Halb Trost, halb Entschuldigung
3. Kapitel: Licht
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Licht, fast greifbares Licht streichelte sanft über das inzwischen vollständig ergraute Haar von Remus Lupin. Er trug sein bestes Hemd und saß zwischen Minerva McGonagall und Ginny Weasley im hoffnungslos überfüllten Verhandlungssaal des Zaubereiministeriums. Neben Ginny hatte eine unaufhörlich schnatternde Hermine Granger Platz genommen. Ihr Verlobter Ron hatte locker einen Arm um die junge Frau gelegt und diskutierte nun in der Verhandlungspause mit Dean Seamus über Quidditch. Auf der anderen Seite von McGonagall hing Sybil Trelawney mehr auf ihrem Stuhl als sie saß.
Die Todesserverhandlungen gingen verhältnismäßig rasch voran, sah man mal von den zahllosen Zwischenfällen ab, in denen aufgebrachte Hexen und Zauberer aus dem Publikum sich auf die Angeklagten stürzen wollten. Die Auroren hatten alle Hände voll zu tun, den pöbelnden Mob im Zaum zu halten. Mehr als einmal hatte Remus beobachten können, wie die Sicherheitskräfte haltlos weinende Menschen aus dem Saal entfernen mussten.
Die Verhandlungen der Gebrüder Carrows und die Dolohovs waren kurz und recht unspektakulär gewesen. Alle drei waren einstimmig zu lebenslanger Haft in Askaban verurteilt worden und hatten die Urteilsverkündung mit stoischer Ruhe zur Kenntnis genommen. Zwischenrufer aus dem Publikum hatten die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert, waren aber rasch zum Schweigen gebracht worden.
Der Auftritt von Bellatrix Lestrange hatte eine andere Qualität besessen. Die einzige angeklagte Frau war hoch erhobenen Hauptes von Kingsley Shacklebolt hereingeführt worden. Genüsslich hatte die schwarzhaarige Hexe jede ihrer Gräueltaten bis ins kleinste Detail beschrieben. Keinen der Anklagepunkte hatte sie von sich gewiesen – im Gegenteil, sie schmückte diese geradezu liebevoll aus. Zuschauer waren weinend aufgesprungen und hatten panisch den Saal verlassen. Auch Neville Longbottom war nach draußen gestürzt, aber die Türen hatten sich nicht schnell genug geschlossen, so dass Remus das charakteristische Würgen hatte vernehmen können, als Neville seinen Mageninhalt in der Vorhalle verteilte.
Bellatrix hatte keine Spur von Reue gezeigt. Sie hatte viel und kalt gelacht. Ihr Gesicht hatte die Kameras der Fotografen regelrecht gesucht. Scrimgeour und dem Wizengamot war gar nichts anderes übrig geblieben, als für diese uneinsichtige Wahnsinnige die Höchststrafe zu beantragen. Das Urteil hatte auf lebenslange Haft in Askaban gelautet – mit der Auflage, dass die Hexe ihre gesamten Erinnerungen in einem Denkarium abzulegen hatte, welches anschließend vernichtet werden sollte.
Diese Art der Bestrafung war mindestens so schlimm wie ein Dementorenkuss, das war Remus klar. Bellatrix Lestrange würde keine Erinnerungen mehr haben, keine Freunde, keine schönen Augenblicke und keine Identität. Nichts. Sie wäre dann mindestens eine so leere Hülle wie Barty Crouch Jr.
Nun war gerade Verhandlungspause, bevor die letzten drei Todesser ihre Strafen empfangen sollten. Die Menschen beruhigten sich langsam wieder. Die Reporter interviewten ein paar der Geschworenen und Minister Scrimgeour ließ sich für den Tagespropheten ablichten. Der Verhandlungssaal war hell erleuchtet, und die hohen Wände warfen die unzähligen Stimmen der Anwesenden zurück wie ein Echo im Gebirge.
Remus hatte bei den Schilderungen der Missetaten von Dolohov und den beiden Carrows seine eigenen Erinnerungen in den hintersten Winkel seines Geistes verdrängt und war erstaunlich ruhig geblieben. Doch Peter Pettigrew wäre nach der Pause der nächste Angeklagte, und Remus war sich nicht sicher, ob er dies würde ertragen können.
Ginny hörte immer noch gebannt Hermine zu, die von ihrem Zaubertränke-Studium erzählte. An Lupins anderer Seite saß Minerva McGonagall steif wie ein Brett – auf Remus wirkte sie als hätte jemand sie ausgestopft. Einen Platz weiter prophezeite Trelawney jedem der Todesser einen siechenden und schmerzhaften Tod.
Ein lautes Gebimmel forderte alle Anwesenden auf, sich wieder auf ihre Plätze zu begeben. Die Reporter drängten sich dicht an die Absperrung, hinter welche sich Scrimgeour und die Geschworenen nun zurückzogen. Hermine und Ginny beendeten ebenso wie Ron und Dean ihre Gespräche und verdrehten sich die Hälse, um die Eingangstür in ihr Blickfeld zu bekommen. Remus starrte gebannt seine eigenen Hände an und wappnete sich mental für Pettigrews Verhandlung.
Im Gerichtssaal kehrte langsam wieder Ruhe ein, nachdem sich alle Zuschauer wieder hingesetzt hatten. Die Luft war stickig – in dem Raum waren einfach zu viele Menschen und zu wenig Sauerstoff. Scrimgeour klopfte mit einem kleinen Hämmerchen auf eine Holzplatte, und Remus sah auf. Angestrengt fixierte er den Zaubereiminister. Er versuchte das Geräusch der sich öffnenden Flügeltüren ebenso auszublenden wie die aufgebrachten Reaktionen der Anwesenden auf den eintretenden Angeklagten.
„Mörder!"
„Bestie!"
„Scheusal!"
„Hängt ihn auf!"
Scrimgeour klopfte erneut mit dem Hammer, und ein paar der Sicherheitsleute forderten einige der Schreihälse energisch zu Ruhe und Besonnenheit auf. Remus konzentrierte sich auf Scrimgeours ernstes Gesicht, doch trotzdem entging ihm aus dem Augenwinkel nicht, wie Pettigrew in gebückter Haltung den Mittelgang entlang schlich. Harry lief dicht hinter ihm, den Zauberstab kampfbereit erhoben.
„Keine Angst", hörte Remus Ginnys gefühlvolle Stimme flüstern. Er wandte seinen Blick von Scrimgeour ab und landete direkt in ihren warmen, blauen Augen.
„Ich schaffe das schon", flüsterte Remus zurück und versuchte zu lächeln. Vorsichtig tastete die junge Frau nach seiner Hand und drückte sie kurz behutsam. Remus mochte diese Berührung, sie erinnerte ihn an die Fürsorge des Fremden, obwohl diese kleine, zarte Frauenhand sich so ganz anders anfühlte.
Mit neuem Mut sah Remus wieder nach vorn. Harry stand neben Peter, der auf der Anklagebank vor dem Tribunal hockte und wild um sich blickte. Harry war die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Scrimgeour verlas die Anklageschrift, und aus allen Ecken des Zuschauerraums wurden erneut die Forderungen nach der Todesstrafe laut.
„Bekennen Sie sich schuldig, Mister Pettigrew?", fragte der Minister irgendwann.
Der Saal hielt den Atem an. Pettigrew wand sich auf seinem Sitzplatz und kassierte einen mahnenden Blick von Harry. Remus atmete leise aus. Das Blut rauschte in seinen Ohren.
„Nein", antwortete Pettigrew da überraschenderweise, denn die Beweislast war erdrückend, „ich war nur ein Werkzeug. Ich habe nie wirklich zum inneren Kreis von dem, dessen Name nicht genannt werden darf, gehört."
Das Publikum schrie wild durcheinander, und Scrimgeour musste eine ganze Weile mit dem Hämmerchen klopfen, bis wieder Frieden eingekehrt war.
„So, so", meinte Scrimgeour kalt, „nur ein Werkzeug?"
Remus konnte sehen, dass Pettigrew wieder auf diese ihm ureigene schleimige Art eifrig nickte. Ihm stieg der Geschmack von Galle in den Hals. Er wollte jetzt nicht über den Besuch bei Pettigrew in Askaban vor zwei Tagen nachdenken. Er wollte die schmutzigen Andeutungen vergessen, die sein ehemaliger Schulfreund gemacht hatte. Buttersäure.
„Die Geschworenen werden sich nun zur Beratung zurückziehen", verkündete Scrimgeour, und die Zauberer erhoben sich. Während sie den Saal verließen, flehte Pettigrew, er winselte und bettelte, greinte wie ein Säugling, wimmerte und betete.
Ginny lachte hinter vorgehaltener Hand, als Harry mit zornesrotem Gesicht und etwas, dass verdammt nach „Halt endlich die Schnauze" klang, den Todesser zum Schweigen brachte. Die Pressefotografen drängelten aneinander vorbei, um einen möglichst guten Fotowinkel auf Pettigrew zu bekommen. Remus fror.
„Sie werden ihn verurteilen", teilte Minerva Remus leise teilnahmslos mit, „das verspreche ich dir." Remus konnte kaum glauben, was er da hörte. Unsicher sah er seine ehemalige Hauslehrerin an. Sie war alt geworden. Die Zeit hatte tiefe Furchen um ihre wachen braunen Augen gegraben. „Ich verspreche es", sagte sie noch einmal in neutralem Tonfall, dann sah sie wieder zur Anklagebank.
„Danke", wisperte Remus heiser und wusste nicht einmal wofür. Sie nickte knapp.
Die Geschworenen kamen durch den Seiteneingang zurück in den Sitzungssaal, und ihre eisigen Mienen verrieten unzweifelhaft, wie ihr Urteilsspruch lauten würde. Pettigrew schien dies auch zu realisieren und fiel wieder in seine Litanei ein.
„Der Wizengamot ist zu einem einstimmigen Urteil gekommen", erklärte Scrimgeour feierlich, „wenn also keiner der Anwesenden mehr etwas für oder gegen den Angeklagten vorzubringen hat, werde ich jetzt das Urteil verlesen."
Er schwieg einen Moment. Und abgesehen von Pettigrews leisem Weinen war es im Raum so still wie in einer Gruft. Remus konnte erkennen, dass Scrimgeour seinen Blick mit der Schärfe eines Adlers über die Anwesenden schweifen ließ. Doch niemand meldete sich, um noch etwas vorzubringen.
„Der Wizengamot befindet hiermit den Angeklagten Peter Rodentus Pettigrew der Körperverletzung in sechsundzwanzig Fällen, des Mordes in acht Fällen, der Vergewaltigung in fünfzehn Fällen, des mehrfachen Menschenraubes, dem Verstoß gegen die Animagus-Meldepflicht, der Verwendung aller drei verbotenen Flüche und der mehrmaligen Durchführung verbotener schwarzmagischer Rituale für schuldig." Scrimgeour machte eine Atempause. Seine Augen glommen in diesem unangenehm stechenden Gelb. Pettigrew wimmerte vor sich hin. Und Remus dachte nur darüber nach, wie hoch wohl die wahre Zahl von Pettigrews Opfern war. „Das Urteil lautet auf lebenslange Haft in Askaban und Erinnerungsdeprivation."
„Nein!"
Pettigrews gellender Schrei peitschte durch die Luft, nur um sofort von Johlen und Beifall übertönt zu werden. Remus würgte an dem Kloß in seiner Kehle und schloss die Augen. Ginnys kleine Hand lag wieder beruhigend auf seiner eigenen. Die Rufe aus dem Publikum um ihn herum verschwammen zu einer Suppe aus undefinierbaren Geräuschen.
Pettigrew wurde fortgebracht. Um sein erbärmliches Leben flehend. Und Remus' Herz war erfüllt von Schmerz und Mitgefühl, obwohl er Hass empfinden sollte. ‚Nicht daran denken, nicht daran denken', forderte seine innere Stimme ihn immer wieder penetrant auf. Wie eine Schallplattenrille, in der die Nadel fest hängt.
„Ist hier noch ein Platz für mich?", hörte Remus da Harrys vertraute Stimme. Der Junge klang so unendlich müde. Remus öffnete die Augen, nur um festzustellen, dass Harry noch müder aussah als er klang. Ginny stand kurz auf, damit Harry sich hinsetzen konnte, dann machte sie es sich auf seinem Schoß bequem.
„Das hast du gut gemacht", lobte sie Harry aufrichtig, „wie ein ausgebildeter Auror."
„Ich hatte ja gar nichts zu tun", winkte Harry ab, „nur aufpassen, dass Pettigrew nicht abhaut oder einer der Zuschauer ihn sich vorknöpft."
Ginny lächelte, und zwei niedliche Grübchen gaben ihrem sommersprossigen Gesicht das gewisse Etwas. „Moody kann trotzdem sehr zufrieden mit seinem Schüler sein, finde ich", sagte sie stolz. Sie wuschelte durch sein dunkles Haar, und nun lächelte Harry ebenfalls.
„Ach, Ginny", antwortete er so leise, dass Remus es nur schwer verstehen konnte, „der alte Haudegen ist so beschäftigt mit dem Stargast, dass er sich Pettigrews Verhandlung gar nicht angesehen hat."
Ginny nickte wissend. „Snape wird doch keine Schwierigkeiten machen?", fragte sie mit einem Anflug von Sorge. Hermine klinkte sich von der anderen Seite in das Gespräch ein. „Professor Snape ist ein Mörder und Verräter, aber sein Stolz wird ihm verbieten, sich hier lächerlich zu machen", meinte sie überzeugt. Die anderen grummelten etwas Zustimmendes, und auch Remus war sich sicher, dass diese Einschätzung richtig war.
Snape. Stargast. Der Hochverräter. Mad-Eye Moody würde es genießen, Snape persönlich seinem Schicksal zu übergeben. Seltsamerweise empfand Remus gerade keinen Hass gegenüber dem Feind seiner Schulzeit. Er konnte niemanden hassen, den er nicht verstand. Niemand hatte je herausgefunden, warum Snape so gehandelt hatte. Und auch heute würden die Beweggründe keine Rolle spielen. Snapes Urteil war schon so gut wie unterschrieben.
Die Flügeltüren öffneten sich wieder, und dieses Mal sah Remus hin. Ein großer Mann mit dunkelblondem Haar und wilden grünen Augen wurde hereingeführt. Rookwood. Tonks war die verantwortliche Aurorin und sah heute außergewöhnlich seriös aus. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und einen hohen Pferdeschwanz. Ihr Gesicht war ernst und konzentriert.
Remus konnte sich nicht erinnern, diesem Augustus Rookwood jemals persönlich begegnet zu sein. An diese wahnsinnigen Augen hätte er sich mit Sicherheit erinnert. Obwohl der Mann ziemlich abgemagert war und die graue Gefängniskluft um seine knochigen Beine schlabberte, strahlte er eine Erhabenheit aus als wäre er zu einem Ball geladen.
Verblüfft hielt Remus den Atem an, als er bemerkte, dass Rookwood direkt vor seinem Stuhl stehen geblieben war. Er hob taxierend eine seiner fein geschwungenen Augenbrauen. Tonks versuchte ihn zum Weitergehen zu bewegen, aber Rookwood stand da wie festgewachsen und starrte auf Remus.
„Sei mir gegrüßt, mein williger Rüde", sagte der Todesser mit einer absolut einzigartigen Stimme – so einschmeichelnd wie das Schnurren eines Kätzchens und gleichzeitig so scharf und präzise wie das Fallbeil einer Guillotine.
„Nein, nicht, bitte, nein", stotterte Remus entsetzt und riss sich die Hände abwehrend vor das vom Schreck des Erkennens grotesk verzerrte Gesicht.
Tonks schrie ein paar wütende Befehle, aber Rookwood stand weiterhin unbewegt und leckte sich über die seltsam rostroten Lippen. Ginny sprang auf und zog ihren Zauberstab; Hermine, Ron und Harry folgten ihrem Beispiel. McGonagall lehnte sich mit ihrem Oberkörper leicht zur Seite, um Rookwood die Sicht auf Lupins zitternde Gestalt zu versperren.
„Remus, reiß' dich jetzt bitte zusammen", hörte Remus das beschwörende Raunen von McGonagalls Stimme.
„Ich kann nicht", stammelte er, „ich kann nicht mehr."
Trelawney lehnte sich ebenfalls etwas näher und verkündete mit dem siegesgewissen Brustton absoluter Überzeugung: „Nur keine Sorge, Mister Lupin, ich sehe es deutlich vor mir. Augustus Rookwood wird einen sehr langsamen und schmerzhaften Tod sterben."
„Gehen Sie sofort weiter", drohte Harry und stellte sich nun seinerseits schützend vor Lupin.
Hermine teilte Harrys Beherrschtheit ausnahmsweise überhaupt nicht. „Tonks", blaffte sie, „schaff' dieses Monstrum endlich hier weg."
Die Sicherheitsleute eilten zu dem Gefangenen und seiner Eskorte. Remus konnte ihre Schritte hören, die Schritte schwerer Stiefel. Er hörte Rookwood samtig lachen. Ihm war so, als hätte jemand gerade einen Knoten in seine Gedärme gemacht. Dann wurde alles um ihn herum schwarz.
Wenige Augenblicke später fand Remus zurück in die Realität des Verhandlungssaals, aber er fühlte sich, als sei er Stunden weg gewesen. Die besorgten Gesichter von Ginny, Harry, Ron, Hermine und Professor Trelawney musterten ihn prüfend. Minerva McGonagall hielt seine Arme mit ihren faltigen Händen umklammert.
„Er ist weg", stellte die Hogwarts-Schulleiterin sachlich fest, aber Remus konnte in ihren Augen lesen, dass sie voller Kummer war.
„Geht's wieder?", fragte Ron, was ihm einen deftigen Rippenstoß von Hermine einbrachte. Remus hörte deutlich wie sie den jungen Weasley mit Worten wie ‚Holzklotz' und ‚Mindestmaß an Einfühlungsvermögen' zurechtwies.
„Ich brauche nur ein wenig frische Luft", brachte Remus mühsam hervor. Als er sich schwerfällig von seinem Stuhl erhob, ließ Scrimgeour gerade wieder sein Hämmerchen auf das Pult donnern. Das schien richtig Spaß zu machen.
Remus vermied es tunlichst, noch einmal nach vorne zur Anklagebank zu schauen. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern schlurfte er in Richtung Ausgang. Er konnte die sorgenvoll bohrenden Blicke der anderen buchstäblich in seinem Rücken spüren. ‚Nur nicht umdrehen', sagte er zu sich selbst. Ein Sicherheitsbeamter öffnete ihm die große Flügeltür, und nur einen Atemzug später stand Lupin im Vorraum.
Die Fenster waren weit geöffnet und warmes Tageslicht erhellte die geräumige Vorhalle. Frische Luft wehte herein, und augenblicklich löste sich der Knoten in Remus' Brust etwas. An den Wänden hingen abstrakte Gemälde – farbenfroh mit wilden Linien und Klecksen. Die Modernisierungskampagne des Ministeriums hatte also auch vor den Innenausstattern nicht Halt gemacht. Die dunkelbraunen Holzbänke waren allerdings noch dieselben, auf denen vor circa zwanzig Jahren bereits die Besucher der ersten Todesserprozesse gewartet hatten.
Remus fuhr sich durch seine grauen Haare und registrierte ernüchtert, dass sie feucht von Schweiß waren. Wieder konnte er die unverbrauchte Luft genießen, die ihm nach seiner Gefangenschaft fast zur Droge geworden war. Luft war Freiheit. Er steuerte auf eine der Holzbänke zu und setzte sich. Eine spindeldürre Hexe mit einem riesenhaften Hut, der ihr Gesicht völlig verdeckte, las neben ihm in der Zeitung. Ein paar Plätze weiter hockte Neville Longbottom und sah noch immer ziemlich grünlich aus.
Remus genoss das Gefühl der wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Er schloss die Augen, um das blendende Tageslicht aus seinem Kopf auszusperren. Sein Geist fühlte sich merkwürdig leer an. Rookwood war mit einem Male weit weg. Es gab gerade nichts mehr als dieses wundervolle Licht und das sanfte Streicheln des Luftzugs und diese kleine, leise Melodie in seinen Gedanken. Morgenstimmung.
Remus hatte gar nicht bemerkt, wie die Zeit verstrichen war. Er fragte sich, ob er vielleicht eingeschlafen war, als laute Schritte seine Aufmerksamkeit erregten. Mehrere Sicherheitsbeamte polterten den langen Korridor entlang auf den Sitzungssaal zu. Die Flügeltüren waren weit geöffnet, und Remus konnte drinnen die gierigen Blicke der Schaulustigen sehen, die auf den letzten Angeklagten warteten.
Die Sicherheitsbeamten kamen immer näher, und das Geräusch ihrer Stiefel ließ in Lupin wieder diese leichte Übelkeit aufwallen. Angespannt verknotete er seine Hände im Schoß und blickte ihnen entgegen. Hinter den bulligen Männern kam die dürre Gestalt Snapes in sein Sichtfeld. Der Zauberer trug die graue Kluft von Askaban. Seine Haare waren noch fettiger, als Remus sie kannte und klebten ihm in dicken Strähnen auf dem bleichen Gesicht.
Verwirrt bemerkte Remus, dass er tiefes Mitgefühl empfand. Snapes Kopf war gesenkt, und Alastor Moody lief mit erhobenem Zauberstab dicht hinter ihm. In Remus' Augen sah Mad-Eye gerade wie eine dicke, ziemlich zufriedene Qualle aus.
Die Sicherheitsleute des Ministeriums steuerten auf den Eingang des Sitzungssaals zu, aber der Gefangene schlug plötzlich, ohne auch nur aufzusehen, eine andere Richtung ein. Moody schimpfte lauthals, und Remus bekam wieder Angst, als der Todesser direkt auf ihn zuhielt. ‚Nicht du auch noch, nicht du', flehte er innerlich und musste wieder an Rookwood denken.
Dann stand einen Moment die Zeit still. Snape stoppte seine Schritte, Moody zeterte unverständliches Zeug, und Remus erwartete demütig die nächste Erniedrigung. Doch als diese ausblieb und Snape stattdessen nur kurz mit seinen schlanken Fingern Remus' verkrampfte Hände drückte, wich jegliche Farbe aus Remus' Gesicht und der Atem stockte ihm in den Lungen. Da waren sie wieder – diese Hände. Diese einfache Geste – halb Trost, halb Entschuldigung. Und dieses Mal konnte Remus den schlichten Silberring auch sehen, der mit metallener Kühle seine brennende Haut streifte.
Ein schwaches „Severus…" kam ihm über die Lippen. Remus wünschte sich mit einer wahnsinnigen Intensität, diese Berührung möge andauern, aber schon eine Sekunde später waren die rauen, so vertrauten Hände verschwunden. Snape drehte sich in einer schwungvollen Bewegung zu seinem zuständigen Auror um.
„Nun können wir gehen", erklärte Snape tonlos. Moody gab eine gurgelnde Beleidigung von sich, und mit dem letzten Bisschen Würde, dass Snape geblieben war, ließ er sich in den Sitzungssaal drängen. Seinem Schicksal entgegen.
Remus saß da. Er war unfähig sich zu bewegen. Sein Schicksal hatte gerade seine Hände berührt, wie damals. Die Macht des Erkennens überrollte ihn schier. Und nun schlossen sich die Türen des Verhandlungsraums mit einem unfreundlichen Knarren. Snape war verschwunden. Remus' Gedanken rasten, er versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war, was das für ihn bedeutete, was er mit diesem Wissen denn nun anfangen sollte.
Die Minuten verstrichen. Diese kleine Ewigkeit, in der Remus nur das Rauschen seines eigenen Blutes in den Venen hörte und dann und wann das unterdrückte Husten Nevilles. ‚Was soll ich nur tun?', fragte Remus sich immer wieder. Auf seinen ineinander verschlungenen Händen haftete noch die Erinnerung an Snapes Berührung. Halb Trost, halb Entschuldigung.
Still verwoben sich die Linien auf den Gemälden ineinander. Ein dunkelroter Strich beschrieb viele Kurven und Windungen, bevor er in einem riesigen grünen Farbklecks endete. Das Rot und das Grün verschwammen vor Remus' Augen zu einem schmutzigen Braun. Es erinnerte Remus an Erde, an seine eigenen Wurzeln, an den Anfang und das Ende.
Ein Ruck ging durch seinen angespannten Körper. Ohne weiter über das nachzudenken, was er tat, stand Remus auf und eilte zu den Flügeltüren. Er stieß sie auf, und ihr Knarren war so laut, dass er augenblicklich die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte. Sein Blick war verschleiert, er fühlte sich wie ferngesteuert, als er den Mittelgang bis zur Absperrung entlanglief. Am Rande seines Bewusstseins registrierte er, dass die Sicherheitsleute sich bereit machten, ihn im Zweifelsfall mit Gewalt aus dem Saal zu entfernen. Es war ihm egal. Seine Augen kannten nur ein Ziel.
Severus Snape saß auf der Anklagebank. Seine Haltung war so steif wie eh und je, aber sein gesenktes Haupt erzählte von gebrochenem Stolz. Er war noch dürrer geworden in der Gefangenschaft. Die Knochen zeichneten sich unter der fleckigen grauen Kleidung ab.
„Was wollen Sie, Mister Lupin", fragte da Scrimgeour im Tonfall bemühter Höflichkeit.
Remus hielt in seiner Bewegung inne und fällte eine Entscheidung. „Snape", erklärte er fest. Severus sah nicht auf.
Scrimgeour, Moody und die meisten Anwesenden schienen dies für einen gelungenen Scherz zu halten. „Mister Lupin", sagte Scrimgeour mit einem ungeschickten Grinsen, „bitte setzen Sie sich. Dies hier ist eine Gerichtsverhandlung und wahrlich der falsche Ort für schlechte Witze."
„Es war kein Witz, Minister", antwortete Remus, und nun lächelte er selbst sehr eigentümlich, „dem Orden des Phönix liegen Beweise für die Unschuld von Severus Snape vor. Leider ist es uns nicht möglich, Ihnen diese zugänglich zu machen. Severus Snape hat sich keinesfalls des Hochverrats schuldig gemacht. Alle seine Taten erfolgten im Zusammenhang mit seiner Spionagetätigkeit."
Es war totenstill im Saal geworden.
Doch dann zerschnitt das kehlige Lachen Moodys das Schweigen. „So ein Unsinn", wieherte er, und in Remus' Augen traten Tränen.
„Ich verlange die sofortige Auslieferung Snapes an den Orden des Phönix", sagte Remus, bevor ein verzweifeltes Schluchzen seiner Kehle entkam.
„Welche Beweise?", wollte Scrimgeour scheinheilig wissen, aber seine Frage blieb unbeantwortet.
Ginny Weasley hatte sich von ihrem Stuhl erhoben. Sie hatte keine Ahnung, welche Beweggründe Remus für diesen Auftritt hatte, aber es war ihr auch gleichgültig. Für sie zählte allein, dass Remus nach Monaten der Gleichgültigkeit das erste Mal wieder für etwas eintrat. Er stand hier und versuchte zu kämpfen. So lange hatte Ginny darauf gewartet. Und wenn Snape derjenige war, der Remus aus seiner Lethargie reißen konnte, dann sollte es eben so sein.
„Ich wurde ebenfalls eingeweiht", sagte Ginny mit zitternder Stimme.
Hermine sprang neben ihrer Freundin auf. „Ich ebenso", erklärte die junge Frau und griff nach Ginnys Hand. Auch Ron erhob sich von seinem Platz, er nickte schwach.
Scrimgeour und Moody lachten nun aus vollem Halse. „Was wird denn das hier?", höhnte Moody, „ihr seid doch Kinder. Wer sollte euch einweihen in die Pläne des Ordens und mich nicht?"
Minerva McGonagall stand auf. „Das kann ich erklären, Alastor", sagte sie mit ihrer besten Lehrerstimme, „da Sie und Mister Snape ein alter Hass verbindet, hielt Albus Dumbledore es für sicherer, Sie nicht einzuweihen, um eventuelle Streitigkeiten zu vermeiden."
Bei der Erwähnung von Dumbledores Namen war ein lautstarkes Getuschel im Saal ausgebrochen. McGonagall wusste, dass sie hier eine saftige Lüge auftischte, aber wenn diese Lüge ihnen allen Remus Lupin zurückbringen konnte – den missbrauchten, ausgebrannten Remus Lupin zurückverwandeln konnte in den lebenslustigen, starken Zauberer – war sie es allemal wert. Und Minerva konnte deutlich sehen, dass es Remus ernst war.
Tränen der Verzweiflung mischten sich auf Remus' warmer Haut mit Tränen der Hoffnung und Rührung. Er blickte zwischen Snape und seinen Freunden hin und her. Er hatte gewusst, dass er Freunde hatte, aber wie gut sie es mit ihm meinten, spürte er erst jetzt. Als seine Augen jedoch Scrimgeours Blick einfingen, wurde ihm klar, dass sie längst nicht gewonnen hatten. Er schluckte trocken.
„Beenden Sie diese Farce", donnerte Scrimgeour und von Heiterkeit war in seinem wutverzerrten Gesicht keine Spur mehr zu sehen.
„Aber, Minister", versuchte Lupin es noch einmal, „Sie haben doch den Orden gehört. Severus Snape ist unschuldig. Wir fordern seine unverzügliche Auslieferung."
Moody lachte wieder auf, aber das Gemurmel der Anwesenden schwoll an. Und als sich schließlich Harry Potter von seinem Platz erhob, stürzten sich die Pressefotografen wie die Habichte auf den jungen Mann. Harrys Gesicht war wie versteinert. Blitzlichter flammten auf, und jeder im Saal wartete voller Spannung, was der Junge-der-die-Welt-gerettet-hatte nun sagen würde.
„Professor Snape hat unter großem Risiko für sein eigenes Leben stets für den Orden des Phönix gearbeitet", berichtete Harry in neutralem Tonfall, „im letzten Jahr vor seinem Tod vertraute mir Dumbledore an, dass Snape ihn würde ermorden müssen, um seine Spionagetätigkeit zu festigen. Es war dem Orden leider nicht möglich, das Ministerium davon in Kenntnis zu setzen, bevor nicht alle Todesser des inneren Zirkels verurteilt waren. Wir schulden alle Professor Snape großen Dank und müssen uns in aller Form entschuldigen, dass er so lange in Askaban einsitzen musste, nur um den Ablauf der Verhandlungen nicht zu gefährden durch seine vorzeitige Befreiung."
Ginny sah bewundernd zu ihrem Freund. Sie kannte viele seiner Qualitäten, aber solche Lügen hatte sie von ihm nicht erwartet. Und Harry zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er der ganzen Welt diese haarsträubende Geschichte auftischte.
„Ich verlange ebenfalls die sofortige Auslieferung von Professor Snape an den Orden. Ohne seine Hilfe wäre der Sieg über Tom Riddle niemals möglich gewesen", fügte Harry noch an.
Dann brach der Jubel los. Harry Potter hatte gesprochen. Scrimgeour plärrte Befehle, klopfte mit seinem Hämmerchen, aber nichts half. Die Sicherheitsbeamten gehorchten nicht, sondern standen nur mit unschlüssigen Mienen herum. Moodys Kopf war feuerrot, aber er öffnete trotzdem zähneknirschend die Holztür der Barriere. Die Leute riefen Snapes Namen, als sei er ein heimgekehrter Held. Harry Potter, der Junge, dem sie alle ihr Leben verdankten, hatte gesprochen. Es musste alles wahr sein. Es gab keinen Zweifel mehr.
Remus trat langsam in den inneren Bereich des Sitzungssaals. Snape hatte immer noch nicht aufgesehen. Remus konnte erkennen, dass er am ganzen Leib zitterte. Die Leute feierten ihn. Es bildeten sich Snape-Sprechchöre. Die Menschen applaudierten, pfiffen und johlten.
Remus legte vorsichtig seine Hand auf Snapes Schulter. „Lass uns gehen", flüsterte er, und Snape erhob sich tatsächlich, die Augen auf die Schuhspitzen geheftet. Die Fotografen scharten sich um die beiden Männer, aber Remus gelang es, den dürren Todesser an ihnen vorbei zu dirigieren.
Remus schaute kurz dankbar zu Ginny, Hermine, Harry, Ron und McGonagall. Alle fünf lächelten ihm zu, auch wenn bei manchen dieses Lächeln reichlich geziert und künstlich wirkte. Und dann begannen auch sie zu applaudieren.
Alles Lügen, alles nur wilde Spekulationen ohne Hand und Fuß, aber Snape war frei.
