry irgendwann gegen Mittag zu ihm und Ginny in die Black'sche Küche gekommen war, hatte er verschlafen ausgesehen und wenig erholt. Er hatte ihnen erzählt, dass das Ministerium jedem der Todesser einen Auror zu seiner persönlichen Bewachung an die Seite gestellt hatte. Harry hatte sich furchtbar aufgeregt, dass er deswegen gleich nach Askaban würde aufbrechen müssen.
Remus hatte nicht lange überlegt. Bevor er überhaupt erfahren hatte, zu wem Harry musste, hatte er vorgeschlagen, den jungen Mann zu begleiten. Harry hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, keinen von Remus' Wünschen auszuschlagen – dafür waren es viel zu wenige. Er hatte nur genickt, und dann waren sie aufgebrochen.
Der Gang endete in einer Sackgasse. An beiden Seiten des Korridors waren Zellentüren, doch die Stirnseite war glattes Gemäuer, wohinter vermutlich die See tobte. Die Überfahrt war schrecklich gewesen, und wenn Remus etwas mehr als Kaffee im Magen gehabt hätte, hätte er sich sicherlich über die Reling von seinem Frühstück verabschiedet. Doch er hatte durchgehalten, und nun waren sie doch tatsächlich hier. Auch Harry hatte auf dem Schiff ziemlich blass ausgesehen, aber nun zeugten nur noch seine zerzausten Haare von den heftigen Sturmböen.
Zielstrebig steuerte Harry auf die Rechte der beiden Zellen zu, die am Ende des Flurs lagen. Remus' Herz fing wild an zu schlagen. Sie waren tatsächlich da. Er konnte spüren, dass Harry den Griff um seinen Arm noch etwas intensivierte. Willenlos ließ es Remus geschehen. Sein Körper fühlte sich fremd an – zu unwirklich war die Situation. Gleich würde er einen Freund treffen. Einen Freund, der ihn gequält hatte wie ein Tier.
Peter Pettigrew saß auf dem Boden, dicht an der Gittertür. Seine Knie berührten die Stäbe, und mit den Augen tastete er rastlos den Fußboden ab. Er trug die übliche Gefängniskluft, die ihm aber mehrere Nummern zu groß war. Die langen Ärmel des Hemdes hatte Pettigrew mehrfach umgeschlagen. Niemand schien es für nötig gehalten zu haben, die Kleidergröße magisch anzupassen.
Remus schluckte trocken und schüttelte Harrys Berührung ab. Als Harry ihm gesagt hatte, dass der Todesser, für den er verantwortlich war, Peter Pettigrew sei, war es Remus kurz flau geworden, aber dann hatte er beschlossen, dass ihm die Konfrontation mit seinem ehemaligen Schulkameraden gut tun könnte. Eine Art Schocktherapie.
„Hallo Wurmschwanz", hörte Remus die Stimme von Harry wie aus weiter Ferne. Er versuchte vorerst, etwas im Hintergrund zu bleiben.
Der menschliche Haufen auf dem klammen Kerkerboden hob seinen Kopf an. Das schüttere Haar war nun vollständig ergraut und an mehreren Stellen büschelweise ausgefallen. Das pockennarbige Gesicht war schmutzig, doch die kleinen Augen glommen in einem stechenden Blau, dass Remus sogar im Zwielicht von Askaban erkennen konnte. Die Haut war eingefallen, gezeichnet durch Hunger und Entbehrung.
„Harry", grüßte Pettigrew sichtlich überrascht über seinen Besucher. Die Stimme war belegt von der langen Zeit des Schweigens.
Remus trat etwas näher an die Gitter heran, aus Harrys Schatten heraus. Und augenblicklich zeichnete sich auf dem hohlwangigen Gesicht Pettigrews furchtsames Erkennen ab. Bei genauerem Hinsehen fielen Remus die hellen Linien auf dem dreckigen Gesicht des Gefangenen auf. Tränenspuren. Zahllose Äderchen waren in den starren Augen geplatzt und färbten das Weiß rot. Pettigrew musste viel geweint haben.
„Remus, du bist ja auch hier", machte Pettigrew mit gurgelnder Stimme seiner Verblüffung Luft. Und am Flackern seines Blicks konnte Remus deutlich erkennen, dass Peter Angst hatte.
Harry sagte irgendwas, aber weder Remus noch Peter konnten verstehen, um was es sich handelte, denn ihre Augen waren völlig ineinander versunken. Jeder versuchte auf den Grund der Seele des anderen zu blicken. Aber alles was Remus sah, war das Geflecht blutiger Adern auf weißem Grund.
„Zur Hölle, Wurmschwanz", rief Harry da so laut, dass seine Stimme tausendfach in den Gängen widerhallte und sich dann irgendwo in den Tiefen Askabans verlor. Er schlug mit einer Hand gegen die Metallgitter der Zelle. Peter schreckte auf und wich dann zitternd etwas von den Gitterstäben zurück.
„Hör mir gefälligst zu, wenn ich mit dir rede", forderte Harry zornig. In seiner entschlossenen Körperhaltung erinnerte nichts mehr an den schüchternen Jungen, der er einst gewesen war. Remus wusste, dass Gnade eine Fähigkeit war, die sie alle im Krieg so gut wie verlernt hatten.
Pettigrew zitterte jetzt am ganzen Körper. Er hatte die Arme um seinen Oberkörper geschlungen und die stummeligen Finger in seine eigenen Schultern gekrallt. Die eine Hand war völlig entstellt, denn die Prothese, die Voldemort für seinen Diener gefertigt hatte, war ihm bei seiner Verhaftung abgenommen worden. Als Ersatz dafür hatten die Heiler aus St. Mungo ihm seine missgebildete Hand wiederhergestellt. Pettigrews Kopf zuckte unkontrolliert hin und her – so als fiele es ihm schwer, gleichzeitig Remus Lupin und Harry Potter im Auge zu behalten.
Remus trat ganz nah an die Zelle heran und umschloss mit seinen schlanken Fingern die Metallstäbe, während Harry erneut die Stimme erhoben hatte: „Da ich nun endlich deine ungeteilte Aufmerksamkeit habe, werde ich dich jetzt über das weitere Vorgehen informieren."
Pettigrew wiegte leicht mit dem Oberkörper vor und zurück. Es war ein unheimliches Knacken von Wirbeln zu vernehmen. Remus stieg eindeutig der scharfe Gestank von altem Urin in die Nase.
„Das Ministerium hat mich zu deinem persönlichen Auror bestimmt", leierte Harry emotionslos die Weisungen des Zaubereiministeriums herunter, „ich werde also für deine Sicherheit und die Wahrung deiner körperlichen Unversehrtheit bis zu Prozessbeginn verantwortlich sein. Sollte es irgendwelche Probleme geben, bin ich dein Ansprechpartner von offizieller Seite. Noch irgendwelche Fragen?"
„Ja", sagte Pettigrew schwach, sprach aber nicht weiter.
„Dann stell' sie", forderte Harry ungeduldig.
Auf einmal trat eine Veränderung in dem hässlichen Gesicht Pettigrews auf, die Remus vor Schock nach Luft schnappen ließ. Pettigrew grinste. Es war das diabolischste Grinsen, dass Remus je zu Gesicht bekommen hatte. Und auch Harry hatte es bemerkt.
„Stell' endlich deine Frage", forderte er daraufhin wütend, „oder ich wische dir dein dreckiges Grinsen persönlich aus der Visage."
Remus konnte nicht sagen, ob es ihn mehr schockierte, wie bösartig, wie durchtrieben Pettigriew sie anfeixte oder ob der kaltschnäuzige Befehlston Harrys und diese absolute Herzlosigkeit, dieser abgrundtiefe Hass, bei dem jungen Mann ihn in solche Panik versetzte. Sooft er Harry auch anders erlebte – liebevoll und fürsorglich – so sicher wusste Remus doch, dass der Krieg gegen Voldemort und die vielen Verluste, Harry von einem zornigen Jugendlichen in einen kalten Erwachsenen verwandelt hatten. Zu viele waren gestorben: James und Lily, der junge Diggory, Sirius, Hagrid und schließlich auch seine erste Liebe Cho Chang. Seit ihrem Tod war Harry nicht mehr derselbe Mensch.
„Was ist, wenn ich unschuldig bin?", fragte Pettigrew da scheinheilig.
Harry lachte kalt, und Remus' Stirn legte sich in ungläubige Falten. „Wie kannst du behaupten, unschuldig zu sein?", entfuhr es Remus, obwohl er sich vorgenommen hatte, nichts zu sagen.
Pettigrew fixierte ihn mit seinen verquollenen Augen. „Remus, mein Freund", säuselte er heuchlerisch, so gut es seine brechende Stimme zuließ, „du weißt doch am besten, dass ich unschuldig bin. Sirius hat uns nur benutzt."
Harry schlug wieder mit der Faust gegen die Gitter. „Schluss mit diesen Lügen", schrie er, aber die beiden anderen Männer beachteten ihn gar nicht.
„Peter, du warst mein Freund", sagte Remus matt, „ich verstehe nicht, wie du uns das alles antun konntest. James, Lily, Sirius und mir."
„Ich habe dir gar nichts angetan", behauptete Pettigrew, „hol mich hier raus, Remus, bitte."
„Nein", antwortete Remus schwach und ließ die Gitterstäbe los.
„Nein?", fragte Pettigrew und seine unterwürfige Freundlichkeit schlug von einer zur nächsten Sekunde in blanken Hass um.
„Nein", stellte da auch Harry klar, „du wirst übermorgen dein Urteil vor dem Wizengamot empfangen. Remus und ich haben keinerlei Einfluss auf deine Bestrafung, es hilft also nichts, uns bestechen oder umschmeicheln zu wollen. Deine Lügen kannst du bald Scrimgeour persönlich vortragen."
Pettigrew ließ pfeifend die Luft aus den Lungen entweichen. Remus musste seinen Blick abwenden. Er trat wieder näher an Harry heran, dessen Körperwärme ihm die Illusion von Schutz versprach.
„Und noch etwas", fuhr Harry nach einer kurzen Pause mit fester Stimme fort, „selbst wenn Remus oder ich dir irgendwie helfen könnten… Wir sind die letzten Menschen, von denen du Hilfe erwarten kannst, Wurmschwanz. Glaub mir, wenn ich die Möglichkeit bekäme, dein Urteil persönlich zu vollstrecken, ich würde keinen Moment zögern."
Pettigrew ließ seine eigenen Schultern los und kroch langsam wieder an die Zellentür. „So ist das also?", fragte er, während er zwischen jedem der Worte rasselnd atmete.
„Ja, so ist das", wollte Harry gerade seinen ganzen Zorn verbal auf Pettigrew abfeuern, aber Remus brachte ihn mit einem schlaffen Wink seiner Hand zum Schweigen.
„Peter", sagte Remus leise, und ohne dass er es verhindern konnte, stiegen ihm verzweifelte Tränen in die schönen, braunen Augen, „du hast uns alle verraten und verkauft. Erwartest du wirklich Absolution? Etwa von mir? Ich kann sie dir nicht geben."
Irrsinn schwang in Peter Pettigrews' Stimme mit, als er Remus seine Antwort entgegen schleuderte: „Wie undankbar von dir, Remus, dabei habe ich dich doch so gut behandelt, als du in der Gefangenschaft des dunklen Lords warst."
Ein kleines Pflänzchen mit dem Namen Hoffnung keimte in Remus' ausgebrannter Seele auf. „Du warst das?", fragte er atemlos.
Pettigrew nickte eifrig, und bei dieser Geste und einem Blick auf Peters Finger wurde Remus schmerzlich bewusst, dass dies nie und nimmer sein Schutzengel aus Voldemorts Kerker sein konnte. Die Hände des Fremden waren lang gewesen, feingliedrig. Pettigrews Hände waren speckig mit kurzen, verstümmelten Fingern. Er konnte es nicht sein.
Harry verfolgte verständnislos das Gespräch zwischen den beiden Männern, ohne etwas zu sagen. Remus schüttelte langsam seinen Kopf – einen kurzen Moment war es in der Dämmerung von Askaban wieder totenstill geworden. Doch dann zerschnitt Remus' Stimme scharf wie ein Messer das Schweigen: „Du bist es nicht gewesen, Peter. Du hast mir nie geholfen. Du hättest mich in diesem elenden Kerker verrotten lassen. Wahrscheinlich hast du dich selbst an all den Unaussprechlichkeiten beteiligt, die mir deine Todesser-Freunde angetan haben."
„Du hast es doch genossen, lieber Remus", sprach Pettigrew da mit gleicher Schärfe wie zuvor Lupin, „erinnerst du dich noch an die Sache mit dem Quidditchschläger und der Buttersäure? Das war ich, Remus, ich! Du hast gejault wie ein Welpe, es war geradezu possierlich und den Gestank allemal wert."
Mit jedem Wort von Pettigrew waren sowohl die Augen von Remus als auch die von Harry Potter immer größer geworden. „Was? Was?", stammelte Remus verzweifelt, bevor er sich in einem Strudel aus vergangener Gewalt und akuter Angst verlor.
Pettigrew fing an, ziemlich schäbig zu grinsen. Er sagte zwar nichts weiter, aber dies war auch absolut nicht nötig. Alle scheußlichen Erinnerungen stürmten wieder auf Remus ein. Er keuchte unterdrückt, wankte ein paar Schritte rückwärts und hielt sich den schmerzenden Schädel. In seinem Kopf hämmerte es dumpf. Wie gern hätte Remus die aufflackernden Emotionen unterdrückt, aber er fand keinen Weg hinaus. Die Spirale aus Grauen, Qual und Scham lockte ihn mit ihrem Horror des Nicht-Vergessen-Könnens.
„Du warst schon immer ein verdorbenes Luder", meinte Pettigrew süffisant, aber Remus hörte es gar nicht. In seinem Kopf schrie seine eigene Stimme vor erlittener Pein, und er konnte wieder das Geräusch vieler schwerer Stiefel vernehmen.
„Halt' dein verdammtes Maul", brüllte Harry, aber auch das nahm Remus nicht wirklich wahr. Er zitterte am ganzen Körper, und diese Eiseskälte kroch wieder in seine abgetragenen Kleider. Er hörte wieder ihre Stimmen, ihr Grunzen, ihr Stöhnen, ihr Hohngelächter.
Harry zog seinen Zauberstab und richtete ihn drohend auf Pettigrew, der plötzlich erstaunlich beweglich war. Der Todesser wich in die hinteren Schatten seiner Zelle zurück. Doch auch wenn sein Grinsen nicht mehr sichtbar war, konnte Harry es noch deutlich spüren. Und Remus war weit weg in der Vergangenheit.
Harry wandte sich Remus zu, der schlotternd mit geschlossenen Augen im Mittelgang des Zellentrakts stand. Seine Zähne knirschten aufeinander. Harry konnte sich nicht entscheiden, ob er nun mehr Angst um Remus haben oder mehr Hass für Pettigrew empfinden sollte. Es war egal. Er versuchte, Remus wieder zu vollem geistigem Bewusstsein zu bringen und schien daran zu scheitern.
Remus glaubte, Harrys beruhigende Einflüsterungen dicht an seinem Ohr zu spüren, aber immer wenn er versuchte aus seinen selbstzerstörerischen Gedanken auszubrechen und auf die Stimme zuzugehen, war da nichts mehr. Er glaubte, sanfte Hände auf seinen Armen zu fühlen, die ihn aus seinem grässlichen Tagtraum reißen wollten, aber immer wenn er sich von ihnen fortziehen lassen wollte, war da nichts als Leere.
Und immer wieder diese Stimmen, die ihn verspotteten, beschimpften, erniedrigten. Und immer wieder das Geräusch von nacktem Fleisch auf nacktem Fleisch. Das Knirschen der Stiefel. Das Surren einer Reitgerte in der Luft. Das Zischen von kochendheißem Metall auf nackter Haut. Remus drohte in diesem Meer aus Lauten zu ertrinken, zu ersticken, sich endgültig zu verlieren.
Plötzlich war da noch etwas anderes. Erst sehr leise, dann immer lauter, glaubte Remus Musik zu hören. Sie klang vage vertraut. Morgenstimmung. Heißer Atem verließ seine Lungen. Das Blut hetzte durch seine Venen. Morgenstimmung. Remus versuchte sich zu konzentrieren, sie ganz deutlich zu hören. Er versuchte zuzulassen, dass die Ouvertüre der Peer-Gynt-Suite alle anderen schrecklichen Geräusche übertönen würde.
Mit der anschwellenden Musik traten plötzlich sehr konkrete Erinnerungen aus Remus' Gedächtnis in den Vordergrund. Da war wieder diese Berührung der rauen Hände des Fremden, das Metall des Fingerrings, das ihn groteskerweise tröstete. Sein Gehirn führte Remus zu der seltsamsten Begebenheit seiner Gefangenschaft. Eine Begebenheit, die sich in ihrer Absurdität noch von all den unaussprechlichen, sadistischen Grausamkeiten, die Lupin hatte erdulden müssen, abhob. Dieses eine Mal, wo das Ritual anders gewesen war.
Gedanklich war Remus wieder in seinem Kerker, weit weg von Askaban, Harry und dem Verräter. Er war wieder blind, nackt und gefesselt. Seine Verletzungen waren weniger schwer als in den Tagen zuvor, aber dennoch hatte er starke Schmerzen. Die Tür war geöffnet worden und der Fremde mit schnellen Schritten eingetreten. Das Ritual hatte mit dem zarten Piano der Peer-Gynt-Suite begonnen. Remus erinnerte sich, wie sich die inzwischen vertraute Hand auf seinen angefühlt hatte. Halb Trost, halb Entschuldigung.
Der Fremde hatte seine Wunden gereinigt, die Fäkalien entfernt und all den anderen Schmutz abgewaschen. Er hatte Remus' Schrammen und Schnitte mit heilenden Salben versorgt. Diese Berührungen waren von solch unbeschreiblicher Zartheit gewesen, dass es Remus bis heute wie ein Wunder erschien. Er hatte das Streicheln genossen und so sehr herbeigesehnt nach all der Qual. Und dann war das Unvorstellbare geschehen, dass Remus in all den Monaten immer krampfhaft versucht hatte zu verhindern. Es hatte ihn erregt.
Remus' Scham war grenzenlos gewesen. Er hatte sich selbst für ein krankes Monster gehalten, als er hatte erkennen müssen, dass all die sexuellen Perversionen der Todesser seinem Körper und seiner Seele noch nicht jegliches natürliche Empfinden abgewöhnt hatten. Panische Angst, der Fremde könne seine Erregung entdecken, hatte ihn ergriffen. Remus hatte befürchtet, das letzte bisschen Selbstachtung zu verlieren und den einzigen Menschen, der ihn am Leben hielt.
Natürlich hatte der Fremde die Erektion des vollkommen ausgelieferten Mannes bemerkt, aber seine Reaktion war so anders gewesen als Remus es sich vorgestellt hatte. Keine Schläge, kein Schreien, keine brutale Vergewaltigung und kein Spott. Der Fremde hatte wieder kurz nach Remus' gefesselten Händen getastet, und dieses eine Mal war es Remus so vorgekommen, als hätte der Unbekannte um Erlaubnis bitten wollen.
Remus erinnerte sich wieder lebhaft daran, wie er seinen stillen Helfer angefleht hatte, ihm nicht wehzutun, ihn nicht zu verachten. Er hatte sich entschuldigt, wieder und wieder für den Irrsinn, den sein Körper und sein Geist ersehnt hatten. Doch der Fremde hatte wie in den Monaten davor und all der Zeit danach einfach geschwiegen. Remus hatte die Halle des Bergkönigs gehört, als der Fremde auf die Knie gegangen war.
Weiche Lippen hatten sich schockierend angenehm um Remus' steifes Glied geschlossen, und sein Gebettel war ihm im Hals stecken geblieben. Warm, zärtlich und beschützend war der feuchte Mund des unbekannten Mannes gewesen. Die Zunge ein wenig rau, aber so vorsichtig als könne sie etwas verletzen. Anfangs hatte Remus versucht, sich gegen seine eigenen Gefühle zu wehren, aber der Fremde hatte sich dieser verstörenden Lust mit der gleichen Selbstverständlichkeit angenommen wie zuvor den Wunden, Narben und Hämatomen.
Irgendwann hatte Remus losgelassen. Er hatte das Gefühl genossen, dass dies hier nur für ihn geschah. In den ganzen acht Monaten war dieses eine, von der Norm abweichende Ritual der einzige Augenblick gewesen, in dem Remus so etwas wie Freiheit verspürt hatte. Und sein verzweifelter Orgasmus war trotz aller sexuellen Handlungen, zu denen er in der Gefangenschaft gezwungen worden war, ein einmaliges Erlebnis geblieben. Einen kurzen Moment lang hatte er all das Leid vergessen dürfen.
Immer noch glaubte Remus diese wundervolle Melodie zu hören. Doch plötzlich war da noch etwas anderes. Unverständliche Worte und Hände, die ihn schüttelten. Edvard Griegs bezaubernde Musik klang mit einem Mal seltsam verzerrt und fremd, irgendwie schief und so verdammt anders.
„Bitte, Remus, komm zu dir", hörte Remus irgendwann aus dem Gewirr von Geräuschen Harrys Stimme heraus.
„Was?", krächzte er heiser und schlug die Augen auf.
Besorgt ruhte Harrys Blick auf ihm, aber Remus war erleichtert, dass er wieder in die Realität zurückgefunden hatte. Er war nicht blind, und dies hier war sein Freund Harry Potter. Ein trügerisches Hochgefühl durchströmte Remus als er erkannte, dass es ihm erneut gelungen war, dem heraufziehenden Wahnsinn ein Schnippchen zu schlagen.
„Remus, ich habe mir solche Sorgen gemacht", sagte Harry, „was war nur los mit dir?" In Remus' Ohren klang der junge Zauberer als habe man ihm eine tonnenschwere Last vom Herzen genommen.
„Ich…", wollte Remus zu einer wirren Erklärung ansetzen, als ihm auffiel, dass etwas anders war. Die Musik war noch da – leise und seltsam, mehr wie ein Fiepen, aber sie war noch da.
Erschrocken fuhr er herum und starrte in das Dämmerlicht der Gefängniszelle, die der von Peter Pettigrew gegenüber lag. Dieselben metallenen Gitterstäbe zerhackten den Raum dahinter in düstere Rechtecke. Auf dem klammen Steinboden lag eine mottenzerfressene Decke und ein Stück Brot. Ein Tonkrug für Wasser stand daneben.
Die Melodie setzte sich fort. Remus hörte nun Solvejgs Lied. Es war nur ein leises, ziemlich schiefes Pfeifen, aber Remus erkannte es dennoch. An der hinteren Zellenwand war die Schwärze noch eine Spur schwärzer. Jemand saß tatsächlich dort und pfiff Griegs Meisterwerk. Fassungslos versuchte Remus sich von Harrys beschützenden Händen zu befreien und näher an das Verlies zu treten. Er versuchte etwas zu erkennen, er wollte sehen, wer dort saß, aber die Schatten von Askaban waren lang und sogen jegliches Licht in sich auf.
„Nicht, Remus", bat Harry ihn eindringlich und hielt seinen geschwächten Körper noch fester, „es ist genug. Lass uns gehen."
Die Melodie verstummte, und Remus richtete seine blicklosen Augen wieder auf Harry. „Gehen?", echote er mit brüchiger Stimme.
„Ja, Remus, wir gehen", entschied Harry mit sehr entschlossener Sanftheit und führte Remus zurück in Richtung Ausgang.
