7. Kapitel

Charles Bingley hatte sich nicht davon abbringen lassen, Jane nachhause zu fahren. Jeglicher Widerspruch war zwecklos. Und noch viel mehr, er hatte sie am nächsten Tag sogar wieder daheim abgeholt und zu Elizabeth gebracht, damit sie ihren Wagen dort abholen konnte. Jane war hin und weg von dem jungen Mann, aber Charles war schlichtweg bezaubert. Zu seiner Frustration hatte sie es jedoch abgelehnt, sich später irgendwann einmal mit ihm zu treffen, aber Charles ließ sich davon natürlich nicht so leicht entmutigen. Er hatte eine Idee. Und für seinen Plan brauchte er die Hilfe seines Schwagers.

Da der folgende Tag ein Sonntag war, schaute Jane auf einen Sprung bei ihrer Schwester vorbei, bevor sie ihr Auto abholte. Elizabeth grinste, als sie den Porsche vor ihrem Haus anhalten sah.

„Na, große Schwester, du hast bei Mr. Bingley offenbar bleibenden Eindruck hinterlassen!" begrüßte sie Jane und schloß die Tür hinter ihnen.

„Unsinn," wehrte Jane errötend ab. „Er ist sehr nett, ja, aber er ist auch einfach nur höflich gewesen."

„Klar. Und deshalb hat er dich heute morgen gleich abgeholt und hierher gefahren," spottete Elizabeth.

„Er wollte sowieso nach seiner Schwester schauen."

Elizabeth wurde ernst. Sie hatte nebenan noch niemanden gesehen heute früh. Ungewöhnlich, denn normalerweise war zumindest William ein Frühaufsteher. Elizabeth hatte ihn öfters schon am Sonntag joggen gehen sehen oder früh mit den Kindern wegfahren. Heute lag das Haus ruhig da, und es war schon nach zehn Uhr. Als sie hinüberschauten, klingelte Charles gerade an der Tür und wurde auch eingelassen. Allerdings konnten sie nicht sehen, wer ihm die Tür geöffnet hatte.

„Na wenigstens werden sie sich nicht gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben," murmelte Elizabeth. „William war außer sich gewesen gestern abend."

Jane schüttelte den Kopf. „Wie kann Caroline auch so etwas tun!" sagte sie. „Ihre kleine Tochter so alleine lassen!"

„William hat sie gehörig zusammengestaucht. So wütend habe ich ihn noch nie gesehen. Und dabei dachte ich immer, Caroline genießt bei ihm Narrenfreiheit."

„Was meinst du damit, Lizzy?"

„Sie kann doch normalerweise tun und lassen, was sie will, findest du nicht? Egal, was sie sagt, egal, wie sie ihn oder die Kinder behandelt, er liebt sie trotzdem." Elizabeths Stimme war leise geworden und sie senkte den Blick. Jane schaute ihre kleine Schwester nachdenklich an.

„Sag mal, Liz, du bist nicht vielleicht zufällig in William verliebt, oder?" Elizabeth wurde rot, sagte aber nichts.

„Dachte ichs mir doch. Du warst am Freitagabend schon so komisch, als ich dich hier abgesetzt habe und William auch gerade ankam. Was ist da passiert, Liz?"

„Nichts. Nichts von Bedeutung. Er hat mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen, mit dem Finger meine Lippen berührt und mir eine gute Nacht und süße Träume gewünscht."

„Hat irgendwie etwas…hm…väterliches," meinte Jane.

„Ich muß dir noch etwas erzählen," sagte Elizabeth und erzählte von der kurzen Episode, nachdem William ihr die Einladung überbracht hatte.

„Nun ja, aber er hat der Versuchung am Ende nicht nachgegeben, nicht wahr?"

Elizabeth schüttelte den Kopf.

„Hast du den Eindruck, daß er dir aus dem Weg geht?"

„Nein. Aber unter der Woche sehen wir uns sowieso kaum. Er kommt erst spät von der Arbeit nach hause und jetzt, wo es so warm ist, sitzt er abends immer lange auf der Terrasse. Mit Caroline. Ich bleibe meistens im Haus."

„Vielleicht interpretierst du zuviel in sein Verhalten hinein. Du hast doch selbst gesagt, er liebt Caroline. Wahrscheinlich ist er wirklich einfach nur nett und hat eine fürsorgliche Ader."

„Wahrscheinlich."

Elizabeth war nicht ganz überzeugt. Wenn die Umstände anders wären… war das nicht gleichbedeutend wie ‚wenn ich nicht verheiratet wäre'?

„Ach Jane, warum muß das alles so kompliziert sein…" seufzte sie.

Jane nahm ihre Schwester in den Arm und drückte sie fest. „Liebe Lizzy, ich hoffe sehr, daß auch für dich der Richtige noch irgendwo lauert. Dessen familiäre Verhältnisse nicht so kompliziert sind."

Elizabeth schüttelte den Kopf. „Laß mich momentan einfach ein bißchen schwärmen und fantasieren, Jane." Ein Grinsen stahl sich über ihr Gesicht. „Aber was ist denn jetzt mit Mr. Bingley? Wird das was mit euch beiden? Er machte einen seeeeeehr interessierten Eindruck!"

Jane wurde rot. „Da ist ja noch Eric…"

Elizabeth rollte die Augen. „Eric! Der Typ hat dich schon so oft belogen und betrogen, Jane! Was hält dich bei ihm? Ist er denn so gut im Bett?"

„Lizzy!"

„Ist doch wahr. Charles Bingley hat meiner Meinung nach nur den einzigen Nachteil, daß er mit Caroline verwandt ist. Aber er macht einen netten Eindruck. Und Geld scheint er auch zu haben."

Jane grinste gegen ihren Willen. „Als käme es darauf an!"

„Nein. Aber vielleicht ist auch er gut im Bett."

Die Schwestern schauten sich einen Moment an und fingen dann gleichzeitig an, ziemlich albern loszukichern.

Jane verließ ihre Schwester eine halbe Stunde später und da das Wetter zwar sonnig, aber nicht so heiß war wie die vergangenen Tage, beschloß Elizabeth, ein bißchen mit dem Fahrrad durch die Gegend zu fahren. Sie füllte sich eine Flasche Wasser ab, machte sich ein paar Sandwiches zurecht und nach kurzer Überlegung packte sie eine Decke dazu und ihr aktuelles Buch. Da sie wie gehabt William aus dem Weg gehen wollte und ihr Garten momentan ein schlechter Platz war, um sich darin aufzuhalten, mußte sie eben flüchten. Sie ärgerte sich, daß sie sich aus ihrer eigenen Umgebung vertreiben ließ, aber sie mußte es durchhalten. Sie wollte William nicht sehen. Nicht, solange sie nicht wußte, woran sie bei ihm war.

William hatte am vergangenen Abend eine handfeste und leider auch äußerst lautstarke Auseinandersetzung mit Caroline gehabt und zum ersten Mal in ihrer Ehe auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen. Von viel Schlafen konnte allerdings keine Rede sein. Seine Gedanken fuhren Achterbahn. Da war der schreckliche Gedanke, was Maggie alles hätte passieren können und dazu kam die ihm unverständliche Ignoranz seiner Frau. Caroline hatte keinerlei Einsicht gezeigt. Im Gegenteil, sie hatte sich darüber beklagt, daß sie kein vernünftiges Personal hatten, er nur seinen Vergnügungen unter dem schlechten Einfluß ihres Bruders nachgehen und die ganze Arbeit an ihr hängenbleiben würde. Wer wollte denn unbedingt eine Einweihungsfeier haben? Wer mußte denn unbedingt in die Provinz ziehen? Hätten sie nicht in London bleiben können? Dort hatten sie eine vernünftige Nanny gehabt und dort wären solche Dinge erst gar nicht passiert.

William hatte ihrem Ausbruch ungläubig zugehört und zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit fragte er sich, ob Caroline ihn überhaupt um seiner selbst liebte. Und ob ihr ihre eigenen Kinder möglicherweise gleichgültig waren. Keine besonders angenehme Vorstellung.

Er hatte sich also auf die Couch verzogen, aber er konnte einfach nicht schlafen. Ein Bild trat ihm ständig vor Augen: Elizabeth Bennet, die mit seiner Tochter auf dem Arm am Straßenrand stand und sie davor bewahrt hatte, überfahren zu werden. Überfahren werden. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihm schlecht. Er würde nie, niemals im Leben den Unfall vergessen, bei dem seine Mutter ums Leben gekommen war. Der Fahrer war damals unerkannt geflüchtet und er selbst war lange danach noch traumatisiert und deswegen sogar in Therapie gewesen. Es war damals Caroline gewesen, die ihn auf andere Gedanken gebracht hatte. Sie hatte ihm eine völlig andere Welt gezeigt. Eine Welt, die ihn für kurze Zeit fasziniert hatte, aber der er schnell überdrüssig geworden war. Die Modeszene war nichts für ihn. Es war eine Welt, in die er nicht gehörte, er war viel zu bodenständig und zu konservativ dafür. Drogen und Exzesse lehnte er ab, die berüchtigten Parties besuchte er anfangs Caroline zuliebe, aber sie stießen ihn bald ab. Natürlich war er eine begehrte Beute unter Carolines Kolleginnen. Jung, nicht gerade häßlich, aus guter Familie und dazu noch wohlhabend – da hörte jegliche Freundschaft auf, sobald Caroline ihnen auch nur einmal den Rücken zugedreht hatte. Er hatte sich damals wirklich sehr oft seiner Haut wehren müssen, aber für ihn gab es nur Caroline. Als sie ihm schließlich erzählt hatte, daß sie ein Kind von ihm erwartete, war er der glücklichste Mensch der Welt gewesen.

Da William sowieso nicht schlafen konnte, konnte er sich genauso gut Gedanken über seine Ehe machen. Er war immer davon überzeugt gewesen, eine glückliche Ehe zu führen. Und Caroline war doch auch glücklich mit ihm, oder nicht? Sie führten ein luxuriöses Leben. Sie hatten Personal, das Caroline die Möglichkeit gab, sich auf ihrem Gebiet so gut es ging selbstzuverwirklichen. Sie hatte eine Vielzahl von Hobbies ausprobiert: Fotografieren, Reiten, Malen, diverse Sportarten, Segeln... wahrscheinlich gab es nichts, was sie noch nicht getestet hatte. Nichts davon hatte sie länger bei der Stange halten können. Es lief meist darauf hinaus, daß sie sich mit Freundinnen, meist ebenfalls aus der Modelszene, traf und Geld in wahren Shopping-Orgien ausgab. Ein Einkaufsbummel in Paris? Kein Problem. Weihnachten in New York? Erster Klasse Flug und Nobelhotel inklusive. Seit sie nicht mehr selbst arbeitete, hatte sie bis auf eine Art „Apanage" von Charles keine eigenen Einkünfte, aber William kam jedesmal für ihre Eskapaden auf. Wahrscheinlich auch ein Fehler, dachte er. Sie konnte sich über nichts mehr freuen, vor allem nicht über Kleinigkeiten.

Ihm fiel eine kleine, fast unbedeutende, aber sehr bezeichnende Szene ein. Vor ein paar Tagen hatten sie draußen im Garten gesessen, die Kinder hatten miteinander gespielt, Caroline wie so oft telefoniert und er hatte versucht, sich auf sein Buch zu konzentrieren. Tim war irgendwann ins Haus gegangen und Maggie stromerte ziellos durch den Garten. William hatte sie liebevoll dabei beobachtet, wie sie an allen Blumen stehenblieb, aufmerksam daran roch und offenbar mit den kleinen Tieren und Insekten sprach, die sie unterwegs vorfand. Eine der Blumen hatte wohl ihre besondere Aufmerksamkeit erregt. Sie schnuffelte eine zeitlang daran, schloß fast genießerisch die Augen und versuchte schließlich, sie zu pflücken. William lächelte über ihre angestrengten Bemühungen, aber die Kleine gab nicht auf und war am Ende erfolgreich. So schnell sie konnte, eilte sie auf ihren kurzen Beinen zur Terrasse, wo ihre Mutter mittlerweile ihr Gespräch beendet hatte und gelangweilt in einer Modezeitschrift blätterte.

Maggie trug ihre kostbare Fracht vorsichtig in ihrer kleinen Hand, baute sich vor Caroline auf und strahlte sie an. „Für dich, Mama," sagte sie und hielt ihr das Blümchen hin, gespannt auf ihre Reaktion. Caroline blickte kurz auf, nahm die Blume, beachtete sie kaum und mit einem knappen „danke, Liebes," legte sie sie auf den Tisch. Maggie war sichtlich enttäuscht. „Riech mal dran, Mama."

„Später, Schatz."

William wollte eingreifen, aber in dem Moment kam Tim mit einem Ball in den Garten gestürmt und Maggie hatte die Blume augenblicklich vergessen. Als sie abends ins Haus gingen, lag sie immer noch auf dem Tisch.

William fragte sich, ob Caroline schon immer so gewesen war. Nein, war seine definitive Antwort. Sie liebte ihre Kinder, dessen war er sicher. Er nahm an, daß Caroline einfach nicht ausgefüllt war. Sie hatte keine eigene Arbeit, keine Herausforderungen mehr. Sie war gelangweilt. Und er gab sich die Schuld daran. Hatte er sie vernachlässigt? Arbeitete er zuviel? Eine Firma wie Darcy Consulting zu leiten war allerdings auch kein Pappenstiel. Es erforderte von ihm einen hohen Einsatz, oftmals auf Kosten seines Privatlebens und er hatte schlichtweg keine andere Wahl, wenn sie ihren Lebensstandard auch nur annähernd aufrechterhalten wollten. Von der Verpflichtung seiner Familie gegenüber ganz abgesehen.

William gestand es sich nur ungern ein, aber Caroline hatte sich nicht nur von ihren Kindern zurückgezogen, auch was ihr gemeinsames Liebesleben betraf, frustrierte ihn ein bißchen. Nicht nur ihre Idee mit den getrennten Schlafzimmern, nein, sie ging auch fast jeden Abend vor ihm ins Bett und egal, wann er nachkam, sie schien immer schon zu schlafen. Mit dem Rücken zu ihm. Wenn er sich dann trotzdem nicht abweisen ließ und zu ihr hinüberrutschte, kam meist keine Reaktion von ihr. Als sie das letzte mal miteinander geschlafen hatten, lag sie nahezu unbeweglich unter ihm und ließ alles wortlos über sich ergehen. Es war ein äußerst frustrierendes Erlebnis gewesen.

William zerbrach sich den Kopf, was er dagegen tun konnte. Fest stand, daß er seine Ehe nicht kampflos aufgeben würde. Vielleicht sollten sie einmal ein paar Tage wegfahren, nur sie beide alleine. Er hatte schon so lange keinen Urlaub mehr gehabt. Allerdings – seit sie in Meryton lebten, fühlte er sich ziemlich gut und ausgeruht. Er mochte die Gegend, er mochte die Ruhe hier draußen. Er konnte viel mit den Kindern in freier Natur unternehmen. Und seine Nachbarn waren nett.

Und hier kam zwangsläufig Elizabeth Bennet ins Spiel. William hatte in letzter Zeit ziemlich oft an Elizabeth denken müssen. Ihre Wärme, ihr weicher Körper, ihr weiblicher Geruch…er war körperliche Nähe nicht mehr gewöhnt und sehnte sich ganz einfach nach ein bißchen Zärtlichkeit. Sie im Arm zu halten hatte sich sehr gut angefühlt. Sie hatte auf ihn reagiert, genau wie er auf sie. Er dachte noch nicht einmal so sehr an Sex, sondern einfach an Wärme. Ok, Darce, wem willst du was vormachen, du hast sie in deinen Fantasien auch schon in deinem Bett gesehen, dachte er ironisch. Und zwar mehrfach. Und wenn du nur gewollt hättest, wäre sie höchstwahrscheinlich auch mit dir ins Bett gegangen.

Was ihn geritten hatte, sie am Freitagabend noch einmal zu berühren und sie am Samstagmorgen wie ein Idiot anzustarren, wußte er selbst nicht. Er konnte sich auch nicht erklären, warum er ständig nach ihr Ausschau hielt. Er hoffte jeden Tag, sie wenigstens zu sehen, einen kurzen Blick auf sie zu erhaschen. Abends saß er auf der Terrasse, tat so, als ob er lesen würde, aber in Wahrheit suchte er mit den Augen die Fenster ihres Hauses nach ihr ab. Aber sie ließ sich kaum blicken. Sie saß nicht mehr im Garten, machte sich rar. William hatte den Verdacht, daß sie ihm aus dem Weg ging. Er steckte in einem verdammten Zwiespalt. Er wollte seine Ehe retten, und er wollte Elizabeth. Und beides konnte er nicht haben.