37. Kapitel

William starrte vollkommen schockiert, ja paralysiert auf das Heft in seiner Hand. Nein, nein, das durfte nicht wahr sein! Das konnte sie nicht in Erwägung ziehen. Warum hatte sie ihm nichts gesagt? Ging ihn das etwa nichts an? Williams Gedanken liefen Amok, er war vollkommen durcheinander.

Elizabeth, die die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut hatte, drehte sich zu ihm hin und runzelte die Stirn. Sie konnte von ihrer Position aus nicht sehen, was er da auf dem Boden machte und da er sich nicht rührte, trat sie besorgt näher. William wandte sich langsam um, als er sie näherkommen hörte und richtete sich auf. Wortlos hielt er ihr die Broschüre entgegen und Elizabeth seufzte leise. „Warum?" fragte er, sonst nichts.

Elizabeth ging wortlos an ihm vorbei und ließ sich auf die Couch fallen. Ihre Hände strichen geistesabwesend über ihren Bauch, ihr Blick schweifte einen Moment durch das Zimmer, bevor er auf William fiel. „Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde es behalten."

William war mit einer schnellen Bewegung aufgesprungen, erregt im Wohnzimmer auf- und abgelaufen und blieb nun vor Elizabeth stehen. Er hatte Tränen in den Augen. Tränen der Wut, Tränen der Enttäuschung, Tränen der Freude. In dieser Reihenfolge.

„Warum, Elizabeth? Warum hast du mir nichts gesagt, warum finde ich hier solche Broschüren, warum redest du davon, auszuwandern? Ich verstehe nicht! Egal, was zwischen uns vorgefallen ist, aber daß du mir so etwas verschweigst? Du weißt genau, wie glücklich mich diese Nachricht gemacht hätte. Nichts auf der Welt könnte mich glücklicher machen. Weißt du, was du mir damit antust, zu schweigen, zu planen, heimlich und endgültig aus meinem Leben zu verschwinden? Zusammen mit meinem ungeborenen Kind? Ich kann es nicht glauben, Elizabeth, ich kann es einfach nicht glauben. Ich…ich bin vollkommen sprachlos." Er machte eine kurze Pause und wischte sich unwillig eine Träne weg, die ihren Weg auf seine Wange gefunden hatte. Elizabeth schaute ihn an und wollte gerade etwas sagen, als William eine ungeheuerliche Idee kam.

Sein Gesicht verlor jegliche Farbe und er mußte sich an einem Stuhl festhalten, so sehr schockierte ihn die plötzliche Erkenntnis. „Natürlich," sagte er mit kaum hörbarer Stimme, „natürlich gibt es einen Grund, mich nicht darüber zu informieren. Ich Idiot, wie konnte ich so dämlich sein, so ignorant. Es ist gar nicht mein Kind, nicht wahr?" Er lachte bitter auf.

Das war zuviel für Elizabeth. Sie fuhr hoch, stürzte auf ihn zu und baute sich mit ihren ganzen 165 Zentimetern vor ihm auf, ihr Blick äußerst unheilvoll und ihre dunklen Augen loderten voller Zorn. Ihre Hände waren fest in ihre Hüften gestemmt.

Sie stand vor ihm, schaute ihn einen Moment durchdringend an und versetzte ihm mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, eine schallende Ohrfeige. „Das ist dir hoffentlich Antwort genug!" fauchte sie und wandte sich ab.

William, von dieser Aktion völlig überrascht, machte aus Reflex einen Schritt zurück, sah jedoch den flachen Kaffeetisch nicht, der direkt hinter ihm stand, stolperte und verlor das Gleichgewicht. Ein weiterer Schritt machte alles nur noch schlimmer, er verhedderte sich mit seinen langen Beinen und ehe er es sich versah, stürzte er zu Boden und schlug mit dem Hinterkopf auf die Tischkante.

Elizabeth schrie erschrocken auf, als er aufstöhnte und dann vollkommen reglos und mit geschlossenen Augen auf dem Teppichboden liegenblieb.

„William! William, komm wieder zu dir, um Gottes Willen!" rief sie und stürzte an seine Seite. Sie streichelte ihm vorsichtig die Wange, fühlte, ob er irgendwo blutete, aber konnte glücklicherweise nichts feststellen. Er reagierte nicht. „Oh verdammt William, bitte werd wieder wach, bitte!" Sie weinte. Das hatte sie natürlich nicht gewollt, sie hatte die ganze verdammte Auseinandersetzung nicht gewollt. Aber daß er ihr unterstellte, ein Kind von einem anderen Mann zu bekommen, daß schlug dem Faß den Boden aus! Was sollte sie bloß tun? Sie wußte sich keinen anderen Rat als den Rettungsdienst anzurufen. William war beim besten Willen nicht wachzubekommen.

Zehn Minuten später kam der Rettungswagen. William war nicht wieder zur Besinnung gekommen und Elizabeth war außer sich vor Sorge. Sie sah hilflos und unter Tränen zu, wie die Rettungssanitäter William in den Krankenwagen verfrachteten und kletterte dann mit hinein, um ihn ins Krankenhaus zu begleiten. Sie machte sich solche Vorwürfe, aber andererseits war sie so überaus wütend auf ihn. Elizabeth ließ ihn während der Fahrt keinen Augenblick aus den Augen. Sie hielt vorsichtig seine Hand, der Sanitäter hatte es gestattet. Der Mann tröstete sie ein wenig und sagte, daß es schlimmer aussah, als es wirklich war und daß ihn die Ärzte ruckzuck wieder wachbekommen würden. Elizabeth zweifelte daran. Warum war er so lange bewußtlos? Konnte er sich so sehr verletzt haben bei diesem Sturz? Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie fühlte sich so unsagbar hilflos und schuldig.

William hatte eine Sauerstoffmaske über dem Gesicht und rührte sich nicht. Er atmete ruhig, aber er wollte einfach nicht wieder zu sich kommen. Elizabeth gingen die schlimmsten Horrorszenarien durch den Kopf. Wie oft hatte man schon von Komapatienten gehört, die jahrelang vor sich hindämmerten? Die vielleicht gar nicht mehr aufwachten und bei denen die Familie schließlich entscheiden mußte, ob die Beatmung und die künstliche Ernährung abgeschaltet werden sollten? Die dann grausam verhungerten… Der nette Sanitäter reichte ihr ein Taschentuch und tätschelte beruhigend ihre Schulter, als er ihre Tränen sah und sie dankte ihm schweigend. Es war so schrecklich. William würde sein drittes Kind niemals zu Gesicht bekommen, dachte sie schwermütig, er würde keines seiner Kinder heranwachsen sehen, ach ja, und sein Ungeborenes würde Bennet heißen, und noch nicht einmal seinen Namen tragen. Georgiana würde sie wahrscheinlich verklagen, sie würde….

„Elizabeth…"

Sie würde ihre ganze Macht, ihr ganzes Vermögen einsetzen, um gegen sie vorzugehen, sie vor Gericht zu zerren…

„Elizabeth…?"

Vielleicht würde sie sogar noch… Elizabeth schrak aus ihren trübsinnigen Gedanken hoch und blinzelte die Tränen weg. Hatte gerade jemand ihren Namen gesagt? Ihr Blick fiel auf die Krankentrage und auf William, der sie aus fast geschlossenen Augen ansah und ihre Hand leicht drückte, so zart, daß sie es kaum spürte.

Sie hatte keine Zeit mehr, ihm zu antworten, denn in diesem Augenblick fuhren sie an der Notaufnahme des Krankenhauses vor und William wurde vorsichtig herausgetragen und ins Gebäude gerollt. Während er hinter einer Milchglasscheibe verschwand, wurde Elizabeth gebeten, in der Zwischenzeit den Papierkram zu erledigen. Unkonzentriert und in Gedanken bei dem Mann, den sie liebte und der ihretwegen hier gelandet war, füllte sie die Zettel aus, soweit es ging und wurde anschließend in eine Art Aufenthaltsraum geführt.

Danach begann die Zeit des Wartens. Zwei Stunden mußte sie sich gedulden, bis ein Arzt zu ihr kam und sie über Williams Zustand informierte. Er hatte durch den Sturz eine Gehirnerschütterung davongetragen und litt, so wie es aussah, unter Gedächtnisverlust. Aber der wichtigste Satz für Elizabeth war, daß er bei Bewußtsein war und sie zu ihm durfte. Sie sprang auf und eilte sofort in Williams Krankenzimmer.

Zögernd trat sie an sein Bett, im Ungewissen darüber, wie er sie wohl empfangen würde. Würde er sie überhaupt sehen wollen? Aber William hatte die Augen geschlossen und gar nicht bemerkt, daß sie hereingekommen war. Sein Kopf schmerzte höllisch und Augen offenhalten und auch jede andere Bewegung strengte ihn zu sehr an.

„William?" flüsterte Elizabeth kaum hörbar, aber nicht leise genug. William öffnete ein Auge ein ganz kleines bißchen und versuchte zu lächeln, aber auch das tat weh.

„Lizzy…" murmelte er.

Vorsichtig trat Elizabeth näher an sein Bett und griff nach seiner Hand. William drückte sie sanft und schloß die Augen wieder.

„Was ist passiert, Liebes?" fragte er und seine Stimme zeigte den Grad seiner Erschöpfung nur zu deutlich an. Elizabeth biß sich auf die Lippen. Der Arzt hatte gesagt, William könne sich nicht mehr an alles erinnern.

„Du bist gestürzt und hast dir dabei den Kopf aufgeschlagen."

„Warum?"

„Du bist über meinen Kaffeetisch gefallen, gestolpert, und hast dabei wohl das Gleichgewicht verloren. Dann bist du unglücklich mit dem Kopf auf die Kante geprallt."

„Ich bin ein Tölpel." Er versuchte ein Lächeln, aber es tat weh.

„Kannst du dich an gar nichts mehr erinnern?"

„Denken tut weh, Lizzy. Mein Kopf…" er verzog vor Schmerz das Gesicht und stöhnte leise. „Ich…"

Aber in diesem Moment kam eine streng dreinschauende Krankenschwester ins Zimmer und bat Elizabeth, den Kranken nun in Ruhe zu lassen. Man hätte es auch Befehl nennen können.

„Ich komme morgen wieder, William, ok?" Sie drückte seine Hand und hauchte einen Kuß auf seine Wange. William öffnete ein Auge und hob die Hand an ihr Gesicht. „Ich liebe dich, Elizabeth," flüsterte er.

Elizabeth nickte bloß, unfähig, die Tränen noch länger zurückzuhalten, die sich in ihr aufgestaut hatten, und verließ eilig das Zimmer.

Am nächsten Morgen fuhr sie wieder ins Krankenhaus und traf William zu ihrer Erleichterung in einem wesentlich besseren Zustand an als gestern. Er war bei vollem Bewußtsein und öffnete die Augen, als sie das Zimmer betrat. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und er streckte ihr die Arme entgegen. Elizabeth nahm auf seinem Bett platz und ließ sich von ihm drücken. Sie erwiderte die Umarmung, wenngleich auch ein wenig zögernd.

„Hallo, Liebes," sagte William leise und hielt ihre Hand fest. „Ich freue mich, daß du mich besuchen kommst."

„Du siehst heute schon viel besser aus," sagte Elizabeth und drückte vorsichtig seine Hand, so als könnte sie zerbrechen.

„Mir geht es auch schon viel besser." William erwiderte den Druck und schaute sie fragend an. „Aber ich kann mich nicht an alles erinnern, was gestern passiert ist. Kannst du mir ein bißchen auf die Sprünge helfen? Ich habe keine Erinnerung an den Sturz, noch weiß ich, wie ich nach Meryton gekommen bin. Warum sind wir hier, Liz? Warum nicht auf Pemberley?"

Elizabeth schaute zu Boden. Liebe Güte, er erinnerte sich nicht daran, daß sie ihn verlassen hatte und wieder in Meryton lebte? Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Oder sollte sie darauf spekulieren, daß dieser Teil seines Gedächtnisses für immer verloren war und er gar nichts mehr wußte von dem ganzen Drama um Mrs. Northam?

„An was erinnerst du dich denn noch, William?" versuchte sie ihn ein bißchen auszuhorchen. Er runzelte die Stirn. „Ich habe nur ein paar Gedankenfetzen im Kopf, fürchte ich. Hatten wir irgendwie Streit, Liz?"

„Kannst du dich an Mrs. Northam erinnern?" fragte Elizabeth, ohne seine Frage zu beantworten.

„Ja, das Kindermädchen." William überlegte. „Irgendwas war mit ihr, nicht wahr? Hat sie gekündigt? Ich meine mich daran erinnern zu können, daß sie nicht mehr für mich arbeitet. Aber ich weiß nicht, warum. Ist irgendetwas vorgefallen?"

Elizabeth seufzte. „William, es gibt offenbar einiges, an das du dich nicht mehr erinnern kannst. Und es gibt einiges, über das wir reden müssen, wenn es dir wieder besser geht. Aber zuerst mußt du gesund werden."

„Und dann fahren wir zurück nach Pemberley?"fragte William und schloß wieder die Augen. Denken und reden ermüdeten ihn noch viel zu stark momentan.

„Darüber reden wir, wenn du aus dem Krankenhaus entlassen wirst, Hon."

William bekam ihre Antwort schon gar nicht mehr mit, er war wieder eingeschlafen.

William mußte eine Woche im Krankenhaus bleiben. Wegen seines Gedächtnisverlustes blieb er unter andauernder Beobachtung, aber die Ärzte gaben bald Entwarnung. Jeden Tag kam ein wenig mehr an Erinnerung zurück. Es dauerte nicht lange, und er konnte sich wieder daran erinnern, daß Elizabeth ihn verlassen hatte und die Erinnerung daran war sehr schmerzhaft. Aber Elizabeth war mittlerweile wieder an seiner Seite und als es ihm wieder besser ging, begannen sie, viel miteinander zu reden – und zwar in Ruhe und ohne gegenseitige Schuldzuweisungen.

Das einzige, an daß sich William nicht mehr erinnern konnte, war die Zeit, die er nach seiner Ankunft in Meryton in Elizabeths Haus verbracht hatte. Er wußte nicht mehr, daß sie mit dem Gedanken spielte, nach Vancouver auszuwandern, er hatte keinerlei Erinnerung an die Broschüre der Abtreibungsklinik und er wußte ebenfalls nicht, daß er Vater werden würde. Elizabeth beschloß, ihm letzteres mitzuteilen, wenn er das Krankenhaus wieder verlassen konnte. Sie hatten sich ausgesprochen, waren offen miteinander gewesen (bis auf dieses süße Geheimnis) und zu dem Schluß gekommen, daß ihre Liebe größer war als alle Ängste und Befürchtungen, die sie möglicherweise hatten. Weiterhin hatten sie sich das Versprechen abgenommen, stets ehrlich miteinander zu sein und zu versuchen, alle Mißverständnisse gleich auszuräumen.

William war überglücklich, als Elizabeth ihm mitteilte, wieder mit ihm nach Pemberley zu kommen. Als sie ihm am Abend nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus noch verriet, daß er im Winter zum dritten Mal Vater werden würde, kannte sein Glück keine Grenzen mehr. Er hatte seine Lektion auf die harte, ja auf die sehr harte Tour gelernt und wußte, das würde ihm nicht noch einmal passieren.

Im Endeffekt hatte er es wahrscheinlich diesem unglücklichen Sturz auf die Tischkante zu verdanken, daß sich alles wieder zum Guten gewendet hatte – aber auf eine Wiederholung konnte er nur allzu gut verzichten. Er würde sein Glück in Zukunft auf andere Art und Weise zu sichern wissen – mit Elizabeths tatkräftiger Unterstützung.