Sie verließen gemeinsam Mrs. Reynolds' Wohnzimmer und machten sich auf den Weg nach unten. William ging voran und stoppte plötzlich abrupt auf den Stufen, als er eine Stimme ganz in der Nähe hörte. Elizabeth wäre beinahe auf ihn draufgefallen. Sie schaute ihn verständnislos an, dann hörte sie die Stimme auch.
„Bill!" zischte eine Frauenstimme. Und nach wenigen Augenblicken noch einmal. „Bill! Verdammt! Beeil dich!" William runzelte die Stirn. Es hörte sich nach Caroline an. Aber sie hatte ihn noch niemals „Bill" genannt und er hätte sich diese amerikanisierte Verunstaltung seines Namens auch ganz sicher verbeten. Elizabeth schaute ihn fragend an. Bevor einer von ihnen etwas sagen oder reagieren konnte, hörten sie die Stimme wieder.
„Verdammt, wo steckst du! Ah, da bist du ja! Hast du die Ketten? Und die Peitschen?"
Die Stimme kam offenbar vom Zugang zum Keller und eine hohe Männerstimme, ziemlich außer Atem, gab Antwort. „Ja, ist alles hier. Auch die Handschellen. Nur dein Outfit habe ich nicht."
„Natürlich nicht, du Idiot, daß habe ich selbst. Los, beeil dich ein bißchen! Es würde grade noch fehlen, wenn William uns hier erwischen würde!"
„Um deinen Mann brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Herrin. Den hab ich vor ungefähr einer halben Stunde oben im Haus am Fenster stehen sehen. Mit einer hübschen jungen Frau."
„Mit einer Frau?"
„Ja. Sehr attraktiv. Lange, dunkle Locken."
Caroline kicherte. „Ah. Die süße, reine, langweilige Elizabeth."
„Vögelt er sie?" fragte die Männerstimme desinteressiert und sowohl William als auch Elizabeth fuhren zusammen und starrten sich an.
„Keine Ahnung. Ich hätte nichts dagegen, ganz ehrlich gesagt. Dann würde er mich vielleicht endlich in Ruhe lassen."
Der Mann kicherte und Elizabeth schlug sich fassungslos die Hand vor den Mund. William war weiß wie eine Wand geworden. Er war nicht in der Lage, sich zu rühren. Das war nicht Caroline. Das konnte nicht sein.
„Wirst du heute nacht noch Zeit für mich finden, Herrin?"
„Nein. Zu riskant. Ich schaffe die Sachen Montag früh nach London, wenn William im Büro ist. Dann können wir uns sehen."
„Dann wirst du die Nacht mit deinem ahnungslosen Gemahl verbringen?"
Bevor Caroline etwas antworten konnte, war die Tür zum Keller mit einem lauten Knall aufgeflogen und William stand mit versteinertem Gesicht vor ihnen. „Vielleicht nicht mehr gar so ahnungslos, wie mir scheint."
Er war nicht überrascht, den kleinen, seltsamen Mann mit dem Priesterkragen vor sich zu sehen, der sich vor Schreck niederkauerte und am ganzen Leib zitterte. Er hielt ein ganzes Sortiment an Peitschen und Stachelbändern in der Hand. Seine Frau starrte ihn mit großen Augen an, gewann aber sofort die Fassung wieder, als sie Elizabeth hinter William stehen sah.
„Ah. Ich sehe, du hast dich mit Miss Bennet amüsiert."
Williams Augen verengten sich zu Schlitzen. „Am besten, du hältst den Mund, Caroline," sagte er leise, seine Stimme hatte einen drohenden Unterton. „Und du gehst jetzt am besten nach draußen und beendest die Party. Meinetwegen kannst du heute nacht noch hier bleiben, aber ab morgen früh will ich dich nicht mehr hier sehen."
Für mehr reichte seine Kraft nicht. Er konnte nicht glauben, was er eben hier zu hören bekommen hatte. Seine Frau – mit Peitschen, Ketten und was wohl sonst noch allem? Wie lange ging das schon? Wie konnte sie das vor ihm verheimlichen? Ihm fielen urplötzlich die Fotos ein, die er damals in New York gesehen hatte. Der kleine, seltsame Mann auf den Bildern war Bill Collins gewesen, er erinnerte sich jetzt wieder, woher er ihn kannte. Die Frau, die man nicht hatte erkennen können, konnte es tatsächlich sein? War das Caroline gewesen? Ging die Sache schon so lange? Und vor allem, was hatte sein Cousin damit zu tun? Wußte er Bescheid? Er hatte die Bilder schließlich gemacht.
„William, laß uns doch vernünftig …" begann Caroline, der langsam bewußt wurde, wie ernst er es meinte.
Sein eisiger, unversöhnlicher Blick ließ sie verstummen. Sie wußte, es war besser, ihn jetzt nicht zu reizen. Mit ein bißchen Glück würde sie ihn wieder herumkriegen.
Caroline befahl Collins, die Utensilien wieder in seinen Wagen zu bringen und ging dann in den Garten, um ihren Gästen eine erfundene Geschichte aufzutischen, damit diese verschwanden. Es war ihr peinlich und sie machte sich bei ihren Freunden ganz sicher zum Gespött, aber das wichtigste war nun erst einmal, William wieder zu besänftigen.
William war an der Kellertür stehengeblieben und rang um seine Fassung. Er brauchte Zeit, um diese Entdeckung zu verdauen. Die Vorstellung, daß seine Frau andere Männer auspeitschte, erniedrigte, fesselte und diese sie auch noch darum baten, bereitete ihm Übelkeit. Es erklärte jedoch einiges und ihm gingen reihenweise Lichter auf. Ihre Zurückhaltung seinen Zärtlichkeiten gegenüber zum Beispiel. Er erinnerte sich an die Episode mit den Handschellen. Sie hatte sich von ihm fesseln lassen wollen, aber es hatte sie im Endeffekt nicht genügend befriedigt. Was war mit ihr? Mochte sie es etwa auch, gequält zu werden? Wieso hatte sie ihm nie von ihren Neigungen erzählt? Warum wohl, gab er sich die Antwort selbst. Er hätte niemals bei ihren Spielchen mitgemacht. Er war nicht der Typ dafür. Und das wußte sie genau. Also hatte sie sich eine Parallelwelt aufgebaut. Er schüttelte fassungslos den Kopf. Caroline. Mutter seiner Kinder. Diese Frau war ihm plötzlich so fremd geworden. Ihm war schlecht.
Elizabeth hatte die Szene schweigend, aber bestürzt mitangesehen. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. William war so in Gedanken versunken, daß er sie nicht wahrnahm. Aber sie konnte ihn auch nicht einfach hier so zurücklassen. Sie trat näher an ihn heran und sah, daß er Tränen in den Augen hatte. Seine Ehe war in diesem Augenblick unwiderruflich in die Brüche gegangen, das wußte er. Und Elizabeth wußte es auch.
„William?" fragte sie leise. Er reagierte nicht, starrte weiter die Kellertür an, unfähig, sich zu rühren. Sie legte eine Hand auf seinen Arm und er zuckte zusammen. Langsam kam er wieder zu sich. „Es tut mir leid, daß du das hast mitkriegen müssen," sagte er leise und drückte sanft ihre Hand. „Ich glaube, das muß ich erst einmal verkraften."
Elizabeth sah besorgt zu ihm hoch. „Kann ich dir irgendwie helfen?"
Er lächelte traurig. „Momentan nicht, danke für das Angebot."
„Dann soll ich dich vielleicht besser alleine lassen?"
William nickte abwesend und Elizabeth verließ zögernd das Haus.
William stieg langsam die paar Stufen nach oben. Er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Andauernd gingen ihm Bilder von Caroline in Lederkluft durch den Kopf, in der Hand eine Peitsche, vor sich Bill Collins im Stachelhalsband knieend. Ihm war schlecht. Er wollte Caroline heute nacht nicht mehr sehen, er wollte sie nie mehr wiedersehen. Müde ließ er sich in seinen Lieblingssessel fallen und starrte vor sich hin. Betrinken mochte er sich nicht, viel lieber hätte er etwas an die Wand geworfen. Aber selbst dafür war er zu benommen. So saß er in seinem Sessel, unfähig, etwas zu tun, bis er schließlich in einen unruhigen und ungemütlichen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen erwachte er früh und es taten ihm alle Knochen weh, von seiner verletzten Seele ganz zu schweigen. Er fühlte sich noch immer schlecht, aber nun war er entschlossen, die Sache so schnell wie möglich zu bereinigen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit Caroline die Ehe weiterzuführen, allein der Gedanke daran machte ihn krank. Fast noch mehr getroffen hatte ihn ihre Bemerkung, daß es sie nicht stören würde, wenn er etwas mit Elizabeth angefangen hätte, sondern sie es im Gegenteil noch begrüßen würde. Er, der seit Wochen ein schlechtes Gewissen mit sich herumtrug, weil er Interesse an einer anderen Frau hatte, war schon seit Jahren betrogen worden. Nein, der Zug war abgefahren. Caroline hatte keine Chance mehr, dessen war er sicher. Da würde er drüber schlafen können, so oft er wollte, ihre Ehe war unwiderruflich vorbei. Endgültig.
William benutzte das untere Bad und überlegte, was er heute machen sollte. Es war Sonntag. Er wollte Caroline nicht sehen und hoffte, sie wäre bis heute Abend verschwunden. Wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte, kam auch umgehend seine härtere, „geschäftliche" Seite zum Vorschein – dann zog er eine Sache auch durch, mit allen Konsequenzen. Er würde sich auf keine Diskussionen mit ihr mehr einlassen.
Nach Pemberley wollte er nicht schon wieder fahren. Er wollte aber auch niemanden sehen. Was blieb ihm übrig? Die Kinder irgendwohin mitnehmen? Nein, keine gute Idee. Er beschloß, nach London in sein Büro zu fahren. Dort konnte er sich entweder mit Arbeit ablenken oder in Ruhe überlegen, wie er weiter vorgehen wollte.
Eine Stunde später betrat er das Gebäude der Darcy Consulting in der Londoner Innenstadt. Natürlich war keine Menschenseele hier, Sonntagsarbeit war hier nicht üblich. Die Mitarbeiter konnten sich im Notfall von zuhause aus auf den Firmenserver einwählen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er selbst zum letzten Mal an einem Sonntag hiergewesen war. Es mußte vor Tims Geburt gewesen sein, da er seit diesem Zeitpunkt streng darauf geachtet hatte, die Wochenenden komplett mit seiner Familie zu verbringen. Seine Familie... er seufzte. Die düsteren Gedanken ließen ihn nicht los. Caroline mußte schon seit langer Zeit ein Doppelleben führen, dachte er. Er fragte sich, ob er vor lauter Verliebtsein viele Anzeichen dafür erst gar nicht bemerkt hatte. Dazu kam, daß er einen verantwortungsvollen Job hatte und entsprechend lange und ungeregelte Arbeitszeiten. Oft war er auf Dienstreisen. Er hatte versucht, viel von zuhause aus zu arbeiten und einen Teil der Dienstreisen durch Videokonferenzen zu ersetzen. Seine Wochenenden waren ihm heilig. Manchmal hatte er sogar Caroline auf seinen Reisen mitgenommen und sie hatten ein langes, faules Wochenende in einem Luxushotel drangehängt. Hatte sie daran keinen Spaß gehabt? War sie nicht gerne mit ihm zusammen gewesen? Doch, wahrscheinlich schon. Wenn das Ziel nach ihren Vorstellungen war. Sie war eher bereit gewesen, mit nach New York oder Paris zu kommen als in weniger vornehme Gegenden. Möglicherweise hatte er sich auch vieles ein- oder schöngeredet.
Tatsache war, dass Caroline von Anfang an gerne Personal um sich gehabt hatte, auch für die Kinder. Wieso hatte er erst kürzlich herausgefunden, daß sie tagsüber so gut wie nichts mit ihnen unternahm? William war geschockt von der Tatsache, daß er seine Frau anscheinend überhaupt nicht kannte. Und er fragte sich, wie groß sein Anteil Schuld daran war.
Die erste Stunde in dem verwaisten Gebäude verbrachte William damit, sich ganz seinen Gedanken hinzugeben. Er hatte sich einen Kaffee geholt und seinen großen Chefsessel ans Fenster gerückt. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, dachte an die Zeit zurück, als sie sich kennengelernt hatten, als die Kinder zur Welt kamen. Er wollte sich einfach an die schönen Zeiten erinnern, denn er weigerte sich zu glauben, daß ihre ganze Ehe ein Fehler gewesen war. Ganz klar war für ihn weiterhin, daß es kein Zurück mehr für sie gab. Er würde die Scheidung so schnell wie möglich durchbringen.
Als er sich ein wenig gefaßt hatte, begann er, genauer zu überlegen. Zunächst brauchte er einen Anwalt. Er wollte den besten, der für Geld zu bekommen war. William graute bei der Vorstellung, was bei einer Scheidung alles zum Vorschein kommen würde. Er hoffte, daß er sich mit Caroline friedlich einigen konnte. Sie konnte keinerlei Interesse daran haben, ihr „Zweitleben" der Welt zu offenbaren. Und daß ihre Scheidung Interesse auslösen würde, war abzusehen. Der erfolgreiche Unternehmer und das ehemalige Topmodel, dazu der zu erwartende Streit um die beiden Kinder – die Klatschpresse konnte sich jetzt schon freuen.
William seufzte. Tim und Maggie waren natürlich die Hauptleidtragenden in dem ganzen Drama. Er wollte alles in seiner Macht stehende tun, sie herauszuhalten und das alleinige Sorgerecht zu bekommen. Irgendwie konnte er sich nicht so recht vorstellen, daß Caroline darauf bestehen würde, die Kinder zu sich zu nehmen. Wäre sie nicht viel eher froh, diese Verantwortung nicht übernehmen zu müssen? Seinetwegen konnte sie alle Immobilien außer Pemberley bekommen – er hatte zu keinem der Häuser und Wohnungen einen tieferen Bezug. William wollte sich friedlich einigen. Aber je nachdem, wie Caroline sich verhalten würde, würde er reagieren. Sie sollte sich bloß nicht allzu sehr darauf verlassen, daß er der liebe, nette, alles hinnehmende William war, wenn es um die Zukunft seine Kinder ging.
William konzentrierte sich auf die Aufgaben, die vor ihm lagen und schaltete jedes persönliche Gefühl erst einmal aus. Er zwang sich dazu, kühl zu bleiben. Seiner Frau, seiner Ehe und heilen Familie konnte er später immer noch hinterhertrauern. Aber er hatte keine Wahl.
Zunächst rief er den altgedienten Anwalt der Familie Darcy an, der zugleich die Interessen der Firma vertrat, Andrew Philips. Er entschuldigte sich für die Störung am Sonntagmorgen, sie plauderten ein paar Minuten über allgemeine Dinge und William erläuterte ihm schließlich sein Problem. Mr. Philips war zunächst betroffen über die Nachricht, aber William spürte, sein Bedauern hielt sich in Grenzen. Der erfahrene Anwalt und Freund der Familie Darcy war zum Glück Profi genug, um William den Tip zu geben, sich einen auf komplizierte Scheidungsfälle spezialisierten Anwalt zu nehmen, da seine eigene Fakultät die Wirtschaft war. Da auch Mr. Philips der Meinung war, daß der Fall viel Staub aufwirbeln würde, sollte er den besten engagieren, der für Geld zu bekommen war. Selbstverständlich kannte er den besten, vielmehr die beste: Charlotte Lucas, geradezu prädestiniert für solche Fälle.
Mr. Philips versprach, den Kontakt herzustellen und William war erleichtert, den ersten Schritt in sein neues Leben ohne Caroline gemacht zu haben.
William nutzte die Gelegenheit und die Ruhe, noch einige geschäftliche Dinge zu erledigen. Außerdem bot es eine willkommene Ablenkung. Er hatte ein schlechtes Gewissen seinen Kindern gegenüber – schließlich war heute Sonntag und damit Daddy-Tag – und rief Mrs. Reynolds an, daß sie sich bitte ein wenig um sie kümmerte, solange er unterwegs war. Er erreichte nur ihren Anrufbeantworter und hinterließ eine Nachricht.
Am frühen nachmittag machte er sich auf den Heimweg. Er hoffte, Caroline wäre seinem „Wunsch" gefolgt und verschwunden. Er hatte keine Lust auf weitere Diskussionen und schon gar nicht auf tränenreiche Schwüre und Beteuerungen. Aber das wäre auch gar nicht Carolines Stil gewesen. Sie würde wahrscheinlich viel eher versuchen, den Spieß umzudrehen und ihm ein Verhältnis mit Elizabeth zu unterstellen.
Elizabeth. Er hatte den ganzen Tag noch nicht an sie gedacht. Eine Beziehung mit ihr kam in seiner augenblicklichen Situation nicht in Frage, dachte er bedauernd. Er mußte erst sein Leben aufräumen und die Scheidung hinter sich bringen, um den Kopf überhaupt für eine neue Beziehung frei zu haben. William hoffte, daß er sich überhaupt jemals wieder auf eine Frau einlassen konnte und Caroline ihn nicht für den Rest seines Lebens diesbezüglich verdorben hatte. Was wäre, wenn auch Elizabeth ihre düsteren Geheimnisse hätte? Konnte er überhaupt jemals wieder eine normale Beziehung eingehen? Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Schließlich wußte er noch nicht einmal, ob sie ihn überhaupt haben wollte!
Als William das Haus in Meryton betrat, wurde er von Mrs. Reynolds aufgeregt empfangen. Sie war in Tränen aufgelöst. „Master William, Mrs. Darcy hat ihre Koffer gepackt und ist mit den Kindern abgereist. Sie hat gesagt, sie kommen nicht mehr zurück."
