Neunzehn
Tag: 1436; Stunde: 15
„Ich glaube sie verstehen es nicht. Oder ich hoffe, dass sie es nur nicht verstehen, weil ich es hassen würde jemanden so dummes, in solch einer hohen Position der –"
„Hermine.", flüstert Justin, aber sie reißt ihren Arm von seiner Berührung zurück und rammt einen weiteren Finger in die Brust des Aurors.
„Sie haben kein Recht –" beginnt Auror Was-Auch-Immer, aber Hermine unterbricht ihn mit einem falschen Lachen und einem weiteren harten Stoß gegen sein Brustbein.
„Und sie sind verrückt, wenn sie glauben, dass ich sie auch nur eine Sekunde in Ruhe lasse, bevor sie etwas dagegen unternehmen!"
Der Mann packt sie plötzlich am Arm, seine Finger graben sich so fest in ihr Handgelenk, dass sie das Gefühl hat, die Knochen könnten brechen. „Wir haben immer noch Leute, die wir aus dem verdammten Schlamm ziehen, Krankenhauszimmer voller verletzter Leute und eine volle Leichenhalle. Wir haben ein –"
„Denken sie, ich weiß das nicht? Hm? Ich weiß das! Meine Freunde sind heute gestorben, und während dieses ganzen verfickten Krieges! Menschen, die ich als meine Familie angesehen habe, liegen in dieser Leichenhalle, also wagen sie es nicht, mir zu predigen, was wir verloren haben!" Hermine schreit die Worte, sodass ihre Stimme bricht, und sich ihr Gesicht vor Wut verzerrt und sie hasst es, dass sie weint.
„Sir", versucht Justin, und Hermine lässt ihn jetzt seine Hand auf ihrer Schulter legen. „Erstens schlage ich vor, dass Sie ihre Hand loslassen, bevor wir das mit Lupin klären. Zweitens: Alles, was wir von ihnen verlangen, ist, dass sie alle, die gesund sind, organisieren, um ein Suchteam zu bilden. Wir beide haben uns bereits freiwillig dafür gemeldet."
Der Auror ballt seine Hand zu einer Faust, nachdem er sie losgelassen hatte, und verzieht angewidert das Gesicht. „Alle Entscheidungen über Missionen werden in der Befehlskette weitergegeben. Wenn sie ein Suchteam haben wollen, stellen sie sich bei Mungos in der Schlange an, um mit Lupin zu reden."
„Ron Weasley ist ein guter Mann. Er hat sich geopfert –", fängt Hermine an, ihre Hände zittern.
„Es sind alles gute Menschen. Sie haben sich alle geopfert. Es gibt eine lange Liste von Menschen, die vermisst werden. Wenn er nicht die Fähigkeit hat, zurückzukommen und uns alle zu retten, wartet er darauf, mit dem Rest der anderen gerettet zu werden."
Denn er ist nicht Harry Potter, und ihre Gedanken sind wütend auf die dunkle Seite, aber alles was sie wahrnimmt ist die Gefühllosigkeit, die sie verspürt.
Tag: 1437; Stunde: 7
Die Heilerin teilt ihr mit, dass Lupin noch nicht will, dass Harry etwas über Ron erfährt. Ron ist die Ausnahme, sagt die Frau, und er weiß über den Zustand der anderen Bescheid, den sie bisher dokumentiert haben. Dokumentiert, und Hermine fragt sich, ob die Heiler ihre Emotionen durch den Krieg verloren haben, der so gewaltig ist, dass er mit seiner Energie und der Wildheit eines Löwen, sogar die Menschen in den Krankenhäusern erfasst.
Ron ist zu Hause, erholt sich und sollte in zwei Wochen wieder gesund sein. Das ist ihre Geschichte. Das ist es, was Hermine dazu bringt, gleichzeitig schreien, sich übergeben und ganz still halten zu wollen.
Harry ist in viel besserer Verfassung, als sie erwartet hatte. Sein linker Arm ist in einer Schlinge, kleine Kratzer säumen seine rechte Gesichtshälfte von der Schläfe bis zum Kiefer und er hat vier gebrochene Finger. Aus dem Kragen seines Krankenhaushemdes lugt der Farbton eines Heilbalsams hervor, und unter dem dünnen Stoff schimmert ein sanftes Orange über seinen Rippen. Aus irgendeinem Grund hat sie an ein schrecklich entstelltes Gesicht und verletzten Körper gedacht mit Händen, die völlig verkrümmt waren. Nur dadurch wird ihr klar, dass sie zu lange mit ihren schlimmsten Befürchtungen gelebt hatte. Die Magie würde ihn in einem Tag heilen, vielleicht in zwei. Es sind die geistigen Schäden, vor denen sie sich jetzt am meisten fürchtet.
Er nimmt ihre Hand und lässt sie eine Stunde lang nicht los. Beide sitzen schweigend da und die einzigen Geräusche sind ihr Atem und das was man von außerhalb des Zimmers hört. Er starrt an die Decke und dann in ihre Augen, und eine gute Viertelstunde lang hat sie fast Angst, zu blinzeln. Es ist, als hätte sie Angst, dass er in ihren Augen nicht mehr das finden würde, was er gerade braucht.
„Ich habe dich lieb." Das ist das Erste, was er sagt, und die Tränen schießen ihr in die Augen, durch das schwere Gewicht in ihrer Brust.
Sie nickt einige Sekunden lang, bis sie spürt, dass ihre Stimmbänder funktionieren könnten, wenn sie sich wirklich anstrengt. „Ich habe dich auch lieb, Harry. Ich habe dich so sehr lieb."
Er entschuldigt sich dafür, dass sie nicht früher zu ihm kommen durfte, aber er hatte bis zu diesem Nachmittag vergessen, den Heilern mitzuteilen, dass sie zu ihm kommen darf. Er sagt ihr, dass er noch nicht über alles reden will, was passiert ist, und sie spürt irrationaler Weise, wie die Worte, den Zorn in ihr hochkochen lassen. Sie will wissen, warum er sie nicht vor der Schlacht geholt hat, wo er sie doch in der Vergangenheit immer geholt hat, und warum sie ihm nicht gut genug dafür war. Aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt, und sie weiß, dass dies noch lange nicht der Fall sein wird. Denn es gibt keinen Platz für Verbitterung, wenn ihre Trauer über die Verluste, bereits so viel Raum beansprucht.
Er fragt sie, wen sie besucht hat und wie es ihnen geht, und als sie ihr Kinn trotzig hebt, um ihm zu sagen, dass sie Draco Malfoy besucht hat, ist seine Antwort nicht die, die sie erwartet hat. Sie sagt ihm, dass es ihm gut geht, und blickt besorgt auf den plötzlichen entrückten Ausdruck in seinem Gesicht, bevor er wieder in Schweigen verfällt.
Bevor sie geht und ihre Hand bereits auf dem Türknauf liegt, hält er sie noch einmal zurück. „Hermine?"
„Ja?"
„Wenn du Malfoy wiedersiehst... sag ihm, dass es mir leid tut."
„Was tut dir leid?" Sie schüttelt verwirrt den Kopf, und er schüttelt seinen, weil er nicht antworten will.
„Sag es ihm einfach."
„In Ordnung."
Tag: 1437; Stunde: 10
„Ich weiß, Hermine. Unsere Organisation ist nicht mehr existent, alles ist in Schutt und Asche gelegt worden. Wir wissen nicht einmal, wie viele Opfer es gibt und wie viele von ihnen ihre Verletzungen überleben werden, geschweige denn, wo alle sind."
„Wir müssen trotzdem Ron finden! Und ja, auch die anderen, die noch vermisst werden, genauso wie wir Beerdigungen organisieren, und die Gegend nach weiteren Opfern durchkämmen müssen und noch vieles mehr, ich weiß. Aber Ron ist da draußen und wartet auf uns! Ich weiß, wie es war, dieser Mensch zu sein, und ich bin mir sicher, dass ich es nicht so schlimm hatte wie er!"
„Ich sorge mich auch um Ron, Hermine. Ich weiß, was wir zu tun haben. Wir versuchen, uns so schnell wie möglich wieder zusammenzufinden, und sobald wir das geschafft haben, plane ich eine Rettungsmission für Ron und die anderen. Er ist wichtig für uns, aber jeder andere, der vermisst wird, ist auch für andere Leute wichtig –"
„Das weiß ich! Du hörst mir nicht zu! Wir haben genug Leute, besonders jetzt, wo wir –"
„Hermine! Wir sammeln fähige Leute und unsere Ressourcen, um mehrere Suchteams für alle Vermissten zu bilden, aber wir haben nicht genug Leute, die nicht schon mit andere Aufgabe beschäftigt sind, oder deren Aufenthaltsort wir kennen, um jetzt bereits ein Team zu bilden! Wir –"
„Dann finde heraus, wo sie sind, Lupin! Ron könnte sterben, und du, und du –"
Hermine bricht ab, denn ein plötzlicher, angespannter Blick überwältigt Lupins Gesicht. Da ist Verzweiflung, aber da ist auch etwas anderes, tieferes und persönlicheres, das sie nicht kennt, außer dem Gefühl, dass sie hat. Weil er derjenige ist, der das Sagen hat, der der Beste in dieser Sache sein sollte und der das erledigen sollte, was zu erledigen war. Aber er konnte es nicht. Er konnte es nicht, weil niemand im Krieg gut genug war.
„Sag mir, was ich tun soll. Ich kann nicht nur hier sitzen. Ich kann nicht hier sitzen, Lupin, bitte zwing mich nicht.", flüstert sie, und wenn sie gebrochen klingt, ist es nichts, was er nicht auch fühlt.
„Organisiere die Leute. Finde die Ordensmitglieder und Auroren, die bei guter Gesundheit sind und nicht anderweitig eingesetzt wurden. Schreibe die Namen zusammen und bring sie zu mir."
Tag: 1437; Stunde 14
Harry schläft, also besucht sie alle anderen, die sie an diesem Tag noch nicht gesehen hat, oder überhaupt nicht.
Anthony, Tonks, Angelina und Ernie McMillan. Sie sind alle positiver gestimmt, als sie erwartet hatte, und wenn Ron nicht vermisst und Neville nicht tot wäre, hätte sie vielleicht auch diese Blase der Hoffnung gespürt. Aber sie konnte nicht erleichtert sein, noch nicht. McGonagall war bereits Zuhause, ebenso wie George und Molly Weasley und Hagrid. Sie traut sich in Dracos Zimmer, und er starrt sie bereits an, als sie eintritt, aber sie hat es erwartet und ignoriert es.
„Wie hast du geschlafen?"
„Ich habe von Rehen geträumt, die sich mit Fischen paaren, was glaubst du, wie ich geschlafen habe?"
Sie verzieht das Gesicht. „Das ist eklig."
„Du bist nicht derjenige, der diese Bilder im Kopf hat. Obwohl es dir zu verdanken ist."
„Es ist nicht meine Schuld, dass du seltsame Sexträume hast, wenn du Schmerztränke nimmst, Malfoy."
„Sie geben mir zu viel davon, deshalb."
„Sag ihnen, sie sollen es lassen."
„Mach ich."
Hermine sieht sich nach einem Stuhl um, den sie an sein Bett heranziehen kann, findet aber keinen. Sie fragt sich, ob sie die Einzige ist, die ihn besucht. Auf seinem Nachttisch liegen weder Karten noch Süßigkeiten, und ihr wird klar, dass sie es wahrscheinlich ist. Draco hat Freunde, aber auf die distanzierte Art, so wie er manchmal mit den Leuten redet, und sie glaubt auch, dass die einzige Leute, die sich seinen Mist gefallen lassen, sie und wahrscheinlich Neville sind. Also nur noch... sie.
„Ich nehme an, du hast mir den Ring dagelassen." Sie nickt und er nickt im Gegenzug und sie fragt sich, ob er jemals in seinem Leben ein ‚Danke' zustande gebracht hat.
Das Schweigen dauert lange genug an, dass sie anfängt unruhig zu werden, und sie durchbricht es mit den ersten Worten, die ihr einfallen. „Ich habe Harry gestern Abend gesehen. Ich soll dir sagen, dass es ihm leid tut."
Dracos klopfender Daumen hört auf sich zu bewegen, und sein Gesicht verzieht sich zu etwas, das sie nicht einordnen kann. „Ist das so?"
„Ja. Ich weiß nicht, was ihm leid tut, aber...", sie stockt, weil sie an seiner Reaktion erkennt, dass er genau weiß, was Harry leid tut.
„Ihm tut etwas leid, das dich verdammt noch mal nichts angeht, Granger. Und du kannst Potter", er spuckt den Namen förmlich aus, „sagen, dass ich sein verdammtes Mitleid oder seine Schuldgefühle nicht brauche. Sag ihm das."
Hermine blinzelt überrascht über seinen plötzlichen Wutausbruch, der seine Gesichtszüge verdunkelt, und sie muss unbedingt herausfinden, was es damit auf sich hat, wenn sie Harry später sieht. „Schon gut, meine Güte."
Sein Kiefer arbeitet, seine Schläfen bewegen sich, während er mit den Zähnen knirscht, und er dreht seinen Kopf, um zu dem mit Vorhängen bedeckten Fenster zu schauen. Harrys Zimmer liegt im hinteren Bereich des Krankenhauses, dort, wo die Presse nicht hinkommt, aber Dracos Fenster liegt direkt an der Vorderseite des Krankenhauses. Sie vermutet, dass er die Vorhänge deshalb immer zugezogen hält.
Sie bleibt noch eine Viertelstunde bei ihm und seinem mürrischen Schweigen und versucht, sich mit ihm zu unterhalten, worauf er entweder nur kurz und knapp antwortet oder gar nicht reagiert.
Tag: 1437; Stunde: 15
„Deine Narbe ist weg."
„Was? Nein. Nein, sie ist nur verblasst." Sie nähert sich zögernd seinem Bett, den Blick auf seine Stirn geheftet, bis sie nahe genug bei ihm ist, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich noch da ist.
„Das ist seltsam."
„Ich glaube, es ist passiert, nachdem ich ihn getötet habe. Es war... als ob ich ihn spüren konnte. Mein Kopf ist einfach... explodiert. Es war der schlimmste Schmerz, den ich je gespürt habe, und ich bin einfach auf die Knie gefallen. Ich dachte, ich würde doch noch sterben. Dass... dass ich vielleicht nicht ohne dieses Stück von ihm in mir leben könnte. Dass all das paranoide Geschwafel von Moody am Anfang, dass ein Horkrux in mir sei, am Ende doch der Wahrheit entspricht."
„Das muss furchtbar gewesen sein."
„Das war es. Das war es, Hermine. Ich kann es gar nicht beschreiben. Ich bin ohnmächtig geworden, und als ich wieder zu mir gekommen bin, habe ich Ron ein Stück von mir entfernt liegen sehen. Ich glaube, ich bin nur deshalb nicht wieder ohnmächtig geworden, weil ich darauf gewartet habe, dass er sich bewegt, damit ich wusste, dass er noch lebt. Als er seine Augen geschlossen hat, habe ich das gleiche getan und bin dann hier wieder aufgewacht."
Die Informationen wirbeln ihr durch den Kopf, und sie kann nicht verhindern, dass sie sich fragt, warum sie Harry nicht auch entführt hatten. Und dann diese Wut der Paranoia, die der Krieg mit sich bringt, und sie fragt sich, ob Lupin Rons Tod hinter einer Geschichte über seine Gefangennahme verbirgt, damit sie das hier alles überstehen würde. Aber nein, denn er hätte es ihr gesagt, als sie ihn angeschrien hat. Er würde ihr keine falschen Hoffnungen machen.
Und plötzlich sieht sie in ihrem Kopf nur noch die Vorstellung von Harry und Ron, die nur wenige Meter voneinander entfernt auf dem Boden liegen. Blutdurchtränkte Kleidung und zitternde, erschöpfte Körper, blau gegen grün, während sie beide den Ruf zur Bewusstlosigkeit abwarteten, um sich zu vergewissern, dass der andere noch lebt. Sie ist sich nicht sicher, ob es einen besseren Weg gibt, der sie am Ende des Krieges darstellt.
„Du hast überlebt."
Er nickt, atmet aus, weil er es wahrscheinlich selbst noch nicht ganz begriffen hat. Er hat mehr als die Hälfte seines Lebens im drohenden Schatten von Voldemort gelebt und mit dem Wissen, dass er am Ende durch denselben Zauberstab sterben könnte, der seine Mutter und seinen Vater getötet hat. Harry kennt nur Gefahren und Bedrohungen, und er hat so lange damit verbracht, danach zu suchen und damit zu leben, dass er wahrscheinlich noch weniger weiß als sie, wie er ohne das alles leben soll.
Sie vertreiben sich die Zeit mit müßigem Geplauder, und als er zu seinen Fragen kommt, wie es den anderen geht, wird sie nervös. Sie weiß, dass er mit ziemlicher Sicherheit nach Draco fragen wird, und sie ist sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren soll.
„Hast du Malfoy wiedergesehen?"
„Das habe ich." Sie hält den Atem an.
„Hast du es ihm gesagt?"
„Habe ich."
Harry fragt nicht, was Draco geantwortet hat, denn sie glaubt, dass er weiß, dass es keine gute Antwort war. Stattdessen richtet er seinen Blick auf die verblassenden Farben des Lichts, das durch die Ritzen in den Jalousien fällt, und schweigt in Gedanken für einige Herzschläge.
„Ich habe Lucius Malfoy getötet, weißt du." Jetzt macht es klick; seine Entschuldigung, Dracos heftige Reaktion darauf.
„Gut."
Harry schüttelt leicht seinen Kopf. „Er war... er hatte Ron. Rons Zauberstab war weg, glaube ich, und er hat ihn einfach... gefoltert. Er hat ihm diesen Schnitt verpasst. In sein Gesicht. Hast du ihn gesehen?"
„Ja", lügt sie, und es tut weh.
„Zwei Todesser haben gegen mich gekämpft und ein weiterer ist von links gekommen. Ich konnte nichts tun. Er lag da, an einen Baum gelehnt, im Begriff zu sterben, und ich habe nichts getan."
„Das konntest du nicht, Harry. Wenn du es versucht hättest, wärst du selbst tot gewesen, bevor du Lucius aufgehalten hättest. Und Ron ist am Leben." Ist er das, ist er das, ist er das? „Es gibt keinen Grund, sich für etwas schuldig zu fühlen, dass nicht deine Schuld ist."
„Ich weiß. Ich weiß das. Deshalb fühle ich mich auch nicht schuldig. Dass würde ich... wenn etwas passiert wäre, meine ich."
„Aber du hast ihn getötet."
„Malfoy – Draco Malfoy. Ich habe hinüber geschaut, und er war da. Er hatte den Zauberstab seines Vaters in der Hand und sein Zauberstab war auf ihn gerichtet. Sie haben etwas gesagt, aber ich weiß nicht, was. Draco, seine Hand hat gezittert. Und ich musste wieder an den Astronomie Turm denken, denn es war genauso wie damals. Malfoy stand vor jemandem, den er töten soll, und er konnte es nicht tun. Er konnte es nicht tun. Ich habe es gesehen."
„Also hast du ihn getötet."
„Ja. Ja, das habe ich. Weil ich nicht wollte... Weil ich nicht wollte, dass Malfoy seine Meinung ändert. Ich wollte ihm keine Zeit geben, sich zu entscheiden, dass er es könnte. Wie kann ein Sohn mit dem Wissen leben, dass er seinen Vater getötet hat, egal auf welcher Seite er steht? Und ich habe es ihm nicht verübelt, Hermine, denn ich glaube, ich hätte es auch nicht gekonnt. Ich wollte nicht, dass er mit so etwas leben muss."
„Das ist verständlich."
„Es ist nur... es muss etwas bedeuten, weißt du? Seinen Zauberstab gegen seinen eigenen Vater erheben zu müssen. Es lässt mich daran denken, wie viel er wirklich aufgegeben hat. Am Ende hat es sich für ihn ausgezahlt, aber... Mein Gott, Hermine, sein Vater. Steht vor ihm und wartet darauf, dass er ihn tötet. Und dann ist es doch egal, auf welcher Seite du stehst, oder? Denn so oder so wirst du dich wie ein Monster fühlen."
„Aber du hast ihn getötet, Harry. Du hast verhindert, dass er es tun musste."
„Das ist es ja gerade. Ich... Ich habe ihn getötet, direkt vor den Augen seines Sohnes. Und ich weiß, wie sich das anfühlt, Hermine. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn jemand deinen Vater ermordet, den du liebst, egal was passiert. Und dann war ich da. Ich. Ich habe das Gleiche einem anderen angetan."
„Du hattest keine Wahl, Harry."
„Ich weiß! Ich weiß, dass es keine gab, aber das macht es nicht besser, oder? Weil ich den Vater eines Mannes vor seinen Augen getötet habe."
„Draco wusste, dass es getan werden muss, Harry. Er wusste es, und deshalb hat er versucht, es selbst zu tun. Wenn überhaupt, ist er eher dankbar, dass du es ihm abgenommen hast, als dass er wütend auf dich ist."
„Ich wollte nur..." Er schüttelt den Kopf. „Malfoy hat sich danach abgewendet, sich übergeben und geweint. Nicht auf wirklich dramatische Weise, aber gerade so sehr, dass ich sehen konnte, dass sein Gesicht nass war. Dann hat er sich wieder umgedreht und... Und er hat mich direkt angeschaut. Direkt, Hermine. Und ich schwöre bei Gott, ich habe mich noch nie in meinem Leben so schuldig gefühlt. Mir war nach Weinen zumute. Mir war kotzübel. Es war Lucius Malfoy, und ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt, weil ich einem anderen Menschen wehgetan habe."
„Du hast getan, was getan werden musste, Harry. Er versteht das, da bin ich mir sicher. Du hast keinen Grund, dich schuldig zu fühlen. Lucius war ein furchtbarer, schrecklicher Mensch."
„Ich weiß, dass er das war. Aber ich... ich glaube nicht, dass ich die Art, wie er mich danach angesehen hat, jemals wieder vergessen werde. Ich glaube, ich werde den Rest meines Lebens mit Malfoys Gesicht leben, einfach so, eingebrannt in mein Gedächtnis."
„Wenn du es nicht gewesen wärst, wäre es jemand anderes gewesen. Du hast das Richtige getan."
„Vielleicht.", flüstert er. „Ja. Ja, das habe ich. Aber jetzt damit klarzukommen, ist so schwer."
„Ich glaube, die richtigen Entscheidungen sind immer die Schwersten."
„Und man sagt, Gott will nicht, dass wir Sünder oder böse sind."
Sie lächelt, und er antwortet ihr mit einem schwachen Lächeln, lässt sich in die Kissen zurücksinken und starrt wieder in stiller Traurigkeit zum Fenster.
Tag: 1438; Stunde: 17
Hermine hatte nicht mehr geschlafen, seit sie Harrys Krankenzimmer verlassen hatte, zu sehr war sie darauf versessen, die Leute für den Suchtrupp zu finden, bevor die Erschöpfung sie einholen konnte. Sie ist in drei Sicherheitshäusern und bei fünf weiteren Leuten Zuhause gewesen und hat trotzdem nur sieben Leute gefunden – einer von ihnen ist aus einer Kneipe in der Nähe des Krankenhauses gestolpert, als sie zurückgekommen ist, um nach den Leuten zu sehen.
Harry ist gerade dabei gewesen zusammenzupacken um zu gehen und Draco ist bereits weg gewesen. Sie weiß nicht, wie sie die Wahrheit über Ron noch lange vor Harry geheim halten sollte.
Sie steht in dem weißen Sicherheitshaus und starrt ausdruckslos auf das abstrakte Gemälde, das immer noch mit ihrem Kaugummi an der Wand hängt. Es kommt ihr wie Jahrzehnte vor, seit sie es mit Dean gemalt hat. Es sieht schlimmer aus, als sie es in Erinnerung hat, obwohl das an ihren müden Augen liegen könnte – aber wahrscheinlich nicht.
„Wo ist die Mutter von Malfoy?"
Hermines Kopf zuckt überrascht hoch, die Frage ist zusammenhangslos und sie braucht durch ihre Erschöpfung einen Moment, um sie zu begreifen. „Ich... weiß es nicht."
„Oh." Cho spielt mit ihren Fingern.
„Warum?"
„Ich war heute Morgen auf dem Malfoy Anwesen und Justin und Anthony standen am Fenster um etwas zu beobachten. Also bin ich auch rüber gegangen und habe Malfoy gesehen... Ich schätze, sein Vater wurde auf dem Anwesen begraben – er hatte etwas mit seinen Anwälten und einem Verwalter vereinbart, wie ich gehört habe, denn das Ministerium hätte ihn dort einfach verrotten lassen."
„Da bin ich mir sicher.", antwortet Hermine, um zu dem Teil über Draco zurückzukommen, als Cho zu lange innehält.
„Er stand nur eine Weile am Grab. Er war recht weit entfernt, aber Justin und Anthony haben gesagt, sie hätten ihn reden sehen, bevor ich gekommen bin. Dann at er angefangen, in der Erde zu wühlen... Ich dachte, wir müssten gleich rausgehen und ihn aufhalten. Manchmal werden Menschen vorübergehend wahnsinnig, wenn sie jemanden verlieren, weißt du? Aber dann habe ich gemerkt..., dass das bei ihm nicht der Fall war. Er hat nur ein kleines Loch gegraben und es dann wieder zugedeckt. Justin war der Meinung, er hatte es sich anders überlegt, aber ich glaube, er hat nur etwas hineingetan."
„Das ist seltsam."
„Ja. Vielleicht. Aber ich habe gerade darüber nachgedacht, wie schwer es für ihn sein muss. Dass sein Vater stirbt, weil er weiß, dass sein Sohn ihn verraten hat. Ich meine... wir wissen nicht, wer Lucius Malfoy war. Ein böser Mann, ja, aber wir wissen nicht, ob er ein guter Familienvater war, oder wie sehr er Draco geliebt hat. Verstehst du?"
Hermine nickt und murmelt ein „Ja.", als sie sieht, dass Cho sie nicht anschaut, sondern stattdessen in ihrem Fisch herumstochert. Sie fragt sich, wann die Leute plötzlich angefangen haben, sich einen Dreck um Draco zu scheren. Wann Harry und Cho und alle anderen angefangen haben, sich um ihn zu kümmern, obwohl sie eigentlich schon vorher hätten merken müssen, dass es in Ordnung ist. Aber vielleicht liegt das nur an ihr. Hermine sieht immer die Menschlichkeit in Dingen, für die andere eine Weile brauchen, um sie zu begreifen.
„Er ist alleine." Cho zuckt mit den Schultern. „Sein Vater ist tot, seine Freunde sind tot oder in Askaban. Und man konnte es sehen, als ich ihn dort stehen sah und als er wegging. Weil er selbst auch weiß, dass er allein ist."
Er hat mich, der Gedanke schießt wie ein Speer durch ihr Gehirn, und sie bemüht sich, ihre überraschte Miene zurückzuhalten, die sich auf ihrem Gesicht ausbreiten will.
„Ich frage mich nur, wo seine Mutter ist. Ob sie sich versteckt oder ausgewandert ist oder so. Ich weiß es nicht. Es war... so traurig."
Tag: 1438; Stunde: 18
Auf der Titelseite der Zeitung steht in großen, fetten Buchstaben ‚Sieg!'. Darunter ist ein Bild von Harry zu sehen, wie er hinter eine Mauer aus Sicherheitsleuten auf dem Weg zum Apparationspunkt im St. Mungos ist. Er nickt dem Fotografen kurz zu, bevor ein Wächter die Sicht versperrt und die Kamera zu Boden drückt. Das Bild wandert nach unten zu den Füßen, dem Boden, den Wänden, bevor es sich wieder auf das Gesicht des Wächters konzentriert und wieder von vorne beginnt.
Hermine reißt die beiden Seiten der Geschichte aus der Zeitung, faltet sie sorgfältig und steckt sie in ihre Tasche. Wenn sie zum Grimmauldplatz zurückkehrt, wird sie es in ihren Koffer packen, um es in Erinnerung zu behalten. Sie hält es für wichtig, auch die guten Dinge mitzunehmen.
Sie lässt sich mit schlaffen Gliedern und Schmerzen ins Bett fallen. Sie wird in drei Stunden aufwachen, weil sie ihren Wecker gestellt hat, und dann wird sie Ron finden. Auch wenn sie es selbst tun muss – sie wartet keine weitere stille Sekunde mehr ab, die sich in ihr wie ein verzweifeltes Jahr anfühlt.
Tag: 1439; Stunde: 8
Lupin und McGonagall berufen eine Besprechung ein und stehen stoisch im vorderen Teil des Raumes im Ministerium. Sie besprechen die ‚letzte Schlacht', die fehlende Endgültigkeit und teilen allen mit, dass sie dorthin zurückkehren werden, wo sie vor der Schlacht waren – in die Sicherheitshäuser. Enttäuschung liegt in der Luft, aber sie überwiegt nicht das Gefühl des Sieges und des Überlebens, das sich seit der Bekanntgabe von Harrys Triumph über Voldemort breit gemacht hat.
Die letzten Todesser müssen noch gefangen genommen werden, bevor es wirklich etwas zum Feiern gibt, und bevor die Todesser noch mehr Menschen verletzen oder einen weiteren Dunklen Lord hervorbringen können. Es ist noch nicht sicher, dass sie endgültig gewonnen haben. Lupin macht das besonders deutlich. Die Todesser werden auf Rache aus sein, also sollten sie mit allem rechnen. Sie weiß nicht, ob die Gesichter von Lupin und McGonagall durch ihre neue Position als Kriegsoberhäupter strenger wirken, jetzt, da Moody weg ist, oder wegen des Krieges selbst.
Hermine kehrt zum Sicherheitshaus zurück und ihr fällt auf, dass mehrere Personen – darunter auch Harry und Draco – bei dem Treffen nicht anwesend waren und dass sie alle den Raum müde verlassen haben, obwohl sie beim Betreten des Raums noch gejubelt haben. Hermine allerdings kehrt von dem Treffen so zurück, wie sie auch hineingegangen ist, denn sie war sich Dank Draco all dieser Dinge bereits bewusst.
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Updates jeden Dienstag nächstes Kapitel am 20.09.2022!
