Karas Kindheit
„Lee, wach auf! Lee! LEE!"
Lee kuschelte sich tiefer in sein Kissen und zog sich die Decke über die Ohren.
„Geh weg."
Er hatte zwar einiges an Ambrosia intus, aber niemand konnte ihm einreden, dass es bereits morgen war. Er konnte ja noch das Gegröle hören, das vom Gang hereinschallte.
„Jetzt steh schon auf!"
Lee wollte sich zur Wand drehen, als Larry ihm mit einem kräftigen Ruck die Decke wegriss.
„Kara hat ..."
Aufstehen war immer noch zuviel verlangt, aber immerhin weckte das Lees Interesse.
„Bricht sie jemandem die Knochen? Spritzt das Blut? Ist sie dabei jemanden zu ermorden? Wenn es nichts in der Kategorie ist, dann schlaf ich weiter", murmelte er.
Es war ein langer Abend gewesen, mit einer Menge Triad und noch mehr Ambrosia.
Lee hatte keine Ahnung wo Kara die ganze Zeit gewesen war. Wahrscheinlich bei irgendeinem jungen Kadetten, der das Glück hatte ihr zu gefallen. Er kniff die Augen zusammen und hinderte sich daran weiter über diese Möglichkeit nachzudenken.
Larry zog ihm auch noch das Kopfkissen weg. „Sie hat sich mit literweise Ambrosia in der Dusche eingesperrt."
Er zögerte einen Moment. „Es klingt als würde sie weinen."
„Kara ... weint?" Larrys Vermutung machte Lee hellwach. „Unsinn."
Kurz erwog er die Möglichkeit, dass Kara Larry geschickt hatte, um sich irgendwie dafür zu rächen, dass er sie vor drei Tagen mit kaltem Wasser überschüttet hatte.
Lee lächelte bei der Erinnerung daran. Sie war selbst schuld, sie hatte wortwörtlich gesagt, „egal wie, Lee, weck mich einfach auf!"
Ein Blick in Larrys Gesicht ließ ihn den Gedanken vergessen. Er kannte Kara, sie weinte nicht, aber trotzdem sprang er schleunigst aus dem Bett und zog sich Hose und T-Shirt über.
Sich den Schlaf aus den Augen reibend stolperte er hinter Larry her.
Vor der Dusche standen mehrere Kadetten und redeten auf die geschlossene Tür ein. Die Kommentare reichten von „Komm, Kara, du sitzt da jetzt schon seit Stunden drin!" bis zu „Mist, saufen kannst du auch woanders!", tatkräftig unterstützt von ein paar Fausthieben gegen die Tür.
Gerade als Lee sich nach vorne durchdrängte, knallte ein Gegenstand von innen dagegen und zersprang in einem klirrenden Geräusch. „Haut ab!"
Dabei war ein unterdrückter Schluchzer zu hören.
Lee zuckte zusammen, er konnte sich nicht vorstellen was Kara zum Weinen brachte. Sie gehörte zu den stärksten Menschen, die er kannte.
„Los Leute, verschwindet, ich mach das. Geht woanders duschen."
Murrend zogen die anderen ab, nicht ohne ein vereinzeltes „Ich hab ihre Allüren wirklich satt."
Lee klopfte leise gegen die Tür. „Kara? Kara, ich bins. Mach auf und sag mir was los ist."
Keine Antwort.
Er redete minutenlang auf sie ein, aber sie reagierte nicht.
Lee begann zu schwitzen, was wenn sie sich soviel Ambrosia hineingeschüttet hatte, dass sie gar nicht mehr in der Lage war, die Tür zu öffnen? Was, wenn sie ohnmächtig da drinnen lag?
Gerade, als er sich überlegte, ob er nicht irgendwie das Schloss aufbrechen könnte, hörte er sie murmeln.
„Lee, es ist alles okay, lass mich einfach in Ruhe."
Er zog eine leichte Grimasse. Alles okay, ja klar! Kara ging es ganz offensichtlich schlecht und statt zu ihm zu kommen wollte sie, dass er sie allein ließ.
Der Gedanke machte ihn traurig, aber egal was sie dachte, er konnte nicht einfach weggehen. Nicht bevor er gesehen hatte, dass sie zumindest halbwegs in Ordnung war.
Sie konnte doch nicht ernsthaft von ihm erwarten, dass er sie mitten in der Nacht im Duschraum liegen ließ, noch dazu voll mit Ambrosia!
„Keine Chance, Kara, ich rühre mich hier nicht von Stelle. Frak, ich bin dein bester Freund und das hört nicht auf, nur weil es dir einmal schlecht geht!"
Erleichterung durchfuhr ihn, als sich die Tür mit einem leisen Knacken öffnete. Kara stand vor ihm, eine Hand an der Wand abgestützt, in der anderen eine halbleere Flasche. Sie sah mitleiderregend aus. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Wangen tränenverschmiert, aber was ihn am meisten beunruhigte, war der niedergeschlagene Ausdruck in ihren Augen.
Lee wusste nicht, was er erwartet hatte, aber diesen Anblick sicher nicht. Eine tobende Kara, eine aggressive Kara, eine übermütige Kara, all das kannte er, aber eine weinende Kara?
Sie starrte ihn einen Moment lang an und es sah aus als erwartete sie, dass er sich auf dem Absatz umdrehen würde, jetzt wo er gesehen hatte was für ein Verlierer sie war.
„Ich lebe noch. Zufrieden? Jetzt verschwinde."
Lee musterte sie wortlos, dann schloss er die Tür hinter sich mit einem Fußtritt und machte einen Schritt auf sie zu.
Sie wich zurück, aber Lee ließ sich davon nicht abhalten, und ohne ihre Proteste zu beachten nahm er sie in die Arme und drückte sie an sich.
Einen Augenblick lang wehrte sie sich, doch dann schlang sie ihre Arme um seinen Hals und drückte ihr Gesicht gegen seine Brust.
„Kara, was ist denn los?"
Sie schüttelte den Kopf, aber der Griff ihrer Arme wurde fester und er spürte, dass sie zitterte.
Es erschütterte Lee, dass sie glaubte ihm nicht vertrauen zu können. Immer musste sie die Starke sein, nie konnte sie zugeben, dass es auch für sie leichter wäre sich manchmal an jemanden anzulehnen. Sie war so verflucht verschlossen was die wichtigen Dinge anging.
Ohne sie loszulassen, ließ er sich langsam auf den Boden fallen und zwang sie damit sich ebenfalls hinzusetzen. Er brauchte einen Augenblick, um den Gedanken zu verdrängen wie richtig sie sich in seinen Armen anfühlte. Sie war so warm und weich ...
„Kara, verrat mir was los ist!"
Sie schwieg noch einen Moment, dann brach es mit einem Schluchzen aus ihr heraus. „Meine Mutter ..." Unbewusst bewegte sie ihre Finger.
„Es war ein Unfall, sie.. sie war betrunken und sie ist vor einen Laster gerannt. Sie war sofort tot."
Entsetzt streichelte er ihr über die Haare, wiegte sie beruhigend hin und her.
„Ich habe sie geliebt..." er fühlte ihre Tränen in seiner Halsbeuge. „aber sie, sie hat mich gehasst. Sie wollte nie ein Kind und das hat sie mich oft genug spüren lassen. Ich war nichts als eine Last für sie."
„Ich bin sicher sie hat dich auch geliebt, auf ihre Weise."
Kara schüttelte den Kopf und ihre Miene verzerrte sich, als alte Erinnerungen hochkamen.
„Sie hat keine Gelegenheit ausgelassen, um mir zu zeigen wie nutzlos ich für sie bin. Ich bin es nicht wert geliebt zu werden. Ich hab mich so bemüht, aber," Kara schluckte, „es hat nichts geändert. Ich bin nun einmal ein Verlierer und jetzt kann ich ihr nie wieder etwas anderes beweisen."
Lee musste sich beherrschen, um sie nicht zu schütteln.
„Hör damit auf, Kara! Du bist kein Verlierer! Und sag nie wieder, dass du es nicht wert bist geliebt zu werden!"
Sie biss sich auf die Lippen und er konnte sehen, dass sie ihm nicht glaubte. Verzweifelt suchte er nach den richtigen Worten, er konnte nicht mit ansehen wie sie sich so quälte. Sie war wundervoll und es war nicht ihre Schuld, dass ihre Mutter das nicht erkannt hatte. Lee konnte nicht zulassen, dass sie sich etwas anderes einbildete.
Bevor Lee noch wusste was er sagen sollte, begann sie mit einer rostigen Stimme zu flüstern und Lee musste sich anstrengen, um ihre Worte zu verstehen.
„Wenn sie besonders viel getrunken hatte, dann ..." Wieder streckte und beugte sie unwillkürlich ihre Finger, „dann... Wenn sie besonders wütend auf mich war... sie hat mir als Strafe immer einen Finger gebrochen."
Kara schluchzte auf und jetzt fing sie ernsthaft an zu weinen. „Es hat ihr eine kranke Befriedigung gegeben mir wehzutun, und das hat mich mehr verletzt, als ein paar gebrochene Knochen. Das ist ein Schmerz an den man sich nie gewöhnt."
Lee schwieg betroffen und zog sie fester in seine Arme.
„Wenn ich allein war, nachts, ich habe oft genug geweint, aber niemals vor ihr. Ich habe ihr nie gezeigt, wie sehr es mir wehtat," Kara stockte, „Wenigstens bin ich ein tapferer Verlierer."
„Kara...", murmelte er hilflos und begann ihren Rücken zu streicheln. In ihm stieg ein solches Mitleid auf für dieses mutige kleine Mädchen, das er nie gekannt hatte und eine Wut auf diese unbekannte Frau, die ihn selbst erschreckte.
Er hielt sie mit den Armen fest umschlungen während sie weinte und weinte und er war sich sicher, dass er der Erste war, dem sie die Wahrheit über ihre Kindheit erzählt hatte.
„Sie hat mich nie geliebt..."
Es dauerte lange bis ihr Tränenstrom versiegte, und danach ließ sie ihn nicht los und auch Lee verharrte bewegungslos.
Nach einer Weile und nach kurzem Zögern platzte er schließlich heraus: „Ich kann deine Vergangenheit nicht ändern, aber für die Zukunft...
Ich bin dein bester Freund und ich will dass du weißt, dass sich das nie ändern wird. Ich werde immer für dich da sein."
Er wurde ein wenig rot, doch sie merkte es nicht, denn sie sah verlegen auf den Boden.
„Du bist auch mein bester Freund und ich werde immer für dich da sein."
Er konnte sehen, wie viel Mühe ihr dieses Geständnis bereitete und in seinen Augen machte es das nur noch wertvoller.
Sanft drehte er ihren Kopf zu sich und blickte sie forschend an.
„Besser?"
Sie nickte und er war erleichtert, dass die Kara, die er kannte wieder zum Vorschein kam.
Er schubste sie sachte weg und stand auf.
Kara packte ihn an der Hand, um ihn aus dem Duschraum zu ziehen, aber er bewegte sich nicht.
Er wollte, dass ihr klar war wie ernst er es gemeint hatte und dass sie wusste wie gerne er mit ihr zusammen war. Ihre Worte, dass sie es nicht wert war geliebt zu werden, klangen immer noch in seinen Ohren.
„Kara, in den Ferien, wir haben da so ein Haus am Meer. Möchtest du mit mir mitkommen? Du kannst meine Mutter kennen lernen und meinen kleinen Bruder."
Ganz kurz fürchtete er, sie könnte nein sagen, doch dann blickte sie mit tränenfeuchten Augen zu ihm auf und lächelte schief.
„Eine Chance dich in Badehosen zu sehen? Ich bin dabei."
FIN
Wie immer, ein Review freut mich.
