William hatte kurzerhand beschlossen, auf gut Glück nach Meryton zu fahren, und zwar ohne Elizabeth vorher anzurufen. Die Angst, daß sie schon am Telefon nicht mit ihm sprechen wollte, war zu groß. Er wollte sie überraschen. Natürlich bestand die Möglichkeit, daß sie ihn gar nicht erst hereinließ oder daß sie gar nicht da war oder – und das wäre das schlimmste – daß sie nicht alleine sein würde.
Am kommenden Samstag faßte er sich also ein Herz und fuhr am Morgen los in Richtung Hertfordshire. Auf dem Rücksitz lag, sicher eingepackt und gut verstaut, Elizabeths Laptop. Sie würde ihm zumindest öffnen und ihren Computer an sich nehmen – das war vielleicht seine einzige Chance.
Er legte die Strecke in Rekordzeit zurück und es war gerade mal halb zwölf, als er vor Elizabeths Haus in Meryton anhielt. William blieb für einen Augenblick im Wagen sitzen und sah sich aufmerksam um. Das Haus war dunkel, noch nicht einmal in der Küche brannte Licht. Ob sie überhaupt zuhause war? Vielleicht war sie einkaufen. Weggefahren. Vielleicht schlief sie noch? Vielleicht hatte sie Besuch. Herrenbesuch. Nein, diesen Gedanken wollte William besser nicht weiter verfolgen.
William schüttelte angewidert den Kopf, als er seine Blicke schweifen ließ und diese auf das Nachbarhaus fielen. Die große, aufdringliche und unübersehbare Leuchtreklame war immer noch dort angebracht, aber das Haus lag ebenfalls still – natürlich, es war nicht die richtige Tageszeit für Aktivitäten dieser Art.
William überlegte. Er redete sich ein, daß er einfach noch ein wenig abwarten wollte, ob er irgendwelche Lebenszeichen im Haus entdecken würde, aber er wußte, er machte sich etwas vor. Er hatte schlicht und ergreifend Angst, Elizabeth gegenüberzutreten. Angst vor ihrer Reaktion. Angst vor Abweisung. Angst, daß sie ihn zum Teufel schicken würde. Und er durfte sich noch nicht einmal darüber beschweren, sollte das der Fall sein, wie er nur zu genau wußte.
Nach etwa zehn weiteren Minuten faßte er sich schließlich ein Herz und stieg aus. Er nahm den Computer an sich, holte tief Luft und klingelte an Elizabeths Tür. Nichts rührte sich im Haus. Es ging kein Licht an, kein Vorhang bewegte sich, nichts. William klingelte erneut, obwohl er wußte, es hatte keinen Sinn. Irgendwie glaubte er nicht, daß sie ihn vor der Tür stehen lassen würde, das wäre nicht ihr Stil. Sie war höchstwahrscheinlich wirklich nicht da.
Frustriert, aber auch irgendwie erleichtert über die Galgenfrist kehrte William zu seinem Wagen zurück, legte das Laptop auf den Beifahrersitz und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Sie war vielleicht übers Wochenende weggefahren, vielleicht bei Jane, oder bei ihren Eltern. Vielleicht war sie in Urlaub. Oder bei einem anderen Mann…William haßte sich dafür, daß er immer wieder auf diesen Gedanken kam. Und wenn es so wäre? Was sollte er dagegen tun? Er hatte es dermaßen vermasselt, er brauchte sich nicht zu wundern, wenn sie die Nähe eines anderen suchte. Einer, der ihre Liebe nicht mit Füßen trat.
William verscheuchte entschlossen die negativen Gedanken und beschloß, zunächst erstmal abzuwarten. Falls sie nur einkaufen war, mußte sie bald wiederkommen. Zur Not konnte er am Abend nach London fahren und in einer der Stadtwohnungen übernachten. Er hatte noch nicht einmal daran gedacht, eine kleine Reisetasche mitzunehmen für den Fall, daß es länger dauern würde. Erstaunt über sich selbst schüttelte er den Kopf. Wie hatte er sich das ganze überhaupt vorgestellt? Elizabeth würde ihm die Tür öffnen, ihm freudestrahlend um den Hals fallen und sofort mit ihm zurück nach Pemberley fahren, als wäre nichts gewesen? Na klar. Du bist so ein Idiot, Darce, murmelte er vor sich hin und sein Kopf sank aufs Lenkrad.
Es wurde vier Uhr am nachmittag, als Elizabeth endlich nach Hause kam. Sie bemerkte den dunklen Jaguar und seinen ungeduldig darin wartenden Insassen überhaupt nicht, der halb vor dem Nachbarhaus parkte. William hingegen durchfuhr es wie ein Stromschlag, als er sie sah. Sie trug ein dunkles Kostüm, ihre langen Haare waren elegant hochgesteckt und sie sah eher aus, als hätte sie einen geschäftlichen Termin wahrgenommen. Ihr Blick war ausdruckslos, ja sie erschien ihm fast müde. Für einen Augenblick versank William in ihrem Anblick und stellte sich vor, sie in die Arme zu schließen, ihre ungebändigten Locken von den Nadeln zu befreien, ihre weichen Lippen auf seinen zu spüren... Aber mit Träumen allein war es nicht getan. Von selbst würde sie nicht zu ihm zurückkommen, er würde höchstwahrscheinlich Schwerstarbeit leisten müssen, um überhaupt noch einmal eine Chance zu bekommen. Schließlich zwang er sich, auszusteigen und sich ihr zu erkennen zu geben.
Elizabeth bemerkte ihn nicht, als er die Tür seines Wagens verschloß und über die Straße kam. Sie hatte gerade die Haustür aufgeschlossen, als jemand ihren Namen rief. Für einen Moment erstarrte sie und rührte sich keinen Millimeter von der Stelle. Hatte sie richtig gehört? Natürlich hatte sie richtig gehört. Niemand anderes auf der Welt war in der Lage, ihren Namen so auszusprechen, daß es ihr wohlige Schauer über den Rücken jagte. Niemand außer William. Sie schloß kurz die Augen und wappnete sich für das, was vor ihr lag. Elizabeth hatte innerlich damit gerechnet, daß er irgendwann vor ihrer Tür stehen würde, aber er hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt für seinen Überraschungsbesuch aussuchen können. Sie wußte nicht, ob sie in der Lage sein würde, mit ihm sachlich und ohne Emotionen zu sprechen. Ihre Welt war momentan in erhöhter Aufruhr – und William Darcy war der hauptausschlaggebende Grund dafür.
Langsam drehte sie sich um und blickte in Williams tiefdunkle Augen, die sie so sehr liebte, daß es schon wehtat, und die sie nun zwar ein wenig zurückhaltend, aber trotzdem voller Wärme ansahen. Zu Williams großer Frustration erwiderte sie seinen Blick mit ernster, ja ausdrucksloser Miene. Noch nicht einmal ein angedeutetes Lächeln, gar nichts. Er schluckte hart. „Hallo Elizabeth."
„Hallo William," sagte sie leise und wandte den Blick ab. Sie machte keine Anstalten, die Haustür zu öffnen und ihn hineinzubitten. William trat nervös von einem Bein auf das andere, irritiert, daß sie nichts weiter sagte. Ein ungemütliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, bis William sich endlich daran erinnerte, daß er ja ihr Laptop dabeihatte.
„Ich...ich habe deinen Computer mitgebracht, Lie...Liz. Entschuldige, daß es so lange gedauert hat. Mrs. Reyn..."
„Danke," unterbrach ihn Elizabeth und nahm das Päckchen an sich. Williams enttäuschter Blick sprach Bände und es brach ihr fast das Herz. Wider besseren Wissens seufzte sie tief und öffnete die Haustür. „Möchtest du hereinkommen?" fragte sie zurückhaltend, obwohl alles in ihr schrie, daß sie ihn besser wegschicken sollte. Aber es wäre äußerst schäbig von ihr gewesen, ihn nicht hereinzubitten.
„Gern."
Elizabeth ließ ihn eintreten und im Wohnzimmer Platz nehmen. „Ich ziehe mich nur schnell um und bin gleich wieder da. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?"
William schüttelte den Kopf. Er fühlte sich unwohl, wie ein geduldeter, unwillkommener Gast. Er wußte nicht, wie er das durchstehen sollte. „Danke, nein."
Elizabeth nickte und eilte nach oben in ihr Schlafzimmer. Sie hätte sich nicht unbedingt umziehen müssen, aber sie brauchte einfach einen Moment für sich, um mit der Tatsache fertig zu werden, daß William Darcy hier in ihrem Wohnzimmer saß. Und höchstwahrscheinlich nicht nur Belanglosigkeiten mit ihr austauschen wollte.
William konnte nicht stillsitzen. Zuerst ging er langsam an Elizabeths großem Bücherregal auf und ab, ließ seine Blicke über die verschiedenen Buchtitel gleiten, dann wanderte er durch das Zimmer in Richtung Fenster. Nervös trommelten seine Finger an das Glas. Elizabeth ließ sich Zeit. Sehr viel Zeit. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen, schließlich mußte er ja nicht unangemeldet hier aufkreuzen. Daß sie etwas außer Fassung geraten war, durfte ihn wahrhaftig nicht verwundern. Seufzend wandte er sich um. Einige Prospekte, die verstreut auf dem Tisch lagen, erregten seine Aufmerksamkeit.
„Leben und Arbeiten in Asien", „Auswandern – 1000 Antworten auf 1000 Fragen", „Greencard in den USA beantragen leicht gemacht", so und ähnlicher Art lauteten die Titel. William runzelte die Stirn. Es war sehr eindeutig, was Elizabeth vorhatte und er war gelinde gesagt geschockt. USA, Asien...wollte sie etwa so weit weg wie möglich vor ihm fliehen? William schüttelte frustriert den Kopf. Er wußte, er mußte alles tun, was in seiner Macht stand, um sie zum Bleiben zu bewegen. Selbst wenn sie vorerst nicht mit nach Hause, nach Pemberley kommen wollte – er durfte nicht zulassen, daß sie hier sämtliche Brücken abbrach.
Sein Blick fiel auf zwei schmalere Broschüren offenbar von irgendwelchen Krankenhäusern, aber bevor er genauer hinschauen konnte, kam Elizabeth zurück und er wandte sich ab. Schließlich sollte sie nicht denken, er würde in ihren privaten Sachen wühlen.
William schenkte Elizabeth ein scheues Lächeln, daß sie immer noch nicht erwiderte. Gerne hätte er sie geschüttelt, so frustriert und hilflos war er in der ganze Situation. Er zwang sich zur Geduld. Es war an ihm, den ersten Schritt zu tun. „Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, Elizabeth? Ich meine, es ist etwas vermessen, einfach hier aufzukreuzen ohne vorher anzurufen, aber…"
Elizabeth unterbrach ihn wieder. „Ganz offen gesagt, ich fühle mich ein wenig überrumpelt, nein, ich fühle mich SEHR überrumpelt. Es ist unfair, William, einfach so vor meiner Tür zu stehen. Ich hatte keine Gelegenheit, mich auf dich vorzubereiten. Aber danke, daß du mein Laptop mitgebracht hast."
William starrte sie an. Das lief nicht gut, das lief ganz und gar nicht gut. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Es geschah ihm recht, daß sie ihn nicht gerade mit offenen Armen empfing. Er hatte ihr keine Gelegenheit gegeben, sich auf seinen Besuch einzustellen.
„Elizabeth, ich möchte gerne mit dir reden. Ernsthaft reden. Ich sehe ein, daß es ein Fehler war, nicht vorher Bescheid zu sagen. Ich mache Dir einen Vorschlag. Ich fahre heute nacht nach London und warte dort so lange, bis du Zeit für mich hast und mich sehen willst. Bis du mit mir reden kannst. Was hältst du davon?"
Elizabeth holte tief Luft. Nein, das war keine Option. Sie war unvorbereitet, daß stimmte, aber es war besser, das Gespräch jetzt gleich hinter sich zu bringen als es noch weiter hinauszuzögern. Sie würde sich anhören, was er zu sagen hatte, ihm verzeihen und ihn dann bitten, aus ihrem Leben zu verschwinden. Es würde keine zehn Minuten dauern, dessen war sie sicher.
„Nein, wir können jetzt reden. Laß es uns hinter uns bringen."
William runzelte die Stirn. Auch das hörte sich alles andere als vielversprechend an. Aber er ließ sich nicht entmutigen. Er hatte eine schwierige Aufgabe zu erfüllen, wahrscheinlich die schwierigste, die er je in seinem Leben hatte bewältigen müssen, und er mußte es gut machen. Er hatte nur diese eine Chance.
William begann, Elizabeth ausführlich zu erklären, wie er Mrs. Northams Intrigen auf die Schliche gekommen war und daß er ihr fristlos gekündigt hatte. Elizabeth war fassungslos über so viel Gemeinheit. Immer wieder schüttelte sie ungläubig den Kopf, Tränen in den Augen. Sie schwieg, nachdem William geendet hatte und wich seinem Blick aus.
„Elizabeth, ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir alles tut. Es war so unglaublich dämlich von mir, dir nicht zu glauben, und ich weiß, daß ich nicht erwarten kann, daß du mir so schnell vergibst. Was ich getan habe, ist unentschuldbar, und ich habe nur zu meiner Verteidigung vorzubringen, daß ich solche Angst hatte, einen ähnlichen Fehler zu begehen wie mit meiner ersten Ehe. Ich wußte überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte und habe prompt genau das falsche gemacht. Anstatt dir zu vertrauen, habe ich dich beleidigt, dich gekränkt, dich schließlich gar vergrault. Es tut mir so unsagbar leid, Elizabeth." Er machte eine Pause und schaute sie bittend an. „Bitte sag mir,ob und wie ich es wieder gutmachen kann, Liz. Sag mir, ob du uns noch eine Chance gibst."
Elizabeth schwieg einen Moment nachdenklich. Also hatte sie recht gehabt mit ihrer Skepsis gegenüber Mrs. Northam – sie steckte hinter all dem Ärger und William hatte sie sofort konsequenterweise entlassen. Es verschaffte ihr keinerlei Genugtuung. Fakt war, daß William ihr nicht geglaubt hatte und das konnte sie nicht so schnell verzeihen, geschweige denn vergessen. Aber das war weiß Gott nicht ihr einziges Problem im Moment.
„William," begann sie leise und bemühte sich, ihm nicht in die Augen zu schauen, „ich bin froh, daß sich alles aufgeklärt hat und auch du davon überzeugt bist, daß ich nichts unrechtes getan habe. Aber…" und der Ärger und die Enttäuschung, die sie seither mit sich herumtrug, kamen wieder hoch, „aber Fakt ist, daß du mir zu dieser Zeit nicht geglaubt hast. Du wolltest glauben, daß ich diese ganzen dämlichen Kataloge angefordert hatte, daß ich deine Kinder loswerden wollte – ja sogar, daß ich mit Ferrars wieder etwas angefangen hatte. Es gab dir die schöne Ausrede, dich im Endeffekt doch nicht fest an mich binden zu müssen, da du ja Angst hast, auch deine zweite Ehe in den Sand zu setzen." Elizabeth schüttelte traurig den Kopf. „William, wenn du mir schon bei solchen Lappalien nicht vertraust, mir nicht glaubst, wie soll das erst werden, wenn wir uns größeren Herausforderungen stellen müssen? Wenn du heimlich immer Angst haben mußt, daß ich dich nur ausnutzen könnte, nur an dein Geld wollte, sobald ich dich erst einmal in eine Ehe gelockt habe. Ich kann mit diesem Mißtrauen nicht leben, William. Es tut mir leid."
William starrte sie ungläubig an. „Heißt das, daß du unsere Beziehung damit für beendet erklärst? Uns keine Chance gibst? Möchtest du wirklich alles wegwerfen, was wir bisher hatten? Das kann nicht dein Ernst sein, Elizabeth!"
Elizabeth war aufgestanden, Tränen in den Augen. Sie trat ans Fenster und schaute nachdenklich hinaus, ihre Hand wie schützend auf ihrem Bauch liegend. „Ich denke, es ist das beste, William. Ich habe doch noch nie in deine Kreise gepaßt, wenn du ganz ehrlich bist. Möglicherweise kommt irgendwann alles zusammen. Jetzt bist du vielleicht noch verliebt in mich, aber später wirst du auf den Boden der Tatsachen zurückkommen und denken, warum habe ich bloß keine Frau aus meiner Gesellschaftsschicht geheiratet! Ein Landei, dem du nicht mal vertrauen kannst werde ich sein und daß möchte ich mir und auch dir nicht antun."
„Elizabeth, du hast dich bei den vergangenen Veranstaltungen hervorragend geschlagen. Und niemals würde ich es bereuen, dich geheiratet zu haben. Ich denke, der Vorfall mit Mrs. Northam war ein Warnsignal, daß uns gezeigt hat, wo unsere Schwächen liegen und wie wir damit umgehen müssen. Lizzy, ich möchte nichts weiter, als daß du mir – uns – eine zweite Chance gibst. Und ich möchte weiterhin, daß du darüber nachdenkst, ob du mich nicht doch irgendwann heiraten willst."
Elizabeth schüttelte den Kopf. „William, ich habe mir überlegt, wegzuziehen. Weit weg, vielleicht nach Kanada. Ich hatte heute ein Vorstellungsgespräch bei einer kanadischen Bank, die jemanden mit meiner Erfahrung sucht. Die Stelle ist in Vancouver. Nur müßte ich bald umziehen, sonst…" Sie schwieg und schlug sich aus Reflex auf den Mund, so als hätte sie beinahe etwas verraten, was sie nicht hätte verraten dürfen.
William stand auf und trat zu ihr hin. Das konnte alles nicht wahr sein, oder? Nach Vancouver? Das würde sie ihm tatsächlich antun? William berührte, als er zu ihr ans Fenster gehen wollte, aus Versehen den Stapel Prospekte, die auf dem niedrigen Tisch lagen und riß sie beim Vorbeigehen mit nach unten. Er beugte sich nieder, um die Sachen wieder aufzuheben. Als sein Blick auf eine der Broschüren fiel, stockte ihm der Atem: Es war ein Informationsheft einer niederländischen Abtreibungsklinik.
