Wer von ihnen beiden den ersten Schritt gemacht hatte, wußte am Ende niemand mehr. Es war auch irrelevant. Sie hatten einander eine gute Nacht gewünscht, sich einen Augenblick schweigend angestarrt und waren dann, wie durch fremde Mächte gelenkt, im gleichen Moment übereinander hergefallen. Elizabeth spürte Williams warme Hände auf ihrem nackten Körper, seine hungrigen Lippen auf ihren – und sie konnte nicht das geringste dagegen tun. Sie wollte auch nichts dagegen tun. Sie wollte nichts weiter, als sich ihm bedingungslos hingeben. William war fordernd, leidenschaftlich, riß sie vollkommen mit. Sekunden später fand sie sich auf dem Teppich liegend wieder, ihr Seidenhemd war hochgeschoben, William kniete über ihr, ihre Arme neben ihrem Kopf auf den Boden drückend, seine Lippen immer noch auf ihren. Puh, dieser Mann konnte küssen! dachte sie wie betäubt. Er war noch völlig bekleidet und sie wand sich voller Erregung und aufgestauter Erwartung unter seinem Körper. Für was brauchte er so lange? Sie wollte ihn sofort, verdammt! William spürte ihre Ungeduld, er ließ von ihr ab, richtete sich auf und blickte amüsiert auf sie herab. Ein leichtes Grinsen stahl sich über sein Gesicht. Elizabeth funkelte ihn herausfordernd an.
„Los, mach schon!" zischte sie mit vor Erregung geröteten Wangen. „Worauf wartest du?"
William lachte tief, was Elizabeth einen weiteren Schauer der Erregung über den Rücken laufen ließ. Er ließ von ihr ab und knöpfte mit aufreizender Langsamkeit sein Hemd auf, keiner von ihnen unterbrach den Blickkontakt. Elizabeth fuhr sich unbewußt mit der Zunge über die Lippen bei seinem Anblick – hmmmm, eine starke Brust zum Anlehnen! Achtlos warf William das Kleidungsstück hinter sich und beugte sich wieder hinunter zu Elizabeth, die ihre Arme und Beine um seinen Körper schlang und sich fest an ihn preßte. Wieder versanken sie in einem leidenschaftlichen Kuß und als sie plötzlich Williams Hände auf ihren nackten Brüsten spürte, keuchte sie überrascht auf und glaubte, in hellen Flammen zu stehen.
Exakt diesen Moment suchte sich Caroline Darcy aus, um ihren Mann anzurufen.
Beide erstarrten. Das Telefon klingelte und klingelte und holte sie schlagartig wieder ziemlich schmerzhaft auf den Boden der Tatsachen zurück. William zog seine Hände von ihrem Körper zurück und sie sahen sich fragend an – unentschlossen, wie zu reagieren war. Die Magie des Augenblicks war auf alle Fälle verschwunden. William seufzte und griff schließlich nach seinem Mobiltelefon. Mit einem letzten bedauernden und entschuldigenden Blick auf Elizabeth stand er auf und zwei Sekunden später hatte er seine Frau am Ohr.
Gequält schloß er die Augen, lehnte sich an die Wand und ließ Carolines Wortschwall über sich ergehen. Er hörte kaum zu. Sie erzählte irgendetwas davon, daß sie morgen vormittag wiederkäme und hoffte, sie könnten wie erwachsene Leute miteinander reden. In aller Ruhe. Und ob er sich nicht überlegen könne, wieder nach London zu ziehen. Sie plapperte noch minutenlang über ihre Freunde, die sie hier getroffen hatte und schrecklich vermißte und daß die Kinder noch nie so viel Spaß gehabt hätten und und und...
William wußte nicht, was er sagen sollte. Ziemlich einsilbig gab er seine Antworten und war froh, daß er nach zehn Minuten endlich auflegen konnte. Er schaute sich um und fand sich alleine im Wohnzimmer vor. Elizabeth war in der Zwischenzeit aufgestanden, hatte ihr Shirt züchtig zugeknöpft und war leise in die Küche gegangen, um ihn in Ruhe telefonieren lassen. William griff nach seinem Hemd, daß auf dem Bücherregal gelandet war und zog sich langsam an. Er verzog bitter das Gesicht. Normalerweise hätte er froh sein sollen, daß es nicht zum äußersten gekommen war, aber er war nicht froh. Ganz und gar nicht. Er war enttäuscht. Einfach nur enttäuscht und seltsam leer. Die abrupte Störung seiner Erregung verursachte ihm regelrecht körperliche Schmerzen.
Elizabeth erschien in der Tür. Auch sie sah nicht allzu glücklich aus. Keiner sagte ein Wort, es war auch nicht nötig. Beide waren sich darüber bewußt, was beinahe geschehen wäre. Und beide bedauerten, daß es nicht geschehen war. William trat zu ihr hin und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Ganz vorsichtig zog er sie an sich, küßte sie sanft und verließ das Haus. Keiner von beiden schlief in dieser Nacht besonders gut.
Mrs. Reynolds oben in ihrer Wohnung hatte ihren Arbeitgeber leise die Haustür schließen hören und schaute besorgt aus dem Fenster. Er war bei Elizabeth gewesen, für einige Stunden sogar. Sie seufzte leise und wappnete sich innerlich bereits für die vor ihnen liegenden Tage – irgendwie hatte sie das Gefühl, es war die Ruhe vor dem Sturm.
William hatte sich den nächsten Tag widerwillig freigenommen. Caroline hatte recht, sie mußten miteinander reden. Aber er hatte keine Ahnung, was dabei herauskommen würde. Er war davon überzeugt, daß Caroline sofort merken würde, daß mit ihm etwas nicht stimmte. Ihm war, als stünde auf seiner Stirn ‚ich bin ein Beinah-Ehebrecher' geschrieben. Das schlimme daran war, es machte ihm noch nicht einmal etwas aus – er sehnte sich mit jeder Faser seines Herzens nach Elizabeth. Er verbrachte den Montagmorgen mit nervösem Herumlaufen, Kaffeetrinken und dem Warten auf seine Frau. Seine Blicke wanderten immer wieder zum Nachbarhaus, aber von Elizabeth war nichts zu sehen. Wie es ihr wohl ging? War sie böse auf ihn? William nahm sein ruheloses Herumwandern wieder auf und beschloß, einfach abzuwarten, wie Caroline sich verhalten würde.
Elizabeth fühlte sich elend und wollte überhaupt nicht aufstehen. Sie hatte kaum geschlafen, ihre Gedanken waren bei William und der Frage, wie es weitergehen sollte. Oh ja, sie wären gestern abend im Bett gelandet, keine Frage. Und es wäre mit Sicherheit fantastisch gewesen. Und sie wußte, er wäre bei ihr geblieben heute nacht, sie wäre heute morgen an seiner Seite aufgewacht. Sie hätte die Augen aufgeschlagen und er wäre dagewesen, neben ihr liegend, ruhig schlafend. Sie hätte ihm beim Aufwachen beobachtet – er hätte verschlafen und mit zerzausten Haaren in die Welt geschaut, sie schließlich erkannt, müde, aber liebevoll gelächelt und sie hätten sich wieder und immer wieder geliebt. Den ganzen Morgen lang. Sie sah die Szene so deutlich vor sich, daß es ihr körperlich wehtat. Ihr wurde mit einem mal klar, daß sie keinen anderen Mann haben wollte außer ihm. Lieber bliebe sie für den Rest ihres Lebens alleine. Tränen traten ihr in die Augen und sie wälzte sich unruhig im Bett herum. Ihr Körper sehnte sich nach Entspannung, sie brauchte ein Ventil, nachdem sie gestern nacht nicht zu ihrem Recht gekommen war. Sie lachte bitter auf. Recht? Sie hatte kein Recht auf William. Sie würde eine bis dato glückliche Ehe zerstören und zwei süßen Kindern den Vater wegnehmen. Was war bloß mit ihr los? Sie kannte sich kaum wieder und sich wünschte so sehr, William wäre hier.
Elizabeth stand gegen elf Uhr an ihrem Fenster, das zur Straße hinausging und sah stumm mit an, wie die restlichen drei Darcys aus einer großen Limousine ausstiegen und von William in Empfang genommen wurden. Sie beobachtete ihn aufmerksam. Er sah blaß aus und sein Lächeln wirkte gezwungen, als er seine Frau begrüßte, die ihm, so ganz gegen ihre sonst so spröden Gewohnheiten, die Arme um den Hals legte und nahezu enthusiastisch küßte. Heute war es William, der sie nach kurzer Zeit mit einem unbehaglichen Lächeln von sich schob und wie als Schutzschild Maggie auf die Arme nahm. Die Freude, seine Kinder zu sehen, war jedoch aufrichtig. Er drückte Maggie an sich, wuschelte seinem Sohn spielerisch durchs lockige Haar, sagte irgendetwas zu ihm und die Familie verschwand im Haus.
Elizabeth hatte beschlossen, sich heute einfachen Arbeiten zu widmen, die geringe Konzentration verlangten. Sie war nicht richtig bei der Sache, ihre Gedanken schweiften ständig ab ins Nachbarhaus und zu gerne hätte sie gewußt, was drüben geschah.
Drüben war die Lage etwas angespannt. Jeder bemühte sich, nichts falsches zu sagen und behandelte den anderen mit Samthandschuhen. Mrs. Reynolds hatte schließlich die Kinder geschnappt und mit in den Ort genommen, um dort eine Kleinigkeit zu essen und William und Caroline die Gelegenheit zum ungestörten Reden zu geben. Caroline hatte sofort die Initiative ergriffen und sich noch einmal bei William entschuldigt, daß sie nicht auf Maggie aufgepaßt hatte. Nachdem er an diesem Abend so furchtbar zornig auf sie gewesen war – noch niemals hatte sie ihn so erlebt – hatte sie fast ein bißchen Angst bekommen. Normalerweise trug er sie regelrecht auf Händen, war großzügig in finanzieller Hinsicht, duldete alle ihre Eskapaden, unterstützte ihre oftmals abstrusen Ideen – Hauptsache, sie war glücklich. Aber nach dem Vorfall mit Maggie hatte sie eine ganz andere Seite von ihm kennengelernt.
Er hatte gedroht, ihr den Geldhahn zuzudrehen, nach Pemberley zu ziehen, dort ihren ganzen Freunden Hausverbot zu erteilen, das Personal zu kürzen, sie zu zwingen, etwas anständiges mit ihrer Zeit anzufangen. Und er hatte doch tatsächlich gewagt ihr vorzuschlagen, einen Benimmkurs mitzumachen! Caroline hatte sich zu sicher gefühlt und seine Drohungen zu Beginn nicht ernstgenommen. Er liebte sie doch schließlich, oder? Sie war die Mutter seiner Kinder und sie hatte kein eigenes Einkommen, es war seine verdammte Pflicht, sie finanziell zu unterstützen. Großzügig zu unterstützen. Außerdem hatte er jede Menge Geld.
Aber William hatte ihr recht schnell deutlich gemacht, wie ernst es ihm damit war. Er hatte als erstes ihre Kreditkarten eingezogen und in seinen persönlichen Safe gelegt, zu dem sie keinen Schlüssel hatte – natürlich. Und mit Geld, beziehungsweise dem Fehlen von selbigem, konnte man Caroline am effektivsten treffen. Oh ja, William Darcy war ein liebender Familienvater, der für seine Lieben alles menschenmögliche getan hätte und der sich auch bis zu einem gewissen Grad gutmütig ausnutzen ließ. Aber es gab Grenzen, die man bei ihm besser nicht überschritt. Caroline hatte ebenfalls vergessen, daß er gleichzeitig auch Geschäftsmann war, der sich in einem hartumkämpften Business jeden Tag aufs neue behaupten mußte. Er hatte es in relativ kurzer Zeit geschafft, aus einem alteingesessenen, zugegebenermaßen etwas angestaubten Familienunternehmen ein florierendes, international tätiges Geschäft zu machen und er hatte sein Unternehmen bestens im Griff. Darcy Consulting war seit einiger Zeit konstant unter den Top-3 der englischen Wirtschaftsprüfungsunternehmen zu finden. Dorthin war er natürlich nicht mit Zaudern, Sanftmut und Nachgiebigkeit gekommen oder weil er ein so lieber und netter Kerl war – hier brauchte er auch eine gehörige Portion unangenehmerer Eigenschaften wie der Bereitschaft, sich auch mal mit unpopulären Entscheidungen unbeliebt zu machen, ein gewisses Maß an Härte, Rücksichtslosigkeit, Durchsetzungsvermögen und so weiter. Das bedeutete nicht, daß er über Leichen ging und skrupellos war, aber er war in geschäftlichen Dingen ganz gewiß kein harmloser Schmusekater. Und er konnte auch privat durchaus ungeahnte Entschlossenheit zeigen, wenn er dazu gezwungen wurde. Seine Schmerzgrenze innerhalb seiner Familie war hoch, aber Caroline hatte es mittlerweile geschafft, sie zu übertreten.
Also hatte sie den ganzen Samstag überlegt und war zu dem Schluß gekommen, daß sie zuerst an der Stelle ansetzen mußte, die sie praktisch seit Maggies Geburt sehr vernachlässigt hatte: dem Schlafzimmer. Zuneigung zeigen, Zärtlichkeiten austauschen, sich im Bett nicht verwehren und selbst die Initiative ergreifen – das waren zunächst ihre wichtigsten Taten. Sie wußte, William war ein leidenschaftlicher und erfahrener Liebhaber, der niemals eine Frau unbefriedigt zurücklassen würde. Er kannte keine Scheu, war offen für alles und hatte schon so oft versucht, ihre Vorlieben und Wünsche herauszubekommen. Vergebens. Caroline wollte über dieses Thema mit ihrem Mann auch partout nicht sprechen. Er würde es nicht verstehen, noch schlimmer, er würde sie verachten, verabscheuen. Und so liefen ihre gemeinsamen Nächte meist so ab, daß sie auf dem Rücken lag und William den Rest überließ, was im Endeffekt für sie beide unbefriedigend war – im wahrsten Sinne.
Denn es war ganz und gar nicht so, daß Caroline keine eigenen Wünsche und Fantasien hatte – sie deckten sich bloß nicht mit denen ihres Mannes. Nicht im geringsten.
