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Grenzen

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Kapitel 1

Die weiße Hölle

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Das Licht flackerte. Schon wieder. Wenn sie seine Zelle schon rund um die Uhr beleuchten mussten wie ein Quidditch-Stadium zum World-Cup-Endspiel, dann könnten sie wenigstens so nett sein, das Licht gleichmäßig leuchten zu lassen, verdammt noch mal.

Lucius kniff frustriert die Augen zu, doch die grellen Lichtblitze drängten sich fast schmerzhaft durch seine geschlossenen Lider.

Diese verdammten Idioten.

Sie hatten ihn so weit gebracht, dass er das Licht hasste. Dabei hatte er es früher geliebt. Alle seine Häuser waren lichtdurchflutet. Seine Arbeitszimmer hatten grundsätzlich riesige Fenster, im Idealfall nach Osten, Richtung Sonnenaufgang. Im Morgengrauen aufzustehen, wenn es im Haus noch völlig still war, sich dann über seine Bücher zu setzen und im Licht der aufgehenden Sonne zu baden, das Farbspiel in sich einzusaugen ... Herrlich.

Aber jetzt ...

Er sehnte sich nach Dunkelheit. Einmal die Augen öffnen und nichts sehen als Schwärze, das würde ihm jetzt gut tun.

Schwärze. Am besten für immer.

Nicht daran denken, rief er sich zur Ordnung. Du darfst nicht aufgeben. Sie dürfen nicht siegen.

Lucius stöhnte leise und strich sich über die Stirn. Diese Kopfschmerzen machten ihn wahnsinnig. Seit fast einem Jahr hockte er in dieser Zelle, und noch nie hatten sie das Licht ausgeschaltet. Und die Lichtblitze waren nicht etwa Folge einer magischen Turbulenz. Sie waren Absicht. Reine Schikane.

Lucius hatte früher schon zu Kopfschmerzen und sogar zu Migräneanfällen geneigt. Mit Hilfe von Räuchermischungen und Kräutertränken war das aber gut zu kontrollieren gewesen. In Askaban litt er fast ständig unter Kopfschmerzen, oft so heftig, dass es ihm unmöglich war, einen klaren Gedanken zu fassen. Er führte das hauptsächlich auf die permanente gleißende Beleuchtung zurück. Sein Schlaf-Wach-Rhythmus war gestört, und er war absolut unfähig, sich auch nur fünf Minuten richtig zu entspannen.

Wobei Entspannung an diesem Ort ohnehin unmöglich war. Schließlich konnte er nie sicher sein, ob er nicht gerade beobachtet wurde. Die Zellentüren waren mit einem Ein-Weg-Durchsichtigkeitszauber belegt, der es seinen Wärtern ermöglichte, ihn nach Lust und Laune zu betrachten, ohne dass er sie wahrnehmen konnte. Mit der Zeit hatte er eine regelrechte Paranoia entwickelt und wurde nun ständig von dem Gefühl gequält, von allen Seiten feindselig angestarrt zu werden.

Argwöhnisch zog er sich die Bettdecke über den Kopf.

Bettdecke nannten die das. Ein fadenscheiniges, fleckiges, kratziges altes Wollding, das in den langen Jahren seines Erdendaseins in der Tat ein gewisses Eigenleben entwickelt hatte. Lucius war sich nicht sicher, ob es lebte oder ob es bloß in ihm lebte. Auf jeden Fall ernährte es sich von Blut und verursachte einen widerlichen Juckreiz, der einen in den Wahnsinn treiben konnte – bevorzugt dann, wenn man eigentlich schlafen wollte.

In Sachen Hygiene war Askaban wirklich finsterstes Mittelalter. Die Zellen waren sauber, ja. Sie reinigten sich magisch, es brauchte nicht einmal Hauselfen dazu. Aber die Gefangenen wurden oft wochenlang nicht zum Duschen geführt, und das kleine Waschbecken in der Zelle ermöglichte nur eine – für Lucius' Verhältnisse – rudimentäre Körperpflege.

Nachdem die Dementoren zum Dunklen Lord übergelaufen waren, hatte es in der Zaubererwelt eine heftige Debatte um die Reorganisation des Strafvollzuges gegeben. In der Folge war Askaban von einer mittelalterlichen Festung zu einem modernen Hochsicherheitsgefängnis umgebaut worden, angeblich mit dem Ziel, die Haftbedingungen menschlicher zu gestalten. Es gab jetzt zum Beispiel moderne sanitäre Einrichtungen. Im Klartext: Toiletten statt Kübel, Waschbecken statt Schüsseln und Duschen statt – keine Duschen. Zwei Heiler überwachten den Gesundheitszustand der Gefangenen, eine Bibliothek war eingerichtet worden, und so weiter, und so fort. Im Ministerium hatte man sich gegenseitig auf die Schultern geklopft, um die eigene Humanität zu feiern.

Doch Askaban, das Hochsicherheitsgefängnis, war genauso schrecklich wie Askaban, die finstere Feste. Denn die Verantwortlichen hatten übersehen, dass der Alltag der Häftlinge vor allem von ihren Wärtern abhing. Und wer bewarb sich schon freiwillig um eine solche Stelle? Das Einzige, was diese Leute lockte, waren das gute Gehalt und die Möglichkeit, Macht auszuüben – wovon sie eifrig Gebrauch machten.

Lucius war jetzt seit fast einem Jahr hier, seit 357 Tagen, um präzise zu sein, und nach dem Willen der ehrlichen, anständigen, großherzigen Richterschaft des Zauberergamots, einschließlich des allseits beliebten Gutmenschen Albus Dumbledore, würde er hier den Rest seines Lebens verbringen. Und das nicht etwa wegen der grässlich fehlgeschlagenen Aktion in der Mysteriumsabteilung, die juristisch gesehen Einbruch, Sachbeschädigung, Nötigung, gefährliche Körperverletzung, Anstiftung zum Mord und Mitgliedschaft in einer terroristsichen Vereinigung beinhaltet hatte. Das alles hätte nicht gereicht für lebenslänglich. Nein, zu Fall gebracht hatte ihn die Anwendung eines Unverzeihlichen Fluches. Seine Verurteilung war hervorgegangen aus einem zweifelhaften Indizienprozess, der ihn schließlich „überführt" hatte, höchstwahrscheinlich den Unsäglichen Broderick Bode mit dem Imperiusfluch belegt zu haben.

Natürlich hatte er Bode mit dem Imperiusfluch belegt, aber es war nicht gerade die feine englische Art, ihn ohne eindeutige Beweise einzubuchten, oder?

Und nun war sein Schicksal endgültig besiegelt: lebenslänglich in der weißen Hölle.

Eine weiße Hölle, das war es, was Askaban für ihn darstellte. Er hatte nichts gegen Weiß, es war einfach eine Farbe, aber in Askaban gab es einfach zu viel davon. Die Wände waren weiß. Die Decke war weiß. Der Fußboden war weiß. Magisches Weiß, das sich hartnäckig weigerte, auch nur das geringste Krümelchen Schmutz anzunehmen.

Lucius war sein ganzes Leben lang ein Sauberkeitsfanatiker gewesen, aber falls er jemals wieder hier herauskommen sollte, würde er nichts Weißes mehr in seiner Umgebung ertragen können.

Was mache ich nur, wenn es mal schneit ...

Nun, kein ernst zu nehmendes Problem. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass er je wieder Schnee zu Gesicht bekommen würde, denn es war kaum zu erwarten, dass er Askaban irgendwann verlassen würde. Lebend verlassen würde. Es sei denn, der Dunkle Lord käme wieder an die Macht. Und das war keine wirkliche Alternative für Lucius, da es wahrscheinlich ebenfalls seinen Tod bedeuten würde. Er hatte sich zu viele Fehler geleistet und seinen Wert für den Dunklen Lord verloren.

Also nicht Schwarz, sondern Weiß.

Weiß.

Das Einzige, was hier dreckig war, waren die Gefangenen in ihrer heruntergekommenen grauen Sträflingskleidung und die Dinge, die unmittelbar mit ihnen in Berührung kamen. Das Bettzeug, zum Beispiel. Alles andere war strahlend weiß. Weiße Türen, weiße Möbel. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Pritsche, um präzise zu sein. Es gab keine persönlichen Gegenstände in Askaban und daher auch weder ein Regal noch einen Schrank oder Ähnliches, um sie aufzubewahren. Was er an Persönlichem zum Zeitpunkt seiner Verhaftung bei sich getragen hatte, war ihm bei der Leibesvisitation nach seiner Ankunft auf der Insel abgenommen worden.

Leibesvisitation.

Ein zu harmloses Wort für die demütigendste Erfahrung seines Lebens. Nun, für die bis dahin demütigendste Erfahrung. Mittlerweile waren eine Menge anderer Dinge mit ihm geschehen, die dieses erste Ereignis der Erniedrigung mit Leichtigkeit überboten.

Askaban hatte ihn verändert, veränderte ihn noch, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Es zehrte an seiner Persönlichkeit, saugte seinen Stolz, sein Selbstwertgefühl gierig in sich auf. Die zahllosen kleinen Schikanen, die er permanent über sich ergehen lassen musste, hatten ihn mutlos und dünnhäutig werden lassen. Widerworte waren zwecklos, Aggressivität brachte einem nur Ärger ein und Hochmut half auch nicht weiter. Die Wärter ließen sich weder einschüchtern noch bestechen. Sie wurden gut bezahlt, sie mochten ihren Job und sie wussten genau, dass Lucius nie wieder zu Ansehen und Macht aufsteigen würde, weder auf der einen, noch auf der anderen Seite.

Es gab nur eine Möglichkeit, wie er seine Bewacher besänftigen oder zu kleinen Gefälligkeiten bewegen konnte, und die gefiel ihm gar nicht. Lucius war ein attraktiver Mann, es gab kaum weibliche Gefangene oder Wärterinnen, die Wärter durften Askaban aus Sicherheitsgründen nur selten verlassen. Was sich aus dieser Kombination ergab, war klar.

Lucius hatte nur zwei Möglichkeiten gehabt: es zähneknirschend und angewidert über sich ergehen zu lassen – oder es für seine Zwecke zu nutzen. Nachdem er die ersten Monate voll Ekel und Frust Möglichkeit eins ertragen hatte, war er nach einem Vierteljahr zu Möglichkeit zwei übergegangen. Das hatte ihm immerhin die Protektion eines höherrangigen Wärters eingebracht und ihn von den dreckigen Fingern der unteren Chargen befreit.

Der Name des Wärters war Allen Grey, und Lucius' erste Begegnung mit Allen hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war in seiner zweiten Woche in Askaban gewesen ...

Raus mit dir, los!"

Lucius fuhr in die Höhe. Er hatte auf seiner Pritsche gelegen und zu schlafen versucht und nicht gehört, dass einer der Wärter zu ihm in die Zelle getreten war.

Stumm musterte er den Eindringling: groß, schlank, durchtrainiert, Anfang dreißig vielleicht, kurzes aschblondes Haar und braune Augen.

Während er noch dachte und schaute, hatte er sich bereits automatisch erhoben. Prompt zu gehorchen lernte man sehr schnell in Askaban.

Was wird das jetzt?, dachte er beunruhigt. Wieder Schläge?

Er war schon mehrmals aus der Zelle geholt und „zum Spaß" vom Wachpersonal misshandelt worden. Diese Quälereien hatten nicht nur Schläge, sondern auch andere, weit unangenehmere und demütigendere Elemente enthalten.

Viele der Wärter hatten entweder im Ersten oder Zweiten Zaubererkrieg Angehörige verloren, und alle hassten und fürchteten den Dunklen Lord und seine Todesser. Dazu kam noch, dass Lucius zur reichen, reinblütigen Oberschicht gehörte, was zwangsläufig Neid erzeugte. Es gab also genug Gründe für das Wachpersonal, sich an ihm abzureagieren.

Was ist? Träumst du?"

Die Stimme klang nicht böse, eher gutmütig spöttisch. Sie war tief und voll und passte nicht recht zu dem jungen Gesicht.

Der Wärter bemerkte seine Nervosität und lächelte leicht. „Keine Angst. Es geht nur zum Duschen."

Lucius atmete erleichtert auf.

Los, komm mit."

Der Wärter führte Lucius durch einen langen weißen Gang zu den Duschräumen. Das war eine neue Erfahrung für ihn. Außer der Toilette in seiner Zelle hatte er in den vergangenen vierzehn Tagen keine sanitären Anlagen zu Gesicht bekommen. Das Ganze erinnerte ihn irgendwie an seine Schulzeit in Hogwarts. Offenbar für die Benutzung durch mehrere Personen gleichzeitig gedacht, enthielt der weiß gekachelte Raum – Weiß. Natürlich, was sonst, dachte Lucius angewidert. – ein halbes Dutzend Waschbecken auf der einen und ebenso viele Duschköpfe auf der anderen Seite. Keine Kabinen.

Unsicher blickte Lucius zu seinem Wächter hinüber, der fragend die Brauen hob.

„Was ist, bist du wasserscheu?", fragte er grinsend.

Als Lucius ihn wortlos weiter ansah, wurde das Grinsen breiter.

„Oder prüde?"

Lucius schluckte. Okay, er hatte begriffen. Er würde sich vor seinem Bewacher ausziehen und duschen müssen.

Die Vorstellung gefiel ihm gar nicht. Nein, er war nicht prüde, aber sich gezwungenermaßen vor einem Fremden, der ihn noch dazu völlig in der Hand hatte, entkleiden zu müssen, war etwas ... anderes.

Na komm schon, zeig dich, Adonis", spottete sein Peiniger. „Oder soll ich nachhelfen?"

Er zückte seinen Zauberstab.

Eilig streifte Lucius die schmutzige Gefängniskleidung ab. Das war es ihm dann doch nicht wert.

Mhm", machte sein Wächter anerkennend. „Nicht schlecht."

Oh Merlin, flehte Lucius lautlos, mach, dass er die Finger von mir lässt.

Doch schon stand der andere neben ihm und streckte die Hand aus.

Lucius zuckte zurück.

Seife, Mann", lachte der Wärter. „Au weia, du bist vielleicht sensibel."

Sensibel, dachte Lucius grimmig. Der Kerl hat Nerven.

Sicher wäre niemand, der ihn kannte, auf die Idee gekommen, Lucius Malfoy als sensibel zu bezeichnen – und er selbst auch nicht. So oft war er alles andere als sensibel mit Menschen umgesprungen, die sich in seiner Gewalt befunden hatten ...

Jetzt war er selber dran. Und es gefiel ihm gar nicht.

Lucius packte die Seife und stellte sich unter eine der Duschen. Erstaunlicherweise war das Wasser angenehm warm. Vielleicht konnte er den aufdringlichen Typen ja einfach ignorieren, wenn er sich nur fest genug auf das positive Gefühl konzentrierte ... Endlich wieder sauber zu sein, war das nicht ein paar spöttische Bemerkungen und unverschämte Blicke wert?

Er sah seinen Wärter bewusst nicht an, verdrängte ihn aus seinen Gedanken, während er sich gründlich einseifte und das prickelnde Wasser über seinen Körper laufen ließ.

Mann, das sieht aber gar nicht gut aus."

Die Stimme hatte verdächtig nah geklungen – und schon lag eine fremde Hand auf seiner Haut. Lucius sog überrascht die Luft ein und starrte den Wärter feindselig an.

He, ich tu dir nichts, okay? Ich will mir das nur mal ansehen."

Jetzt erst registrierte Lucius, dass sein Bewacher mit gerunzelter Stirn die Blutergüsse auf seinem Brustkorb und Bauch musterte.

Meine Kollegen waren wohl nicht gerade sanft mit dir, was?" Die dunklen Augen sahen ihn prüfend, fast mitleidig an.

Stumm schüttelte er den Kopf.

Hm."

Eine Hand wanderte forschend über seinen Körper, untersuchte diverse kleinere und größere Verletzungen. „Die Rippe scheint angeknackst zu sein."

Kein Wunder, dass es immernoch wehtut ...

Ich denke, das kriege ich hin."

Ein leise gemurmelter Knochenheilzauber – ein leichtes Prickeln in der Rippengegend – eine angenehme Wärme.

Besser?"

Abermals die tastende Hand auf seiner Brust. Lucius nickte verkrampft. Er mochte es nicht, ungefragt berührt zu werden. Und das hier war schon deutlich mehr als eine Berührung. Unverkennbar genoss es sein Wächter, ihn anzufassen.

Haben sie noch ... andere Sachen mit dir angestellt?" Die Stimme klang jetzt sanft, verständnisvoll.

Lucius spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Er schwieg verbissen.

Das dachte ich mir." Die Hand war derweil auf seinen Rücken geglitten. „Wir sind nicht alle so, weißt du? Ich bin nicht so ... nicht für Gewalt."

Die Hand rutschte tiefer.

Lucius würgte.

Du gefällst mir, weißt du das? Du bist ... attraktiv ... sexy ... Du hast was Besseres verdient als diese gierigen kleinen ... Na, du weißt schon, was ich meine."

Der Wärter lächelte ihn verheißungsvoll an, die Hand inzwischen auf dem Hintern seines Opfers.

Lucius wurde schlecht.

Ich könnte dich schützen, weißt du, Lucius?"

Schau an, er nennt mich beim Namen, stellte er benommen fest.

Die anderen Wärter sprachen ihn in der Regel mit seiner Gefängnisnummer, „He, du!" oder einer Beleidigung an. Er war sich nicht sicher, ob die Verwendung seines Vornamens ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

Ich heiße Allen. Allen Grey. Merk' dir diesen Namen, Lucius. Überleg' dir mein Angebot. Wenn du es annehmen möchtest, sag einfach einem beliebigen Wärter, dass du mit mir sprechen willst. Er weiß dann schon Bescheid."

Er weiß dann schon Bescheid. Wie wunderbar, dachte Lucius ironisch.

Denk' drüber nach", wiederholte Allen freundlich. „Du würdest es nicht bereuen. Ich kann dir Vorteile verschaffen, weißt du ... Besseres Essen, Bücher, Alkohol ... Was dich besonders interessieren dürfte: Ich kann die anderen von dir fernhalten. Und – ich bin nicht schlecht im Bett, Lucius", fügte er mit einem anzüglichen Grinsen und einem leichten Klaps auf Lucius' Hinterteil hinzu.

Na, das ist dann ja wohl mein Glückstag heute, dachte Lucius zwischen Sarkasmus und Verzweiflung. Er hatte wirklich das Gefühl, sich gleich erbrechen zu müssen.

Allen trat zurück und drückte, immer noch grinsend, dem verwirrten und zornigen Lucius ein Badetuch in die Hand. Dann lehnte der Wärter sich entspannt an die Wand und beobachtete sein Opfer mit eindeutig lüsternen Blicken. Neben Allen lag ein Stapel frischer Kleidungsstücke, und Lucius musste wohl oder übel zu ihm treten, um an sie heranzukommen. Amüsiert lächelnd beobachtete sein Peiniger, wie Lucius sich verdrossen das Badetuch um die Hüften wickelte, sich die grauen Gefängnisroben überzog und erst, als diese seinen Körper vollständig verhüllten, seinen nassen Lendenschurz fallen ließ.

Hastig kleidete Lucius sich fertig an.

Er hasste diesen widerlichen, aufdringlichen Typen. Er hasste ihn.

Eher würde er sterben, als dieses entwürdigende „Angebot" anzunehmen.

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Die Wochen verstrichen, und die Wärter benahmen sich Lucius gegenüber weder freundlicher noch anständiger. Er wurde permanent in Einzelhaft gehalten und hatte weder von seiner Familie gehört noch mit ihr Kontakt aufnehmen dürfen.

Die Todesser wurden allgemein häufiger und gemeiner schikaniert als die anderen Häftlinge. Sie standen in der Gefängnishierarchie ganz unten. Aber auf Lucius hatte das Wachpersonal es ganz besonders abgesehen. Das war zumindest sein persönlicher und natürlich rein subjektiver Eindruck. Es traf ihn hart, dass mehrere der Männer auf ähnliche Art an ihm interessiert waren wie Allen – mit dem Unterschied, dass sie keine Angebote machten, sondern Befehle gaben. Befehle, die sie mit aller Brutalität durchsetzten.

Zu allem Überfluss brachte das Ganze Erinnerungen hoch, die Lucius zwei Jahrzehnte lang erfolgreich verdrängt hatte. Als er Anfang zwanzig gewesen war, hatte es im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im Dunklen Orden und seinem erzieherisch vollkommen fehlgeleiteten Vater einen ... Vorfall mit Dolohow und Macnair gegeben. Lucius wollte nicht daran denken, aber jede unerwünschte Berührung, jeder Übergriff durch einen der Wärter ließ das lang vergangene Ereignis wie einen ekelhaften Wiedergänger auferstehen, in Bildern, Gerüchen, Gefühlen ...

Nach drei Monaten Schikane war Lucius am Ende seiner Kräfte. Meist rollte er sich auf seiner Pritsche zusammen, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, die Außenwelt mit aller Macht aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Manchmal hörte er Stimmen oder sah sogar Personen in seiner Zelle stehen, selten Narcissa oder Draco, oft den Dunklen Lord, meist eines oder mehrere seiner Opfer. Er stand nicht mehr auf, verweigerte die Nahrung. Er wollte sterben. Aber sie ließen ihn nicht.

Als er sich weigerte zu essen, wurde er zwangsernährt – auf die gute alte, sadistische Muggelart. Ein Schlauch wurde ihm den Hals hinuntergezwungen, der wahlweise in seinem Magen oder seiner Luftröhre landete. Oft merkten sie erst, dass das verdammte Ding den falschen Weg genommen hatte, wenn er fast erstickt war. Mit Magie wäre das Problem natürlich leicht zu lösen gewesen, aber das hätte den Spaßfaktor für die Wärter doch arg verringert. Seine „Fütterung" war ein Ereignis, das sich nur wenige von ihnen entgehen ließen.

Nachdem Lucius diese Tortur vier Tage lang dreimal täglich durchgestanden hatte, hatte er kapituliert.

Zwischen Husten und Würgen keuchte er mühsam: „Allen ... bitte ... Ich will ... Allen Grey sprechen."

Und Allen kam. Lucius wurde auf wundersame Weise aus der Krankenstation befreit und auf seine Zelle zurückgebracht, die ihm jetzt wie ein lang vermisstes Zuhause erschien. Auf einen Wink seines Retters verließ der zweite Wächter, der Lucius auf dem Weg durch die Gänge zu stützen geholfen hatte, den Raum.

Schwer atmend und völlig erschöpft lag Lucius auf der Pritsche.

Allen beugte sich über ihn und strich ihm sanft das wirre Haar aus dem Gesicht. „Schlaf', Lucius", sagte er freundlich. „Ruh' dich aus. Wir sehen uns morgen."

Und so fing sie an, die Sache mit Allen.

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Allens Blick erinnerte ihn manchmal an Draco – selbstsicher, herausfordernd und immer ein bisschen spöttisch. Aber Allen hatte braune Augen, ein warmes, dunkles Braun, und ihre Beziehung hatte nichts, aber auch gar nichts von einem Vater-Sohn-Verhältnis. Es war Allen, nicht Lucius, der hier bestimmte, und es waren keine Bitten, sondern Befehle, die er aussprach.

Doch er hatte sanfte Hände, immerhin das, und er war nie grob oder gar gewalttätig, wenn er mit Lucius schlief. Zudem hielt er sich an seine Versprechen, bezahlte Lucius' Gefügigkeit mit kleinen Vergünstigungen. Er verschaffte ihm besseres – das hieß, genießbares – Essen, brachte ihm manchmal Bücher, nach denen Lucius sich mehr sehnte, als er je für möglich gehalten hätte, ließ ihn öfter duschen – sicher nicht ohne Eigennutz – und gab ihm gelegentlich Alkohol oder Drogen, mit denen er sich zumindest stundenweise betäuben konnte.

Lucius hatte im Jahr seiner Haft vor allem Demut gelernt – und Dankbarkeit. Er war Allen aufrichtig dankbar – vor allem für das, was der Wärter nicht tat, obwohl er es hätte tun können. Zudem kam Allen nicht ausschließlich, um seine sexuellen Bedürfnisse an Lucius zu befriedigen. Gelegentlich wollte er einfach nur mit ihm reden. Und er hörte auch zu. Manchmal.

Im Gegensatz zu den Männern, deren Zudringlichkeiten Lucius in der ersten Zeit seiner Gefangenschaft hatte ertragen müssen, nahm Allen wenigstens ein Minimum an Rücksicht auf ihn. Wenn Lucius partout nicht wollte, wenn es ihm wirklich zu schlecht ging, dann war sein „Beschützer" ausnahmsweise damit zufrieden, neben ihm zu liegen und ihn zu streicheln.

Und das wiederum war etwas, mit dem Lucius sich durchaus anfreunden konnte – auch wenn er sich anfangs verzweifelt gegen dieses Gefühl wehrte. Askaban machte einen so verflucht einsam, und oft sehnte er sich einfach nach einer tröstenden Umarmung, einem liebevollen Streicheln, einem zärtlichen Kuss. Natürlich wäre Narcissa ihm lieber gewesen, aber unter den gegebenen Umständen war Allen durchaus akzeptabel.

Mit der Zeit entwickelte sich etwas zwischen ihnen, das einer Freundschaft ähnelte, jedenfalls keine reine Geschäftsbeziehung mehr war. Die Machtverhältnisse waren für eine echte Freundschaft zu ungleich verteilt, aber eine gegenseitige Sympathie erlaubten sie schon.

Natürlich waren sie beide nach Hogwarts gegangen, und obwohl Allen zehn Jahre jünger war als Lucius, hatten sie größtenteils dieselben Lehrer gehabt. Über Schulanekdoten hatten sie sich langsam aneinander herangetastet. Nach einiger Zeit waren sie dann zu anderen Themen übergegangen.

Irgendwann war auch die körperliche Begegnung für Lucius nicht mehr unangenehm gewesen. Er hatte gelernt, sich zu entspannen, Allen bis zu einem gewissen Grad zu vertrauen und seine tiefen Vorurteile gegenüber allem, was mit Homosexualität zu tun hatte, ein Stück weit zu vergessen. Schließlich, in seinem verzweifelten Bedürfnis nach Trost und Nähe, hatte er angefangen, Allen entgegenzukommen, seine Berührungen nicht mehr nur über sich ergehen zu lassen, sondern sie zu erwidern. Es funktionierte, so lange er seinen Verstand ausschaltete. Er konnte Allen küssen, ihn anfassen und streicheln, ohne sich länger vorstellen zu müssen, dass der andere eine Frau war. Allen ließ ihn gewähren und lachte höchstens wohlwollend über seine Ungeschicklichkeit.

Erst durch seine Erfahrungen mit einem anderen Mann wurde Lucius klar, wie wenig zärtlich er mit seiner eigenen Frau gewesen war, wie wenig Rücksicht er auf ihre sexuellen Bedürfnisse genommen hatte – und auf ihre anderen Bedürfnisse. War er ein guter Ehemann gewesen? Ein guter Vater? Wohl eher nicht. Und so, wie es aussah, würde er keine Gelegenheit mehr bekommen, seine Fehler wiedergutzumachen.

Er hatte Draco und Narcissa nach seiner Verhaftung nur noch einmal im Gerichtssaal gesehen, aber nicht mit ihnen sprechen können. Monatlich einen kurzen, selbstverständlich zensierten Brief, das war alles, was er ihnen geben konnte. Dabei wusste er, dass sie in gewaltigen Schwierigkeiten steckten. Und zwar nur seinetwegen. Auf der einen Seite setzte das Zaubereiministerium sie unter Druck, auf der anderen Seite der Dunkle Lord. Narcissa war längst ein Mitglied des Dunklen Ordens, Draco inzwischen vermutlich auch. Falls nicht, würde er es bald werden. Vielleicht würden sie beide so enden wie er – oder noch schlimmer. Und das alles war allein seine Schuld.

In solchen Momenten der Verzweiflung war Lucius froh, dass es Allen gab. Jemandem, dem er sein Herz ausschütten konnte – entgegen seiner früheren Gewohnheit. Er hatte seine persönlichen Probleme niemals mit anderen Menschen geteilt, nicht einmal mit seiner Frau. Aber Askaban hatte ihn mürbe gemacht, verletzlich. Jetzt brauchte er Hilfe, und konnte sich das zum ersten Mal in seinem Leben auch eingestehen.

Und Allen verstand, hörte zu, nahm ihn tröstend in die Arme. Wie ein Freund. Wie ein Liebhaber.

Lucius war nicht schwul, nach wie vor nicht, und würde es nie sein. Er liebte Allen nicht, und er hätte mit Freuden auf den sexuellen Teil ihrer Beziehung verzichtet. Aber er mochte ihn. Er brauchte ihn.

Ohne Allen wäre ich längst verrückt geworden. Oder ich hätte mich umgebracht. Trotz Narcissa, trotz Draco ...

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Lucius wurde aus seinen Gedanken gerissen und erstarrte, als er ein leises Rascheln hörte. Alles in Askaban war leise, alles außer den Wut-, Wahnsinns- und Verzweiflungsausbrüchen der Gefangenen, die aber in der Regel von den schalldichten Wänden verschluckt wurden, und dem Gebrüll der Wärter. Die Tür zu seiner Zelle hatte die unangenehme Angewohnheit, völlig lautlos aufzuschwingen, und die Bewacher legten gern einen Stillezauber über sich, so dass er ihre Anwesenheit häufig erst dann bemerkte, wenn sich ein grinsendes Gesicht über ihn neigte oder ein grober Stoß ihn in die Rippen traf.

Eine Hand berührte ihn an der Schulter und zog ihm die Decke vom Gesicht. Lucius blinzelte angestrengt in die plötzliche Helligkeit. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und Erstaunen. Die Gestalt, die sich über ihn beugte, trug nicht das dunkle Blau der Askabanwärter, sondern Schwarz.

Schwarze Robe, schwarzer Umhang, silberne Maske.

Sein Herz setzte einen Schlag aus.

Ein Todesser.

Der Todesser musterte ihn durch die Maskenschlitze, schmale jadegrüne Augen, die Lucius nicht einordnen konnte. Der Fremde trat einen Schritt zurück und bedeutete ihm wortlos, zu folgen.

Lucius riss sich die Decke herunter und war mit einem Satz auf den Beinen. Raus aus Askaban, endlich. Raus aus dieser verfluchten weißen Hölle – hinein in die vertraute schwarze Hölle des Dunklen Ordens.

Als er hinter dem fremden Todesser auf den Korridor trat, schlug ihm eisige Kälte entgegen.

Dementoren, dachte Lucius sofort. Natürlich. Wie sonst hätten sie in Askaban einbrechen sollen?

Fasziniert starrte er auf das wundervolle Bild, das sich ihm bot. Drei Wärter lagen regungslos am Boden, ob tot, geschockt oder ihrer Seele beraubt, konnte er nicht erkennen. Ein halbes Dutzend maskierter schwarzer Gestalten wirbelte durch den Gang von Zelle zu Zelle und befreite sämtliche gefangenen Todesser. Von den Dementoren war weit und breit nichts zu sehen, aber Lucius spürte ihre Anwesenheit, war sicher, dass sie sich noch immer in der Festung aufhielten und ihren zerstörerischen Hunger stillten.

Aus der Tür schräg gegenüber von Lucius' Zelle taumelte ein äußerst verwirrt wirkender Rabastan Lestrange. Auf dem Gang standen bereits Remigius Nott und Walden Macnair. Macnair sah Lucius mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an, doch er konnte nur die Achseln zucken. Er wusste auch nicht mehr als die anderen.

Ein gellender Triumphschrei ertönte und Rodolphus Lestrange sprang in den Korridor. Der Todesser an Rodolphus' Seite hatte die Maske zurückgeschoben. Lucius erkannte Sean O'Kelly. O'Kelly nickte ihm grinsend zu, ehe er sich der nächsten Zellentür zuwandte und sie mit einem Schlenker seines Zauberstabes aufsprengte.

Lucius trat einen Schritt vor. Er wollte sehen, wer die reglosen Wärter waren. Doch eine Hand legte sich auf seine Schulter und hielt ihn zurück. Lucius drehte sich um und sah seinen Befreier fragend an.

Der fremde Todesser schüttelte warnend den Kopf und hob zur Verdeutlichung leicht den Zauberstab. „Du stehst unter Arrest", sagte er mit gedämpfter, dennoch seltsam rauer Stimme.

Lucius nickte wortlos und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen auf dem Zellengang zu. Offensichtlich war er der Einzige, der hier unter Arrest stand. Morten Mulciber und Augustus Rookwood, die ebenso wie die Lestranges, Nott und Macnair an der gescheiterten Mysteriumsmission teilgenommen hatten, schlenderten lässig auf ihn zu. Keiner von ihren Befreiern schien auf die beiden zu achten.

Ein weiterer Schrei ertönte. Doch diesmal war es kein Triumphschrei.

Ein ungewöhnlich großer und muskulöser Todesser erschien in der Biegung des Korridors. Seine Kapuze hatte er zurückgeschlagen. Wirres, filziges Haar quoll ihm über die Schultern. Er ging halb rückwärts, zog und zerrte einen schreienden, zappelnden Menschen mit sich.

Lucius kannte sie beide. Der Todesser war der Werwolf Fenrir Greyback – sein Opfer war Allen.

Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in Lucius' Magengegend aus, ein heißes, flüssiges Prickeln. Gleichzeitig legte sich ein Ring aus Eis um sein Herz.

Greyback lachte bellend und warf den Wärter mit solcher Wucht zu Boden, dass Lucius Knochen splittern hörte. Allen schrie erstickt auf. Dann traf ihn ein brutaler Tritt in den Unterleib. Er stöhnte und krümmte sich würgend zusammen.

„Greyback! Nicht!"

Lucius sprang vor und packte den Werwolf am Arm. Greyback bleckte wütend seine gelben Zähne. Doch noch ehe er ein Wort sagen konnte, wurde Lucius von hinten gepackt und neben Allen zu Boden geschleudert. Er rappelte sich sofort wieder hoch, setzte sich auf und hob beschwichtigend die Hände.

„Ich wollte dich nicht angreifen, Fenrir."

Seine Gedanken rasten. Wie konnte er den Werwolf stoppen? Wenn Greyback einmal Blut geleckt hatte, war er kaum wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Allen hier ist okay, das können die anderen bestätigen!", stieß Lucius hastig hervor „Er hat mir viel geholfen. Er könnte ein wichtiger Kontaktmann für uns werden!"

Greyback grinste böse und leckte sich träge die Lippen. „Für uns? Wer ist uns? Falls du es noch nicht kapiert hast, Lucius: Du hast hier nichts mehr zu sagen. Deine Meinung interessiert hier keinen." Das fiese Grinsen wurde breiter, und Greyback ließ seine scharfen Zähne sehen. „Obwohl es dich natürlich ehrt, dass du deinen Freier retten willst."

Lucius schluckte und spürte, wie das flüssige Gefühl in seinem Magen auf Unterleib und Beine übergriff.

„Aber bloß, weil du zu einer dreckigen Nutte geworden bist, Liebste, heißt das nicht, dass auch wir anderen käuflich sind. Zumal du nichts zu bieten hast, was mich interessieren würde. Ich steh mehr auf richtige Frauen. Solche mit Brüsten und so."

Lucius richtete einen Hilfe suchenden Blick auf seine Mitgefangenen. Er traf auf Rabastan, der ihn verächtlich lächelnd musterte, auf Dolohow, der sein dreckiges Grinsen mit einer obszönen Geste unterstrich, auf Macnair, der seine Lippen zu einem spöttischen Kussmund formte.

Merlin, sie wissen es. Sie wissen es alle.

Lucius senkte den Blick. Sein Gesicht brannte vor Scham.

Eine klauenartige, haarige Hand schob sich unter sein Kinn und zwang ihn, Greyback ins Gesicht zu sehen.

„Jaa, wir wissen es, Lucia, meine Süße. Santaaa Luciaaa ...", trällerte der Werwolf anzüglich.

Dolohow begann, grunzend zu lachen. Die anderen Todesser fielen in sein Lachen ein. Manche summten oder pfiffen auch mit.

Lucius hob hilflos die Hände und ließ seinen Blick hektisch vom einen zum anderen huschen. Jim Avery lachte nicht, sah er. Auch sein Bewacher, groß, schlank, mit strahlend grünen Augen hinter der silbernen Maske, stand mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt und schien das Spektakel ziemlich angewidert zu betrachten.

„Lucius ...", ertönte eine heisere Stimme neben ihm.

Allen sah flehend zu ihm auf. Ein dünner Faden Blut rann aus seinem Mund. Sein Gesicht war unnatürlich bleich und die Augen merkwürdig verschleiert.

Innere Verletzungen, stellte Lucius' geübter Blick fest. Wahrscheinlich hat eine gebrochene Rippe die Lunge durchbohrt.

Eine zitternde Hand tastete unsicher nach der seinen.

„Och je, wie niedlich!", höhnte Greyback. „Schaut euch das an! Der Wachhund sucht Trost bei seiner Liebsten ... – Was ist, Lucius? Willst du ihm nicht beistehen in seiner Todesstunde, hm?"

Scheiß auf euch, dachte Lucius mit zusammengebissenen Zähnen. Scheiß auf euch alle!

Er lächelte Allen schief an und nahm seine Hand.

Das Lachen der Todesser wurde lauter und gemeiner.

Lucius zwang sich zur Ruhe und sah Greyback direkt in die tückischen kleinen Augen. „Hör zu, Fenrir", sagte er mit möglichst fester Stimme. „Du verdankst mir einiges."

Der Werwolf prustete amüsiert.

Lucius ließ den Blick nervös über die Runde schweifen.

„Viele von euch sind durch meine Fürsprache in den Orden gekommen. Viele von euch habe ich selbst ausgebildet." Er hatte sich nicht völlig im Griff, seine Stimme zitterte leicht.

Sie starrten ihn an, hungrig, grausam. Sie ergötzten sich an seiner Erniedrigung, an seinen verzweifelten Rettungsversuchen, das war offensichtlich.

Frustriert schlug Lucius mit der freien Hand auf den Boden. Es war vorbei, Schluss, aus. Er hatte keinen Einfluss auf das, was mit Allen oder ihm selbst geschah. Er konnte nichts tun. Absolut gar nichts.

Das raue, raspelnde Lachen Greybacks ertönte. Wieder schob der Werwolf ihm die Hand unters Kinn, zwang ihn, aufzusehen. „Du möchtest ihm helfen, deinem Wachhund, deinem Freier?", fragte er mit falscher Freundlichkeit.

Lucius nickte erschöpft.

„Gut. Ich erlaube dir, ihn festzuhalten, während ich seine Kehle zerfetze und sein Blut trinke."

Allgemeines Gelächter.

Lucius starrte Greyback an. Greyback starrte zurück.

Er meint das ernst. Na schön, verdammt noch mal. Na schön!

Lucius packte Allen unter den Armen und zog ihn vorsichtig ein Stück weit hoch.

Allen stöhnte. Der Blutfaden an seinem Mund wurde dicker und dunkler.

Lucius sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung und blickte rasch auf. Die Todesser, teils in schwarzer Ordenskluft, teils in schmutzig grauer Gefängniskleidung, zogen den Halbkreis um sie enger, drängten sich gierig an sie heran.

Allens Stöhnen wurde lauter, als Lucius sich langsam ganz aufrichtete und den Verletzten mit sich zog.

„Es ist gleich vorbei, Allen. Es wird nicht weh tun, ich verspreche es dir."

Lucius' Blick traf sich mit dem des Werwolfs.

Mach mich nicht zum Lügner, Greyback, ich bitte dich!, flehte er stumm.

Greyback nickte knapp, als hätte er seine Bitte laut ausgesprochen. Mit seinen Raubtiersinnen nahm er mehr wahr als die meisten Menschen.

Lucius hielt Allen umklammert, der sehr wacklig auf den Beinen war, und drückte ihn fest an sich. Greyback trat auf sie zu und streckte seine Klauenhände nach dem Verletzten aus. Lucius spürte, wie Allen erschauerte, und verstärkte seinen Griff.

„Er wird dir nicht weh tun, Allen", flüsterte er und sah dabei bittend den Werwolf an.

Greyback nickte erneut und leckte sich die Lippen. Ein gieriges Lächeln verzerrte sein Gesicht. „Komm, mein kleiner Wachhund", knurrte er und legte eine Hand an Allens Hals. Den freien Arm schlang er um Lucius' Rücken und zog sie beide zu sich heran. „Merlin, was bin ich heute kultiviert und rücksichtsvoll", gurrte er Lucius ins Ohr. Lucius roch seinen fauligen Atem und rang mit der aufsteigenden Übelkeit. Allen hing schlaff und zitternd in seinen Armen.

„Mach schon, Fenrir!", flüsterte Lucius zornig. „Los doch!"

Die Augen des Werwolfs blitzten auf. Sein Kopf schoss vor und er biss Allen in den Hals, riss ihm die Kehle auf. Ein gurgelnder Schrei ertönte. Lucius spürte das warme Blut über seine Hände fließen. Der Mann in seinen Armen bebte, bäumte sich auf und versuchte fahrig, Greyback abzuwehren, ihn zurückzustoßen. Natürlich tat sein Mörder ihm weh. Doch Allen wurde rasch schwächer, während der Werwolf seinen Mund immer wieder auf die klaffende Wunde drückte und gierig das hervorsprudelnde Blut trank.

Lucius würgte. Er hielt es exakt so lange aus, bis Greyback seine „Mahlzeit" beendet hatte und Allens Körper leblos in seinen Armen hing. Dann taumelte er zurück, ließ seine Bürde fallen und erbrach sich heftig auf den weißen Boden des verfluchten Zauberergefängnisses, der alles aufsaugte und im gleichen, unschuldigen Weiß schimmerte wie zuvor.

Vielleicht verschluckt er ja auch Allens Leiche, wenn er nur lange genug liegenbleibt, dachte Lucius bitter, während das höhnische Gelächter der Todesser in seinen Ohren klang.

Erschöpft und verzweifelt ließ er sich ganz zu Boden sinken, rollte sich zusammen wie ein todwundes Tier.

„Lucius!"

Ein Fuß traf seinen Rücken.

„He, Lucius!"

Rodolphus.

„Hätte ich früher gewusst, was für ein erbärmlicher Schwächling du bist ..."

Rabastan.

Die Lestrange-Brüder zogen ihn grob auf die Füße und zerrten und stießen ihn vorwärts. Durch die grellen weißen Gänge Askabans, über Treppen und lange Korridore ging es nach draußen, auf die felsige Insel, die das Gefängnis beheimatete.

Ein kalter Wind riss an Lucius' dünnen Kleidern. Bleigrau lag der Sommerhimmel über der aufgewühlten Nordsee. Er hörte Möwen kreischen und roch die kühle, salzige Luft.

Wie sehr hatte er sich danach gesehnt, das Meer wiederzusehen.

Ein alter Fischkutter lag etwa hundert Meter von der Insel entfernt vor Anker. Mehrere kleine Boote waren am Landungssteg vertäut. Auf eines dieser Boote wurde Lucius gedrängt. Mit ihm fuhren seine ehemaligen Mithäftlinge Rodolphus, Rabastan und Jim Avery senior sowie zwei Bewacher, die hauptsächlich seinetwegen mitzukommen schienen. Der eine war der mit den jadegrünen Augen. Der andere war Amycus Carrow, ein schwerfälliger, fetter und brutaler Typ, den Lucius nicht ausstehen konnte.

Carrow grinste anzüglich, und Lucius war sicher, dass der entsprechende Kommentar nicht lange auf sich warten lassen würde. Er wurde nicht enttäuscht.

„Lucius, ich dachte immer schon, dass du mit deinen langen Haaren ein hübsches Mädchen abgegeben hättest."

Typisch Carrow. Platt und witzlos.

Lucius schwieg.

„Was wohl Narcissa dazu sagen wird, dass sie auf einmal mit 'ner Frau verheiratet ist? Oder Draco? Meinst du, dein kleiner Versager freut sich, wenn er plötzlich zwei Mütter hat? Wär' er noch in Hogwarts, hätten wir ihm 'nen Heuler schicken können, dann hätte der Rest der Schule auch was davon gehabt. Aber so ..."

Lucius sah alarmiert auf.

Nicht mein Sohn! Bitte nicht!, flehte er stumm.

„Was ist mit Draco?!", drängte er leise.

Carrow lachte dröhnend. „Die Frage sollte lieber lauten: Ist er überhaupt noch?"

Nein. Nicht Draco. Bitte ...

Sein Entsetzen musste ihm deutlich vom Gesicht abzulesen sein. Carrow und die Lestrange-Brüder brachen in schallendes Gelächter aus.

Neben ihm ballte Avery die Hände zu Fäusten. „Halt dein dreckiges Maul, Amycus!", knurrte er zornig.

Carrow funkelte ihn wütend an. „Du hast's grad nötig, Jim! Ich an deiner Stelle würd' hübsch ruhig sein und beten, dass der dunkle Lord mich am Leben lässt! Du hast schon so idiotisch viele Fehler gemacht, dass dieser hier gut dein letzter gewesen sein könnte."

Avery erbleichte und presste die Lippen zusammen.

„Keine Panik", ließ sich die raue Stimme des zweiten Bewachers vernehmen. „Es gibt hier nur einen, der ernsthaft in Schwierigkeiten ist" – er drehte sich zu Lucius – „und das bist du, Lucius; tut mir leid, das sagen zu müssen."

Lucius nickte knapp.

Dass ich in Schwierigkeiten bin, ist mir klar, danke.

„Soweit ich weiß", fuhr der Fremde fort, „ist Draco am Leben und unversehrt."

Lucius atmete erleichtert auf.

Danke ...

„Bis jetzt. Der Dunkle Lord hatte ihm eine wichtige Aufgabe anvertraut – ich denke, das wird zu euch durchgesickert sein?"

Lucius nickte. Das war es in der Tat, ja. Selbst nach Askaban gab es Kanäle, die von den Todessern eifrig zur Nachrichtenübermittlung genutzt wurden.

„Draco hat versagt. Er hat es nicht geschafft, Dumbledore zu töten. Unser Herr ist sehr enttäuscht von deinem Sohn."

Draco hat versagt. Wie ich. Vielleicht sollte ich anfangen zu beten, dass der Dunkle Lord wenigstens meinen Jungen am Leben lässt.

„Was ist mit Dumbledore?", fragte Lucius müde.

„Tot. Snape hat ihn getötet."

Ihren Mienen nach zu urteilen, hatten die anderen das längst gewusst.

Scheint so, als wären mir in letzter Zeit Nachrichten nur sehr selektiv mitgeteilt worden.

Das war kein gutes Zeichen. Diesmal wurde es wirklich gefährlich für ihn.

Dumbledore ist also tot. Das heißt, der Dunkle Lord hat keinen ernst zu nehmenden Gegenspieler mehr. Was wiederum heißt, dass seine Rückkehr zur Macht so gut wie sicher ist.

Früher hätte ihn diese Aussicht in Euphorie versetzt, doch jetzt spürte er nichts als Gleichgültigkeit. Oberflächlich. Er tastete tiefer, und da schlief etwas, etwas, das man nicht wecken durfte: Angst. Nackte, elementare Angst.

Rasch zog er sich aus den tieferen Schichten seines Selbst zurück. Angst durfte er nicht zulassen. Niemals. Askaban mochte ihn zermürbt, erschöpft und gedemütigt haben, aber wirkliche Angst hatte er dort nie verspürt. Höchstens Resignation. Und so sollte es auch bleiben.

Der Fischkutter war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Sie gingen längsseits, eine Strickleiter wurde heruntergelassen und einer nach dem anderen enterten sie das Schiff.

Der jadeäugige Todesser wies ihm stumm einen Platz auf dem hinteren Teil des Decks an. Lucius ließ sich auf eine Rolle Tauwerk sinken. Sein Bewacher warf ihm eine alte Decke zu, in die er sich dankbar einhüllte. Ihm war mittlerweile ziemlich kalt in seinen dünnen Gefängniskleidern.

Die anderen zogen sich um, legten schwarze Roben und Umhänge an. Noch nicht die Todesserkluft, nein, aber anständige und angemessene Kleidung. Für ihn war offensichtlich nichts dergleichen vorgesehen.

Lucius starrte apathisch aufs Meer hinaus. Ein paar Möwen hingen schreiend über ihren Köpfen, taumelten, fielen und stiegen mit dem böigen Seewind.

Möwen.

Allen.

Allen liebt – Allen hat die Schreie der Möwen geliebt. Freiheit, hat er gesagt. Ihre Schreie bedeuten Freiheit.

Lucius legte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Doch statt willkommener Schwärze erwartete ihn das bleiche Gesicht Allens, einen dünnen Faden Blut im Mundwinkel, die Augen voll Furcht und Schmerz.

Du hast getötet, Lucius. Oft. Nur ein Toter mehr, nichts weiter. Du bist ein Todesser, verdammt! Du wirst darüber hinwegkommen. Er war kein Freund. Er hat dich nur ausgenutzt. Er war kein Freund. Vergiss ihn!

Doch das Gesicht verschwand nicht, und jeder Möwenschrei stieß eine Eisnadel in sein Herz.

Lucius hörte einen leisen Wortwechsel, seinen Namen. Er ließ die Hände sinken und wandte den Kopf in Richtung der Sprecher. Es waren Avery und Greyback. Avery wollte offensichtlich zu ihm, aber Greyback hielt ihn zurück.

Der Werwolf spürte Lucius' Blick und sah zu ihm herüber, feindselig, verächtlich.

Auch Avery drehte sich in seine Richtung. Ihre Blicke trafen sich, und Avery machte eine hilflose, entschuldigende Geste.

Lucius nickte matt. Er rechnete es Avery hoch an, dass dieser sich jetzt schon zum zweiten Mal für ihn einsetzte, obwohl er sich damit unter Umständen selbst in Gefahr brachte.

Avery war eine Generation älter als Lucius und hatte dem Orden früher vor allem als Heiler gedient. Er war eng mit Lucius' vor einem Jahr verstorbenen Vater befreundet gewesen. Lucius kannte Avery seit seiner Kindheit, auch wenn ihr Verhältnis auf Grund der Spannungen zwischen Lucius und dessen Vater immer ambivalent gewesen war.

Er lächelte Avery müde zu und machte eine wegwerfende Handbewegung. Avery nickte und zog eine Grimasse. Dann wandte er sich ab und ging mit Greyback zu den anderen hinüber.

Nach einer Viertelstunde hatten sie die magischen Schutzbanne, die um Askaban gelegt waren, hinter sich gelassen. Lucius spürte eine kaum merkliche Veränderung der Atmosphäre, ein sachtes Prickeln – dann waren sie durch.

Es dauerte kaum eine Minute und sein Mal begann zu brennen. Er sah fragend zu seinem Bewacher hinüber. Der Mann mit den Jadeaugen bedeutete ihm, aufzustehen. Lucius gehorchte, und der andere nahm ihn beim Arm.

„Du mochtest ihn wirklich, diesen Allen, oder?", fragte der Todesser freundlich. Es war kein Spott in seiner Stimme.

Lucius starrte seinen Bewacher verblüfft an.

„Vergiss ihn lieber. Er ist tot. Er ist in Sicherheit. Um die Lebenden solltest du dich sorgen. Sieh zu, dass du am Leben bleibst, Lucius. Für Draco. Für Narcissa."

Wer bist du eigentlich?, wollte Lucius fragen.

Doch da disapparierte sein mysteriöser Begleiter mit ihm, und alles versank in brodelnder Schwärze.

SSSSSSS